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Unterschiedliche Wege

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Aus der Feder des Geschichtsschreibers Regino von Prüm, der die Zeit Karls des Dicken als Zeitgenosse und Schriftgelehrter miterlebt, stammt die rund 10 Jahre nach dem Tod des korpulenten Kaisers verfasste „Chronica“, eine Schriftensammlung, die sich vor allem mit der Chronologie und der Geschichte der fränkischen Herrscher beschäftigt. Sein Urteil:

„Nach dem Tod des Kaisers löste sich der feste Verband der Reiche, die ihm untertan waren; sie warteten nicht auf den ihnen von der Natur bestimmten Herrn, sondern jedes erkor sich aus sich selbst heraus einen König. Das führte zu schweren Kriegswirren (…) weil eben ihre gleiche edle Abstammung, Würde und Macht die Zwietracht mehrte und keiner so über alle anderen hervorragte, dass diese sich ihm freiwillig unterworfen hätten. Denn zahlreiche zur Herrschaft geeignete Fürsten hätte das Frankenreich geboren, wenn ihnen nicht das Schicksal zu gegenseitigem Wettstreit und Verderben die Waffe in die Hand gedrückt hätte.“

Reginos Analyse ist nicht viel hinzuzufügen, er hat das Problem und den Weg erkannt, den die Ostfranken am Beginn des 10. Jahrhunderts einschlagen werden. Das Ende der Herrschaft des dicken Karls, der das Reich seines großen Namensvetters auf Grund dynastischer Zufälle noch einmal zusammenbringt, stellt eine Zäsur dar. Denn von nun an entwickeln sich die Reichsteile zu selbständigen Gebilden, aus denen später jene Nationen hervorgehen, die heute noch den europäischen Kontinent besiedeln. Der westfränkische Teil – heute Frankreich – hat kaum noch geographische Veränderungen erfahren, die Grenzen verschieben sich im Nordosten und Südosten des Landes nur noch um einige Kilometer. Die Mitte des Kontinents, wo wir heute Luxemburg, Belgien und Holland finden, gehört noch für lange Zeit zu den beiden anderen fränkischen Ländern im Westen und Osten Europas. Das ostfränkische Reich wird in der Folgezeit von Kaisern aus unterschiedlichen Herzogtümern regiert und nimmt– im Gegensatz zum westfränkischen – alsbald die Gestalt eines geopolitischen Flickenteppichs an. Im Osten des alten Karlsreiches sind die Bestrebungen der Stämme und Herzogtümer nach Eigenständigkeit viel deutlicher zu verspüren als im Westen. Der „deutsche“ Kaiser, wie der ostfränkische Kaiser später heißt, herrscht nicht nur über unterschiedliche deutsche Stämme und Völker sondern eben auch über Österreicher, Italiener, Niederländer, Belgier, Luxemburger, Böhmen und Tschechen. Und das wird in den folgenden Jahrhunderten den Weg der „Deutschen“ bestimmen.

In Frankreich und Italien werden nach dem Tod Karls III. erstmals nicht-karolingische Könige gewählt, in Burgund entstehen zwei weitgehend eigenständige Teilreiche mit jeweils anderen Dynastien. Unter Odo, einem Grafen aus Paris, der bis 898 auf dem westfränkischen Königsstuhl sitzt, gibt es auch im Westen des alten Frankenreiches mächtige Provinzfürsten, die einer zentralen Macht entgegen stehen: In Aquitanien, in Katalonien, in der Bretagne oder in Flandern. Die politische Ordnung nach den Karolingern ist in „Frankreich“ nicht einfacher als in „Deutschland“. Hier wie dort streitet die zentrale Macht mit den nach Autonomie und eigener Herrschaft strebenden Provinzmächten. Einzig bei äußeren Gefahren, wie sie etwa die Einfälle der Normannen oder Ungarn darstellen, stehen sie zusammen – darin unterscheiden sich die beiden Nachbarn nicht.

Im Westen des alten Karlsreiches kommt es genau wie im Osten zu unangenehmen Auseinandersetzungen zwischen streitlustigen Familienmitgliedern, die in jeweils wechselnden Koalitionen gegeneinander kämpfen. 987 stirbt mit Ludwig V. der letzte karolingische König. Das Ende der Kämpfe zwischen dem König und den Herzögen wird durch die anschließende Wahl von Hugo Capet eingeläutet. Hugo Capet ist der erste in einer langen Reihe von Kapetingern auf dem französischen Thron. Bis 1328 wird diese Familie den jeweiligen König stellen und so verhindern, dass ständige Dynastiewechsel und von Intrigen begleitete Königswahlen die zentrale Macht schwächen. Der Weg, den Frankreich von nun an gehen wird, ist vorgezeichnet.

Der wohl unabwendbare Zerfall des fränkischen Großreiches ist eine Wegmarke der europäischen Geschichte. Aber was wäre geschehen, wenn die fränkische Einheit gehalten und den Wirren, die da noch kommen sollten, standgehalten hätte? Würden die Europäer dann eine gemeinsame Sprache sprechen? Wären die Kriege, die zwischen dem 10. und 21. Jahrhundert die Mitte des Kontinents mehrfach verwüstet haben, den Menschen erspart geblieben? Gäbe es dann schon lange eine „Europäische Union“, wie sie jetzt entstanden ist? Unabhängig von derartigen Spekulationen beginnt für die Deutschen mit der Teilung des fränkischen Reiches eine wechselvolle und selten glückliche Geschichte. Die deutschen Stämme und Herzöge machen es den jeweiligen Kaisern nahezu unmöglich, eine „Einheit der Deutschen“ herzustellen und zu bewahren. Ganz im Gegenteil: Die partikularen Interessen der Territorialherren stehen den Belangen des „deutschen Reiches“ fast immer diametral entgegen. Mitunter sind die Kaiser Sklaven ihrer Untertanen, weil sie von deren Stimmen bei der Wahl zum Kaiser abhängig sind. Nicht selten wird die Teilnahme an einem Feldzug mit Zugeständnissen an die Großmachtsphantasien irgendwelcher Provinzfürsten erkauft. Das deutsche Reich wird von keiner zentralen Stelle regiert, ein Gemeinschaftsgefühl durch die Zugehörigkeit zum Reich entwickelt sich unter den Bewohnern nicht.

Im Gegenteil: Bei den Deutschen herrschen Uneinigkeit und Missgunst, ihre innere Entwicklung ist überlagert von Kämpfen um den Machterhalt. Die Menschen sind eng verbunden mit ihren lokalen oder regionalen Fürsten und Herzögen, deren Land es zu bewahren gilt. Der staatliche „Überbau“ - das „deutsche Reich“ – kommt erst an zweiter Stelle. Die äußere Bedrohung schweißt die Menschen im deutschen Reich zusammen, zu deren Abwehr wird alles Trennende für kurze Zeit vergessen. Am Beginn des 10. Jahrhunderts stellen die ungarischen Reiterheere eine solche Bedrohung dar, die Gegenwehr organisiert der erste von vielen deutschen Königen mit dem Vornamen Heinrich …

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