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Der Papinianus

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Von allen Dramen Gryphius’ trägt der zwischen 1657 und 1659 entstandene, 1659 erstmalig gedruckte Papinianus (Großmütiger Rechts-Gelehrter/Oder Sterbender Aemilius Paulus Papinianus. Trauer-Spil) den stärksten politischen Akzent. Anders als im Leo Arminius und im Carolus Stuardus wird hier nicht das Problem der Revolution ‚von unten‘ thematisiert; der Herrscher selbst setzt sich seinen loyalen Untertanen gegenüber ins Unrecht und wirft damit die Frage des Widerstandsrechts auf. Mit seiner Hauptfigur griff Gryphius auf den von dem Tyrannen Caracalla verurteilten historischen Papinianus zurück, der unter Juristen als größter römischer Rechtsgelehrter galt und spätestens seit Boethius’ Consolatio Philosophiae zur moralischen Exempelfigur geworden war, zu einem Auserwählten, der angesichts seines ‚ungerechten‘ Todes stoische Standhaftigkeit beweist und deswegen als Vorbild der Tugend (der Gerechtigkeit) erscheinen kann. Auch Gryphius stellt in seinem Trauerspiel, für dessen dramatische Gestaltung keine Vorbilder bekannt sind, die Standhaftigkeit Papinians heraus; noch stärker aber betont er dessen Rechtsbewusstsein: Um den Streit des kaiserlichen Brüderpaars Caracalla um die Nachfolge ihres Vaters zu schlichten, schlägt Papinian, der angesehene Jurist, den beiden Kontrahenten, Bassian und Geta, vor, das Reich zu teilen, findet aber kein Gehör. Vielmehr lässt sich Bassian von Laetus, seinem Berater, der dem Machtkampf das Wort redet und von Gryphius als Spiegelbild des reinen Macchiavellismus eingesetzt wird, dazu überreden, seinen Bruder zu ermorden: „Man siht nicht Brüder an wenn man umb Kronen spielt.“ (II,21) Und: „Ein Fürst ist von dem Recht und allen Banden frey.“ (II,69) Bassian ersticht den Bruder vor den Augen ihrer Mutter. Aus diesem Verbrechen heraus entwickelt sich alles übrige Geschehen. Laetus, der skrupellose Zerstörer von Hof und Staat, der sich selbst den Thron aneignen will, wird verurteilt. Aber nicht nur der Schuldige, auch der Unschuldige wird in die Fallbewegung hineingezogen. Papinian erhält den Befehl, den Mord an Geta vor dem Heer und dem Volk zu rechtfertigen, widersetzt sich jedoch. Nun beschuldigt ihn Bassian des Hochverrats. Papinian widersteht in dieser Situation sowohl dem Angebot des Heeres, ihn selbst zum Kaiser einzusetzen, als auch der Lockung der Mutter der Brüder, durch die Vermählung mit ihr die Krone zu übernehmen; ebenso widersteht er der Versuchung, sich in die Schutz gewährende Abgeschiedenheit des Landlebens zurückzuziehen, und schließlich widersteht er dem Vorschlag seines eigenen Vaters, politisch klug zu taktieren und zum Schein auf Bassian einzugehen, um ihn später zu entlarven. Papinian geht es auch um den Preis seines Lebens ausschließlich um die Wiederherstellung des Rechts. Selbst als sein Sohn von Bassian ermordet wird, bleibt er unbeugsam. Er erweist sich als ‚vir constans et magnanimus‘, als tapferer, innerlich unabhängiger, selbstdisziplinierter Mann, als echter Stoiker, und erfüllt damit zugleich das Tugendideal der adligen und bürgerlichen Elite des 16. und 17. Jahrhunderts, die mit der Hochschätzung der von ‚constantia‘ und ‚magnanimitas‘ bestimmten Haltung wohl auch ihre politische Einflusslosigkeit kompensierte.77 Papinian wird hingerichtet; er stirbt als eine beispielhafte Person, die ihr Leben einer höheren Idee, dem „heiligen Recht“ hingibt. Bassian dagegen verfällt dem Wahnsinn, wird zum Opfer seines Gewissens, so dass sich am Ende das Recht wieder herstellt. Letztlich ist dies das Werk der Themis, der Göttin der Gerechtigkeit, die schon nach der Ermordung Getas auf der Bühne erscheint und nicht nur allegorisch den Widerstand der Transzendenz gegen die irdische ‚vanitas‘, gegen das dem Chaos der Leidenschaften verfallene Handeln der Menschen am Hofe verdeutlicht, sondern als ‚dea ex machina‘ mit Trompeten aus den Wolken herabkommt und als ‚Spielleiterin‘ eine entscheidende Funktion der dramatischen Aktion übernimmt:

„Ich werde ein Traur=spil stifften

Das mit gewalt und leid/

Wird die bestürtzte Zeit/

Erschrecken und vergifften.“

(II,525–528)

Durch die Themis wird dieses Trauerspiel zum Gericht. Sie straft den Laetus, sie straft den Bassian, und sie inszeniert den Untergang Papinians, damit Bassian umso sicherer ihrer Rache verfällt. Gerade damit aber garantiert sie auch die Ordnung des Rechts, das durch sie in einer transzendenten Sphäre verankert erscheint. Als allegorische Repräsentantin der ‚Lex divina‘ verbürgt sie die Ewigkeit des Naturrechts, „Höchstes Recht der heilgen Welt“ (II,553), das seinen Maßstab in der göttlichen Schöpfungsordnung findet. Da ihr metaphysischer Ort auch das menschliche Gewissen ist, leidet Bassian, der gegen das Naturrecht verstoßen hat, Gewissensqualen. Umgekehrt ist Papinians unbedingte Treue der Themis gegenüber nicht nur Ausdruck persönlicher Integrität, sondern erwächst aus der Überzeugung, dass alle politische Ordnung sich an das Naturrecht binden muss und dass das innere Rechtsgefühl – gleichsam als Organ dieses ewigen Rechts – für diese Bindung einzustehen hat, wenn nicht der ganze sittlich-rechtliche Ordo zusammenbrechen soll. („Ich muß das heil’ge Recht vor tausend Fürsten ehren.“ (III,474) Und: „Ists tödlich/daß Ich nichts thu wider mein Gewissen …“ (V,223).)

