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Die Romane Beers und Reuters
ОглавлениеIn der Tradition des Picaroromans stand auch Johann Beer, der bedeutendste Nachfolger Grimmelshausens. Er stammte aus einer einfachen protestantischen Familie aus Oberösterreich, stieg aber wegen seines musikalischen Talents zum Kapellmeister des Herzogs von Sachsen-Weißenfels auf und bewegte sich in der dortigen Hofgesellschaft. Wie sehr Beer sich Grimmelshausen verpflichtet fühlte, hat er in den Titeln mancher seiner Romane bekundet, etwa in Der symplicianische Welt-Kucker oder abentheuerliche Jan Rebhu (1677–79), der zumal in seinem Anfang Parallelen zum Simplicissimus aufweist, und in Jucundi Jucundissimi Wunderliche Lebens-Beschreibung von 1680, der dem Muster des Picaroromans besonders deutlich folgt. Die Aneinanderreihung von Episoden, die zueinander oft in nur losem Zusammenhang stehen und der Improvisation Spielraum lassen, kam dem Erzähltalent Johann Beers entgegen. Richard Alewyn, der eigentliche Entdecker dieses unter verschiedenen Pseudonymen publizierenden und daher über Jahrhunderte vergessenen Dichters, hat darauf hingewiesen, wie sehr dessen Stil vom mündlichen Erzählen geprägt ist.106 Nicht von ungefähr schreibt Beer, von dem bekannt ist, dass er schon seine Mitschüler mit seiner Fabulierlust begeisterte, deswegen nicht nur in der Ich-Form, sondern lässt immer wieder in seinen Romanen auch andere Figuren im Gesprächskreis ihre Abenteuer schildern. Im Vergleich seiner Texte mit den Texten Grimmelshausens fällt auf, dass dessen auf Belehrung zielende allegorische Überhöhungen der Wirklichkeit einem naiveren, von Lebensfreude und Humor getragenen Realismus Platz machen. So enden Beers Helden auch nicht in asketischer Einsamkeit, sondern integriert in einem, zumeist adligen, Lebenskreis. Die Welt des Adels, die dem Leser vorgestellt wird, ist allerdings nicht die der geschlossenen adligen Hofkultur, sondern die freiere (und in der Literatur sonst kaum anzutreffende) des Landadels. Auch ist bemerkenswert, wie häufig in seinen Romanen die Handlung in der offenen Natur, in Wäldern und auf Straßen spielt und wie oft seine Helden auf die ‚kleinen Leute‘ aus dem ‚einfachen Volk‘ treffen. Doch heißt dies nicht, dass Bauern und Landstreicher deswegen höher eingeschätzt würden als im späten Mittelalter. Beers Blick auf die Landbevölkerung ist bei aller Kenntnis ihres Lebens der Blick aus dem Schloss heraus. Seine Helden erleben die ländliche Welt während ihrer pikaresken Abenteuer immer nur zeitweise; sie überwinden ihr Vagantentum relativ schnell, steigen auf in den Adel – durch Gönner oder durch Liebschaften – und werden dort sesshaft und zufrieden. Dies ist besonders auffällig in seinem Doppelroman Zendorii à Zendoriis Teutsche Winter-Nächte von 1682 und Die kurtzweiligen Sommer-Täge von 1683, seinem Hauptwerk, in dem sich die Grenzen zwischen Picaroroman und höfischem Roman verwischen. Denn nach der schnellen Integration des Helden in die Gesellschaft des Adels ist die Periode seiner Abenteuer beendet, ist das Pikareske nicht mehr das Gerüst der Handlung, sondern nur noch unterhaltende Einlage. Das gesellige Leben des Ich-Erzählers, des Zendorius, die Freundschafts- und Liebesbeziehungen des kleinen Kreises, dem er angehört, bilden den ruhenden Pol des Romans, der sich zugleich durch ein Rankenwerk eingefügter Berichte, die den Streichen und Liebeshändeln von Randfiguren gelten, in die Breite schichtet.
Vom geistigen Gewicht der Texte Grimmelshausens ist hier nichts mehr zu spüren. Beers Einmaligkeit beruht auf seiner innovativen Erzählweise: Dem grellen, das Abnorme herausstellenden Naturalismus seines Vorgängers, der die ‚wirkliche‘ Welt als ‚nicht-ideale‘ Welt begreift, die er in satirischer Verzerrung zu entlarven sucht (wobei er dieses Bemühen selbst zugleich hinterfragt), stellt Beer einen neuen Realismus gegenüber, der aus einer ‚ausgesprochenen‘ Freude am Diesseitigen erwächst und sich in der Vielzahl der Beobachtungen und deren genauer, das Gegenständliche betonender, atmosphärisch dichter Gestaltung niederschlägt. Freilich sind seine Figuren deswegen im psychologischen Sinn noch keine unverwechselbaren Individuen – die meisten sind eher „Abdrücke“ seines eigenen Ichs.107 Der Eroberung der (durch psychologischen Spürsinn zum Ausdruck kommenden) Tiefe der Wirklichkeit im 18. Jahrhundert geht die neugierige Entdeckung ihrer Fülle im 17. Jahrhundert voraus.
In der Tradition des Picaroromans steht schließlich auch Christian Reuter, der neben Grimmelshausen und Beer wenigstens zu erwähnen ist. Sein Roman Schelmuffskys curiose und sehr gefährliche Reisse-Beschreibung zu Wasser und Land (1696, in 2. Fassung unter etwas verändertem Titel 1696/97 erschienen), dessen bürgerlicher Held in Begleitung eines Grafen auf ausgedehnten Reisen um die ganze Welt Abenteuer nach Abenteuer durchläuft und in seiner Unbekümmertheit und Großmäuligkeit an Fischarts Gargantua erinnert (vgl. P. N., 2012 a, V), weist insofern schon auf die Aufklärung voraus, als er nicht nur spöttisch die Veräußerlichungen höfisch-galanter Kultur angreift, sondern vor allem ein neureiches Bürgertum trifft, das, obwohl ganz ungebildet, aus Ehrgeiz die Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben des Hofes erstrebt. Insofern lässt sich der Schelmuffsky als ‚Karikatur einer Epoche‘ verstehen; und da die reisende Hauptfigur immer dümmer statt klüger wird, parodiert er zugleich auch das Genre, dem er sich verdankt, und wird zum Beleg, dass der Picaroroman sich um 1700 überlebt hatte. Die Robinsonaden und Utopien des 18. Jahrhunderts, die formal in manchem noch an diesen Romantypus erinnern, setzten neue Akzente (vgl. II).