Читать книгу Deutsche Literatur - Peter Nusser - Страница 31

Der Picaroroman

Оглавление

Das eigentliche Gegenstück zum höfisch-historischen Roman ist der Picaroroman (eine Bezeichnung, die das spanische Wort ‚picaro‘ = Schelm aufgreift und im Folgenden alle anderen, z.T. nicht ganz passenden Bezeichnungen des sog. ‚niederen‘ Romans wie z.B. „volkstümlich-realistischer Roman“ ersetzt). Er hatte sich im 16. Jahrhundert in Spanien entwickelt und fand seinen Weg durch Übertragungen nach Frankreich, Holland, England und – nicht zuletzt durch Arbeiten von Aegidius Albertinus und Johann Michael Moscherosch – auch nach Deutschland. Als Urbild dieses Genres gilt der 1554 anonym erschienene Lazarillo de Tormes; seine Höhepunkte bilden Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache (1599–1604, dt. 1615), Miguel de Cervantes’ Don Quixote de La Mancha (1605 und 1615, dt. 1648– in einer verstümmelten Fassung) und Francisco de Quevedos Historia de la vida del Buscón (1626, dt. 1671) – in Deutschland Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Der abentheurliche Simplicissismus Teutsch (1668) und in Frankreich später der Gil Blas (1715–35, dt. unvollständig 1726, vollständig 1768) von Alain-René Lesage. Eine Variante des Picaroromans ist der sich in Frankreich entwickelnde, ein satirisches Panorama der zeitgenössischen Gesellschaft entwerfende ‚roman comique‘, von dessen bedeutendstem Beispiel, La vraye histoire comique de Francion (1623) von Charles Sorel, Grimmelshausen beeinflusst worden ist.

Der Picaroroman – auch hier sei im Anschluss an Alewyn96 Genretypisches skizziert – versammelt das Personal der Besitzlosen: Soldaten, Landstreicher, Quacksalber, Schausteller, Bettler, Diebe, Dirnen usw. Insofern ist auch er exklusiv. Er bietet ebenso wenig einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft wie der höfisch-historische Roman, sondern eine einseitige Auswahl; nur ganz anders als dieser häuft er in seinen Darstellungen das Elend dieser Welt, zeigt alle möglichen physischen, moralischen und ästhetischen ‚Abnormitäten‘ (gemessen an den Normsetzungen der höfischen Gesellschaft), handelt von Armut, Enttäuschungen, Rohheit, Laster und Verbrechen. – Auch die Struktur des Picaroromans unterscheidet sich von der des höfisch-historischen Romans grundsätzlich. Der Picaroroman verfolgt die Geschichte eines einzelnen Mannes, der – in der Regel – sein Leben in der Ich-Form erzählt. Dies geschieht ganz chronologisch; auf Rückwendungen oder Vorausdeutungen wird fast ganz verzichtet. Die Handlung reiht Episode an Episode, wie Glieder an einer Kette, die sich nur am Rande berühren; ihr verbindendes Element ist allein der Held, der all die geschilderten Episoden durchläuft. Der Leser, der das Schicksal der Picarofigur verfolgt, muss weder – mit Seitenblicken – andere Handlungsstränge mitverfolgen noch Zurückliegendes im Gedächtnis behalten, um es mit später Folgendem verknüpfen zu können wie bei der Lektüre eines höfisch-historischen Romans; er ist von solchen Übersicht fordernden Aufgaben vollkommen entlastet und kann sich ganz in die Gegenwärtigkeit des erzählten Geschehens hineinversetzen. – Die Intensität, mit der er auf diese Weise mit der geschilderten Wirklichkeit konfrontiert wird, darf allerdings nicht (wie häufig geschehen) zu der kurzschlüssigen Annahme verleiten, dass der Roman ganz unvoreingenommen die empirisch vorfindbare Realität abbilde. Picaroromane zeigen einen Ausschnitt der Wirklichkeit – die Gebrechen der Welt; und sie verfahren dabei, indem sie diesem Wirklichkeitsausschnitt ein einseitiges, unverhältnismäßiges Gewicht geben, satirisch. Nicht nur wollten ihre Erzähler die Wirklichkeit ihres schönen Scheins berauben, sie demaskieren und desillusionieren und die Leser innerlich möglichst eindringlich beteiligen (der Titelkupfer des Simplicissimus zeigt, wie zum Beleg, ein phantastisches Fabelwesen mit hämisch grinsendem Satyrgesicht, das auf das auf geschlagene Buch der Welt deutet und dabei einen Haufen abgerissener schöner Gesichtslarven zertritt); sie wollten durch ihre Erzählweise zugleich auch darauf hinweisen, „daß das Leben ein ständiger Wechsel ohne Ordnung oder Einheit oder Sinn ist oder, wie die im ganzen picaresken Raum endlos abgewandelte Litanei lautet, daß in der Welt nichts beständig ist als die Unbeständigkeit.“97

In dieser Unbeständigkeit lagen für das durch Kriegshandlungen erschütterte Barockzeitalter alle Not und aller Anlass zur Verzweiflung. Seine Schriftsteller reagierten, wie die beiden großen Ausprägungen des Barockromans belegen, unterschiedlich darauf. Anders als die Helden des höfisch-historischen Romans, die der Willkür der Fortuna die Festigkeit ihres Charakters entgegensetzen und schließlich dafür belohnt werden, liefert der Picaro sich der Unbeständigkeit aus, bis er sich schließlich zurückzieht: in sich selbst (wie bei Cervantes) oder an den Rand der Welt – nach Amerika (wie bei Quevedo), in die Abgeschiedenheit eines Landguts (wie bei Lesage), in die Einsamkeit des Waldes (wie bei Grimmelshausen). Und dennoch sind höfisch-historische Romane und Picaroromane gleichsam spiegelbildlich aufeinander bezogen. Während der eine die Vollkommenheit der Lebensführung herausstellt, zeigt der andere gerade deren Unvollkommenheiten; betont der eine die Treue des Menschen, so der andere dessen Wankelmut; strengt der eine sich an, über die Erfahrungen des alltäglichen Lebens hinauszuführen, indem er die Wirklichkeit im glücklichen Ende, durch ‚Hochzeiten‘, verschönert, führt der andere in das Elend der Welt hinein und bietet am Schluss nur den Rückzug aus ihr als Lösung an. Über die Gebrechlichkeit der Welt aber sind beide Arten des Romans sich einig. Obwohl sie mit unterschiedlichen Einstellungen auf sie reagieren, treffen sie sich zuletzt doch in ihrem Pessimismus. Denn die schöne und gute Welt, die der höfisch-historische Roman der hässlichen und bösen des Picaroromans entgegensetzt, ist bloße Wunschwelt, die der Wirklichkeit nicht entspricht – ebenso eine Vortäuschung wie die, die sich aus der Häufung des bloß Negativen ergibt.

Deutsche Literatur

Подняться наверх