Obwohl der Papinian im antiken Rom spielt, wurden in ihm die politischen Probleme des Absolutismus abgehandelt, und der Jurist Gryphius bezog mit diesem Trauerspiel in der kontrovers geführten staatsrechtlichen Diskussion über die zentrale Frage nach der Abgrenzung des sittlich gerade noch Zulässigen vom moralisch Verwerflichen im politischen Handeln eine klare Position. Unter den Kritikern des reinen Machiavellismus waren viele doch immerhin der Auffassung, dass politisches Handeln auch außerhalb der Gebote der Sittlichkeit und Grenzen der Rechtsnormen einen gewissen Spielraum habe, sofern es sich damit rechtfertigen könne, die Interessen des Gemeinwohls zu wahren oder zu fordern. Im Papinian versucht der tyrannische Bassian diese Argumentation für sich zu verwenden. In der 4. Abhandlung legt er dem Höfling Cleander die Maximen fürstlichen Handelns dar, die in dem Bild des Staatsmannes gipfeln, der das Staatsschiff nur durch geschicktes Lavieren ans Ziel bringt:

„Man fährt offt seitwärts ab/auch öffter gar zurücke.

So wird der Port erreicht mit Vortheil/Ruhm und Glücke/.“

(35f.)

Für ihn fällt der Brudermord unter die Kategorie der für das Staatswohl eingesetzten politischen Klugheit und damit in einen moralisch indifferenten Zwischenbereich. Dem Papinian wirfer vor, durch seine moralische Unbedingtheit die Eigengesetzlichkeit des Politischen zu missachten. Papinian verweigert nicht nur jegliches opportunistische Handeln, das ihm die Hauptleute des Heeres und die Kaiserin antragen und das auch der Vater ihm empfiehlt, er weigert sich vor allem auch, sein Gewissen in den privaten, unverbindlichen Raum abzudrängen (wozu das Leben auf dem Lande ihn verführen würde) und damit als politische Instanz zu exmittieren. Aber obwohl er rigoros die Position vertritt, dass sich politisch Handelnde uneingeschränkt an die Normen des Naturrechts, des heiligen Rechts, zu halten haben, leitet er aus ihr doch kein Recht auf aktiven Widerstand gegen den zum Tyrannen entarteten Fürsten ab, der diese Normen missachtet.78 Gryphius steht mit seinem Helden hier ganz in der Tradition Luthers, der den Widerstand gegen die Obrigkeit, auch gegen unmenschlich handelnde Herrscher, aus religiösen Gründen gänzlich untersagt (vgl. auch P. N., 2012 a, I), weil jeglicher Aufruhr neues Unrecht hervorbringe und in die Rechte Gottes eingreife. Für Luther ist die Grenze des Gehorsams erst erreicht, wenn die tyrannische Obrigkeit versucht, den Einzelnen in seinem Gewissen zu binden. Erst dann ist Widerstand geboten, allerdings nur in der Form des duldenden, leidenden, ‚passiven‘ Widerstands. Ganz gemäß dieser lutherischen Auffassung verhält sich Papininan. Im Zusammenstoß von Staatsraison und Gewissensverpflichtung bewährt er sich – gerade hierin ein Exempel – in der unerschütterlichen Ruhe seines reinen Gewissens (vgl. IV,183f.):

Bassian: Villeicht auch können wir noch seinen Dinst vermissen.

Papinian: Der Käyser meinen Dinst/ich nicht ein rein Gewissen.

Der Papinian erhält einen zusätzlichen Reiz, wenn man weiß,79 dass Gryphius mit ihm einen Streit der Staatsrechtler Jean Bodin und Hugo Grotius aufgriff, die sich beide über den historischen Papinian geäußert hatten. Während Bodin in seinen De Republica Libri VI (1584) Papinian als Exempel falschen politischen Verhaltens herausstellt, weil er die Mordtat Caracallas nicht übersehen habe, was im Interesse der Staatsraison gelegen hätte, und weil er damit die Souveränität des Herrschers in Zweifel gezogen habe, rückt Grotius, gegen Bodin gerichtet, den römischen Juristen wegen seines Einstehens für seine Gewissensüberzeugung in die Reihe der christlichen Gewissens-Märtyrer (De Jure belli ac pacis libri tres, 1642). Gryphius hatte Grotius, dessen Einschätzung Papinians er teilt, während seiner Frankreichreise im Jahre 1649 kennen gelernt.

Dass der Papinian im 17. Jahrhundert besonders häufig aufgeführt wurde, freilich nicht am Hofe, sondern an Schulen und von Wandertruppen in verschiedenen Städten, liegt nicht nur an der relativ großen Zahl seiner Bühneneffekte (immerhin wird dem Zuschauer dreimal der Tod, das „Urereignis des Trauerspiels“,80 als Mord, Marterung und Hinrichtung auf offener Bühne präsentiert), sondern mit Sicherheit auch daran, dass in ihm die Problematik von Ethos und Staatsraison so deutlich entfaltet wird, – die Problematik, die das zeitgenössische politische Denken in dem von Religions- und Bürgerkriegen zerrissenen Europa des 17. Jahrhunderts wie keine andere bewegte.

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