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Das Karolingerreich

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Nach der Krönung zum römischen Kaiser umfasst das Reich Karls des Großen das heutige Deutschland, Frankreich, die nördlichen Teile Spaniens, mehr als die Hälfte Italiens, Holland, Belgien und Luxemburg, weite Teile Österreichs, Kroatiens und der tschechischen Republik. Der politische und militärische Einfluss dürfte besonders im Nordosten sogar noch etwas weiter gegangen sein. Karl besitzt in diesem Riesenreich keine feste Residenz, eine Hauptstadt hat in der Gedankenwelt des mittelalterlichen Kaisertums keinen Platz. Mit seinem Gefolge zieht er von Ort zu Ort und regiert von verschiedenen Stellen. Grundlage seiner Macht sind die Pfalzen - große bäuerliche Güter, die den Kaiser mit seinem gesamten Gefolge während eines Aufenthaltes mit allem versorgen, was das kaiserliche Herz begehrt. Diese Anwesen sind groß genug, um von hier aus angemessen regieren zu können. Festlichkeiten und Versammlungen mit weltlichen und kirchlichen Würdenträgern finden hier ebenso statt wie Gerichtstage. Hier stellt der Kaiser Urkunden aus und empfängt Gesandte fremder Mächte. Die wichtigsten Pfalzen stehen in Ingelheim, Nimwegen und Aachen, wo er sich wegen der warmen Wasserquellen am liebsten aufhält. Aachen wird mit prachtvollen Bauten ausgestattet und zur Kaiserpfalz erklärt. Nach dem Vorbild byzantinischer Großbauten entsteht die achteckige Pfalzkapelle mit einem aus Marmor geschlagenen Kaiserthron, der heute noch den Mittelpunkt des altehrwürdigen Aachener Münsters bildet. Das in unmittelbarer Nachbarschaft liegende Rathaus steht auf dem Fundament der alten fränkischen Königshalle.

Das Frankenreich ist kein Willkürstaat; es gibt eine klare und gesetzlich verbriefte Ordnung, die in so genannten „Kapitularien“ festgehalten ist. Mit dieser Gesetzessammlung ist das Reich Karls des Großen in sämtlichen administrativen, rechtlichen, politischen, kirchlichen und wirtschaftlichen Fragen einheitlich geregelt. Zumindest auf dem Papier besteht also ein einheitlicher Staat mit gültigen Regeln für alle seine Mitglieder. Karl, der selbst wie die meisten seiner Untertanen nicht schreiben kann, setzt dennoch auf ein hohes Maß an Schriftlichkeit bei der Organisation des Reiches. Angesichts der wenig verbreiteten Fertigkeit des Lesens und Schreibens mag man Zweifel an der Wirksamkeit der „Kapitularien“ haben. Ein anderes Problem ist der Umgang mit den Stämmen, die er in vielen Kriegen unterworfen und dem Reich einverleibt hat. De facto hat Karl der Große in Zentraleuropa einen Vielvölkerstaat geschaffen, der auf die Belange seiner Mitglieder eingehen muss, wenn die staatliche Einheit nicht unentwegt durch innere Konflikte gefährdet werden soll. Karl lässt die Stammesrechte aufschreiben, macht sie dadurch überprüfbar und schützt sie vor missbräuchlicher oder willkürlicher Auslegung. So respektiert er die alten Rechtsordnungen und Eigenarten der Salier, der Alemannen, der Bayern, der Sachsen, der Thüringer und der Friesen und kann sie dennoch als Teil des Frankenreiches halten, das durch allgemein gültige Gesetze geordnet ist, die den Stammesrechten durchaus widersprechen konnten. Aber besonders im östlichen Teil des fränkischen Reiches – der Bundesrepublik von heute – haben sich solche Eigenarten erhalten. Bald kann man darin eine der frühen Wurzeln des deutschen Föderalismus erkennen, den es in dieser Form in Europa kein zweites Mal gibt.

Das Reich Karls des Großen

Das Reich Karls erstreckt sich von Zaragossa und Pamplona im Norden des heutigen Spaniens, über Korsika und einer Linie rund 100 Kilometer südlich von Rom, nach Kärnten und weiter in Teile des heutigen Ungarn, über Gebiete der Slowaken, von Böhmen und Mähren im nord-östlichen Teil des Reiches, weiter bis Magdeburg und ganz im Norden zu dem kleinen jütländischen Handelsplatz namens Haithabu. Im Jahr 800 leben Franzosen, Italiener, Holländer, Belgier, Luxemburger, Böhmen, Österreicher und Deutsche in einem Reich vereinigt, dessen Ausmaße damalige Vorstellungen bei weitem überschritten haben dürfte. Das Frankenreich unter Karl dem Großen dominiert den europäischen Kontinent und sorgt für die Ausbreitung des Christentums in allen seinen Landesteilen. Damit wird eine der wesentlichen Charaktereigenschaften Europas festgeschrieben: Europa ist ein christlicher Kontinent. Das Frankenreich hat zudem eine politische und militärische Bedeutung, die den Kaiser auf eine Stufe mit dem damals mächtigen Kaiser von Konstantinopel und den Kalifen von Bagdad und Kairo stellt.

