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‚Politische‘ Romane
ОглавлениеSeit den 80er Jahren des 17. Jahrhunderts erschienen die ‚politischen‘ Romane Christian Weises, Johann Riemers und anderer. In ihrem linearen Aufbau dem Picaroroman ähnlich, unterscheiden sie sich von ihm jedoch durch ihre stark akzentuierte pädagogische, auf ein politisches Bildungsideal gerichtete Zielsetzung. Ihre Protagonisten unternehmen Reisen, um Weltorientierung, Weltklugheit, Weltgewandtheit zu gewinnen. Sie vagabundieren nicht, wie Simplicissimus, sondern wohnen in den besten Häusern, in denen sie angesehene Mitglieder der Gesellschaft treffen, um sich im Gespräch mit ihnen zu bereichern und galante Umgangsformen zu erlernen – und sie verspotten diejenigen, die diese Formen nicht beherrschen. Anders als der traditionelle Picaroroman, der den Helden die Heillosigkeit der Welt erfahren und erkennen und ihn sich aus ihr zurückziehen lässt, steht der ebenfalls die Aufklärung ankündigende ‚politische‘ Roman der diesseitigen Wirklichkeit grundsätzlich optimistisch gegenüber. Diese Haltung, die sich bei Johann Beer schon andeutete, erscheint bei Weise und Riemer ganz ausgeprägt. Ebenso wie Beer waren beide übrigens dem Herzogtum Weißenfels verbunden; beide wirkten dort als Professoren am Gymnasium Augusteum. Weise, der als Rhetoriker schon vorgestellt wurde (vgl. o., S. 32ff.), veröffentlichte drei ‚politische‘ Romane: Die drey ärgsten Ertz-Narren In der gantzen Welt (1672), Die Drey Klügsten Leute in der gantzen Welt (1675) und Der Politische Näscher (1678). Die reisenden Helden in ihnen sollen aus Beobachtung weltklug werden und sich die Moral aneignen, die dazu beiträgt, die dringlichen Aufgaben des öffentlichen Lebens bewältigen zu helfen (vgl. dazu die Vorrede zum Politischen Näscher). ‚Politische Näscher‘ sind Leute, die sich um ein Amt nur um des eigenen Vorteils willen bemühen, die im Bereich der Gesellschaft ‚naschen‘, statt sich in ihm dienend zu bewähren. So erscheint bei Weise der absolutistische Staat als die eigentlich sinngebende Instanz, deren politische Funktionen zu unterstützen Glückseligkeit schon in dieser Welt verspricht.108 Entsprechend erhalten bürgerliche Staatsbedienstete bei Weise ein hohes Ansehen, wie sie ihrerseits dazu beitragen, dass die gesellschaftliche Kultur des Adels durch Nachahmung in die Schicht des gehobenen Bürgertums Eingang findet. – Erzählerisch begabter als der seine Romane mit Traktaten durchmischende Weise war der mit Beer befreundete Johann Riemer. Auch er publizierte drei ‚politische‘ Romane (Der Politische Maul-Affe, 1679; Die Politische Colica, 1680, und Der Politische Stock-Fisch, 1681), von denen Der Politische Stock-Fisch, der auch das Kleinbürger-Milieu eröffnet, der originellste ist. In ihm sind einige unerfahrene Studenten dabei, für den Begriff des ‚Maulaffen‘, den sie im Wirtshaus gehört haben, lebendige Beispiele zu suchen. Sie finden diese Spezies von Menschen, die „am Verstande schwach“, aber „der Einbildung nach die klügsten“ sind, auf ihrer ‚Bildungsreise‘ in allen Ständen – vornehmlich unter Geistlichen. Der an die Gattung der Ständesatire erinnernde Roman führt vor Augen, welchen gesellschaftlichen Schaden derartige ‚Maulaffen‘ anrichten und leitet daraus am Ende die Notwendigkeit der politischen Erziehung des Bürgertums ab. Wie Weise geht es auch Riemer um die Einsicht in das soziale Gefüge, in das politisch-gesellschaftliche Verhalten der Menschen und um die Empfehlung, das Leben mittels eigener Klugheit planvoll beherrschen zu lernen. Insofern waren Weises und Riemers Romane Teil der ‚politischen Bewegung‘, von der zu Beginn dieses Kapitels die Rede war, und gerade Romane erwiesen sich als geeignete Instrumente, diese Bewegung in den Kreis der bürgerlichen Leser hineinzutragen.