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Gryphius als Lyriker
ОглавлениеIn die Gruppe der geistlichen bzw. meditativen Lyrik gehören schließlich auch die Oden und Sonette des als Dramatiker schon ausführlich behandelten Andreas Gryphius. An seinen Sonetten, von denen viele zu den Höhepunkten barocker Lyrik zählen, arbeitete und feilte er über Jahrzehnte hinweg. 1637 erschien eine erste Sammlung Sonnete (sog. Lissaer Sonette), 1639 eine weitere (Son- und Feyrtags Sonnete); 1643 ein erstes, 1650 ein zweites Buch Sonette, die jeweils 50 Texte enthielten (Sonnete. Das erste Buch/Sonnete. Das Ander Buch). Eine Sammlung seiner sämtlichen Sonette wurde 1657 publiziert. Trotz der Vielzahl der Gedichte ist die angeschnittene Thematik relativ leicht einzugrenzen. Liebe und Natur waren als eigene Themenkreise für ihn uninteressant. Sein zentrales Anliegen als Lyriker war der Hinweis auf die Vergänglichkeit alles Irdischen, auf die Eitelkeit der Welt, auf die menschliche Sündhaftigkeit und das menschliche Elend. Diese um die ‚vanitas‘ kreisenden Motive verklammerte er stets mit dem Ausdruck seiner Hoffnung auf Erlösung, wobei der Bezugspunkt dieser Hoffnung der Kreuzestod Christi war, aus dem er die Gewissheit ableitete, dass Not und Leid den Weg zum ewigen Leben eröffnen. Das Leiden des Menschen und die Erwartung, erlöst zu werden, in wechselseitige Beziehung zu setzen, ist eine Denkbewegung, die sich nicht nur bei Gryphius immer wiederholt, sondern im ganzen 17. Jahrhundert eine überragende Rolle spielt.117 So wie Gott durch die Leiden Christi seinen Weg zum Menschen gegangen ist, so findet der Mensch nur über das Leid und über die Erfahrung seiner Hinfälligkeit, also über seine Ähnlichkeit mit Christus am Kreuz zu Gott. Exemplarisch wird dies in Gryphius’ Sonett An den gecreuzigten Jesum ausgesprochen.118 Welch grundsätzliche Bedeutung der Kreuzestod Christi, in dem sich irdisches Leid und Erlösungshoffnung verdichten, für Gryphius hatte, zeigt allein schon die Anordnung seiner Sonette in den Sammlungen von 1643 und 1650. Eine Reihe christologischer Texte zu Anfang und zum Schluss der Sammlung bilden gleichsam den Rahmen, der den heilsgeschichtlichen Ort alles Irdischen bezeichnet. In der Mitte stehen Beispiele, die das ‚Leben dieser Welt‘, und zwar gerade dessen Leidensaspekte, betreffen.