Das Reich ist für damalige Verhältnisse gut organisiert. Hätte es damals schon Urlaubsorte an der französischen Atlantikküste gegeben, die Urlauber aus fast ganz Europa hätten dort mit dem gleichen Geld bezahlen können wie in ihrer Heimat. Sie hätten sich in vielen Fällen auf die gleichen Gesetze berufen können, die sie zu Hause ebenfalls anwandten. Es gibt Pfalzgerichte, die überall im Lande Recht sprechen. Sie sorgen für eine Gleichbehandlung aller Bewohner des fränkischen Reiches vor dem Gesetz. Dennoch bleiben kulturelle Eigenheiten und die Gesetze der unterworfenen Stämme erhalten. Der Grundstein für den „typisch deutschen“ Föderalismus ist damit gelegt.

Dieses fränkische Reich ist nahezu identisch mit dem Kerngebiet der Europäischen Gemeinschaft. Die EG wird durch die römischen Verträge am 25. März 1957 aus der Taufe gehoben. Frankreich, Italien, Niederlande, Belgien, Luxemburg und Deutschland sind die Teilnehmer dieses Vorläufers der heutigen Europäischen Union. Ist das Zufall oder spielen hier uralte, durch Kriege und gegenseitige Zerstörungen verschüttete Gemeinsamkeiten eine Rolle? Zeigt sich am Reich Karls des Großen, dass europäische Einigungsbemühungen auf eine lange Tradition zurückblicken können?

Und noch etwas prägt das Reich Karls des Großen: Seit geraumer Zeit sind die zu Fuß kämpfenden Heere von Ritterkontingenten abgelöst worden. Durch diese militärtaktische Neuerung werden die traditionellen, nur für eine begrenzte Zeit benötigten, Fußtruppen in den Hintergrund gedrängt. An ihre Stelle treten die Ritter und mit ihnen ein neuer Typ des Berufskriegers. Der aber braucht im Gegensatz zum einfachen Soldaten eine angemessene Ausstattung und vor allem ein gesichertes Dienstverhältnis, das ihn und seine Familie auch in Friedenszeiten ernährt. Die Antwort auf diese Neuerung heißt Lehenswesen und begründet für viele Jahrhunderte den Feudalismus in Europa.

Das Lehnswesen kommt sowohl dem Interesse des Kaisers nach langfristig verfügbaren Gefolgsleuten entgegen als auch dem Streben der Ritter nach entsprechender materieller Ausstattung für ihren aufwendigen ritterlichen Lebensstil, der für ihren Berufsstand nach und nach ebenso obligatorisch wie legendär wird. Das Lehensverhältnis wird mit einem feierlichen Symbolakt geschlossen und begründet zwischen den Partnern ein Gefüge wechselseitiger Rechte und Pflichten. Der Lehensmann - oder auch „Vasall“ - verpflichtet sich zu Gehorsam und Dienst, insbesondere zur Leistung von Ritterdiensten, während der Lehnsherr seinem Vasallen ein Stück Land oder ein Amt als Lehen zur dauernden Nutzung überlässt. Dieses Rechtsverhältnis steht unter einer gegenseitigen Treuepflicht, die den Vasallen genauso wie den Herrn bindet. Es endet erst mit dem Tod oder der Untreue eines der Partner.

Alltag im Frankenreich

Die Menschen des frühen Mittelalters leben in Familienverbänden, die ausschließlich das Überleben ihrer Mitglieder sichern sollen. Eine Heirat hat nichts mit einer Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau zu tun - sie wird vom Grundherrn arrangiert. Diese Zweckgemeinschaften umfassen mehrere Generationen, die in einem Raum in Pfahlbauten leben. Das sind kleine Stroh gedeckte Holzhütten, die teilweise auf Pfosten stehen, um gegen Hochwasser und wilde Tiere Schutz zu bieten. Als Stühle dienen Holzblöcke, der Boden ist gestampfter Lehm, auf pritschenähnlichen Gestellen wird geschlafen. Meist stehen bis zu zehn solcher Pfahlbauten zusammen - sie bilden die ersten kleinen Siedlungen, in denen bis zu 150 Personen leben. Trotz aller Anstrengungen und trotz der Einführung der Dreifelderbewirtschaftung gibt es nie genug zu essen. Sind die Winter zu streng, erfrieren die Menschen, sind sie zu mild, nimmt das Ungeziefer überhand und sie müssen deshalb hungern. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen liegt bei 44, die von Männern bei 47 Jahren. 40 Prozent der Kinder sterben bei der Geburt. Die Bevölkerungsdichte beträgt 8 Menschen pro Quadratkilometer, in Deutschland sind es heute 231 Menschen pro Quadratkilometer. Die Bauern sind „Freie“, leben aber in einem Abhängigkeitsverhältnis von ihrem Herren, der ihnen das zu bewirtschaftende Land gibt. Als Gegenleistung müssen sie einen bestimmten Anteil ihrer Ernte abgeben. Falls ihr Land überschwemmt wird oder sich als unfruchtbar herausstellt, weist ihnen der Landesherr eine neue Stelle zu, an der sie sich niederlassen dürfen. Kleine Siedlungen finden sich entlang der Handelsstraßen ebenso wie an Flussläufen oder in der Nähe von ersten größeren Dörfern, die durch eine Befestigungsanlage gesichert sind.

Der Genuss Fleisch zu essen ist ein Privileg der Wohlhabenden. 80 Prozent der freien Bevölkerung des Frankenreichs sind Bauern, die von dem leben, was sie anbauen: Getreide (vor allem Hirse und Gerste) und Gemüse (vor allem Kohl, Mohrrüben, Erbsen, Linsen und Mohn). Im Wald finden sie verschiedene Sorten wild wachsender Beeren, Hagebutten, Eicheln und Haselnüsse. Wer in der Nähe eines Flusses wohnt, kann mit einer Tuchkonstruktion nach Fischen angeln. Dabei wird das an Stöcken befestigte Tuch entweder durch das Wasser gezogen oder auf den Grund gelegt und dann hochgezogen. Was vom Fischen und von der Ernte übrig bleibt, tragen die Bauern auf den Markt, um es gegen andere Lebensmittel oder landwirtschaftliche Geräte zu tauschen. Märkte sind im 9. Jahrhundert nicht nur Tauschbörsen, sondern auch der Platz, an dem Nachrichten und Legenden verbreitet werden.

An Markttagen, die ein oder zweimal im Jahr stattfinden, kommen auch Prediger und Pilger oder Händler aus fernen Ecken des Frankenreichs, die Lebensmittel zum Tausch oder Kauf anbieten. Verboten ist der Handel mit Waffen, dennoch gibt es illegale Waffenhändler. Obwohl der Sklavenhandel offiziell abgeschafft worden ist, werden auch Sklaven zum Kauf angeboten. Der Handel auf den Märkten ist durch die gemeinsame Währung transparent. Es gelten feste Preise und mit dem Frankendenar existiert eine feste Tauscheinheit.

Karl packt auch das Problem einer gemeinsamen Währung für seinen Vielvölkerstaat an und legt fest, in welchem Münzfuß die Währungseinheiten zueinander stehen. Fortan gilt überall im Reich, dass aus einem Pfund Silber 240 Franken-Denare geschlagen werden müssen, ein Denar also ein Gewicht von 1,6 Gramm hat. Auf der Vorderseite ist ein Königsportrait zu sehen, auf der Rückseite prangt ein Kreuz. Diese erste europäische Währungsunion fördert den Handel, macht Preise transparent, schafft einen großen Raum, in dem man mit einer einzigen Währung wirtschaften kann und bringt den Bewohnern Europas ähnliche Vorteile wie der Euro heute.

Die Menschen im Reich Karls des Großen können sich frei bewegen, Handel treiben und sich – mit gewissen Einschränkungen - dort niederlassen, wo es ihnen gefällt. Die persönliche Niederlassungsfreiheit ist lediglich an die uneingeschränkte Zustimmung der dort wohnenden Zeitgenossen gebunden. Die Gesetze der Salier bieten die Rechtsgrundlage dieses Prinzips:

„Will jemand in ein fremdes Dorf zuziehen, so darf er dies nicht, wenn nur einer dagegen Einspruch erhebt, mögen ihn auch mehrere andere von jenem Dorf bei sich aufnehmen wollen.“

Wie man sieht, sind Migration und Niederlassungsfreiheit schon damals Probleme, mit denen sich die Europäer herumschlagen müssen. Eine Reise zu unternehmen, nimmt viel Zeit in Anspruch und stößt nicht selten auf Widrigkeiten, die bis zur Bedrohung von Leib und Leben reichen können. Wer beispielsweise von Aachen nach Rom pilgern will, muss nicht nur mehrere Monate einkalkulieren und viele Entbehrungen auf sich nehmen, sondern auch die Alpen überqueren – zu Fuß, allenfalls auf dem Rücken eines Pferdes und das bei jedem Wetter. Die Reisenden können sich aber schon auf kleinen Wegen, Pfaden und Straßen fortbewegen, denn das Land der Franken ist durchzogen von Handelsrouten und Pilgerwegen. Manche Wanderer lassen sich nieder, gründen bäuerliche Gemeinden oder kleine Handelsplätze. Von Ost nach West, von Nord nach Süd schlängelt sich ein erstes Verkehrsnetz über den Kontinent, das nicht nur einen regen Warenaustausch ermöglicht. Da nur wenige Menschen lesen und schreiben können, ist das gesprochene Wort der – wie wir heute sagen würden – „Transmissionsriemen“ zwischen den Volksgruppen des fränkischen Reiches. Mit den Händlern kommen auch Informationen vom anderen Ende des Kontinents unter die Leute. Kulturelle Traditionen, Sitten und Bräuche, Lieder und Geschichten, politische Informationen und christliche Erbauungen werden in der mittelalterlichen Welt der Franken ausgetauscht und weitergegeben.

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