Das Leiden hat in diesen Sonetten viele Gesichter – von der Krankheit des Einzelnen und seiner Todeserwartung (man vgl. etwa Threnen in schwerer Kranckheit119) bis zur Erfahrung der Vielzahl von Kriegsgräueln (man vgl. etwa Threnen des Vatterlandes/Anno 1636120). Wichtig ist für Gryphius, wie der Mensch sich angesichts solcher Leiden verhält. Wenn im ersten genannten Sonett Krankheit und bevorstehender Tod mit dem Verfall der seelischen Kräfte in Verbindung gesehen werden, so ist dies ein Verweisen auf die gottgewollte Hinfälligkeit des irdischen Lebens überhaupt, der vom Menschen nur das Vertrauen in die Erlösungstat Christi entgegengesetzt werden kann (wie ja das in den Überschriften der Sonette so häufig wiederholte Wort ‚Tränen‘ nicht etwa die Intensität individuellen Leidens bezeichnet, sondern das Leiden in kreuzestheologischer Dimension – ‚Threnen‘ oder ‚Lacrimae‘ waren zugleich Gattungsbezeichnungen für religiöse, sich auf den Kreuzestod Christi beziehende Gedichte). Die zum Tode führende Krankheit interessiert also nicht als individuelles Schicksal, sondern vielmehr als Schauplatz der Bewährung für das rechte Gottvertrauen. – Und wenn in dem anderen genannten, berühmten Sonett das Grauen des Krieges in apokalyptischen Bildern vergegenwärtigt wird und das durch Pest, Glut, Hungersnot bewirkte menschliche Elend für den Dichter (in der letzten Zeile des Gedichts) den Höhepunkt darin findet, dass so vielen auch der „Selen schatz“ verloren geht, so eröffnet dieser Hinweis auf den Schatz der Seele, den christlichen Glauben also nach der Wertordnung des Barock, doch die Möglichkeit auf die dem Menschen auch im Elend bleibende Hoffnung auf Erlösung – als strenger Lutheraner geht Gryphius über diese Andeutung nicht hinaus. Diese bei ihm ständig wiederkehrende Gedankenbewegung bestimmt auch sein als ästhetisches und rhetorisches Gebilde besonders vollkommenes Sonett Es ist alles eitell:
Du sihst/wohin du sihst nur eitelkeit auff erden.
Was dieser heute bawt/reist jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn/wird eine wiesen sein
Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den herden.
Was itzund prächtig blüht sol bald zutretten werden.
Was itz so pocht vndt trotzt ist morgen asch vnd bein.
Nichts ist das ewig sey/kein ertz kein marmorstein.
Itzt lacht das gluck vns an/bald donnern die beschwerden.
der hohen thaten ruhm mus wie ein traum vergehn.
Soll den das spiell der zeitt/der leichte mensch bestehn.
Ach! was ist alles dis was wir für köstlich achten/
Als schlechte nichtikeitt/als schaten staub vnd windt.
Als eine wiesen blum/die man nicht wiederfindt.
Noch wil was ewig ist kein einig mensch betrachten.121
Die Überschrift, die einen Spruch aus dem Prediger Salomo (Kap. 1, Vers 2) aufgreift, thematisiert die ‚vanitas mundi‘, die Nichtigkeit des Daseins. Dieses Thema wird mit der in der barocken Lyrik üblichen Beispiel-Häufung durchgespielt, wobei die Antithetik von ‚itzt‘ und ‚bald‘, von Gegenwart und Zukunft, die den Aspekt der Vergänglichkeit deutlich macht, besonders hervorsticht. Doch der Mensch, der das Irdische als so „köstlich“ erachtet, hat, obwohl er ihn ‚noch‘ nicht sucht, auch Zugang zu dem, was „ewig“ ist. Auch hier erscheint, wie in Threnen des Vatterlandes, das Rettende – als Andeutung – erst ganz am Schluss, als Möglichkeit, die dem Menschen offen steht und die er wohl nur ergreift, wenn ihm die ‚vanitas‘ bewusst geworden ist.
In der neueren Barockforschung ist herausgehoben worden,122 dass die Interdependenz von Leidenserfahrung und Heilserwartung, die nicht nur von Gryphius und in der religiösen Lyrik überhaupt, sondern etwa auch in Emblembüchern des 17. Jahrhunderts thematisiert wurde, ungewollt dem politischen Interesse absolutistischer Herrschaft entgegenkam. Denn der Wechselbezug von irdischer Hinfälligkeit und freudiger Hoffnung auf Erlösung prägte sich auch in der Weise ein, dass die Erfahrung des Schmerzes – zumal in Erinnerung an die Leiden Christi – wie eine Voraussetzung, ja geradezu wie ein Rechtfertigungsgrund für das ewige Leben erschien. Eine derartige, durch die Literatur vermittelte, Akzeptanz von Not und Leid und der Glaube an deren gleichsam veredelnde Kraft konnten den absolutistisch regierenden Obrigkeiten bei der Ausübung ihrer die Untertanen disziplinierenden Macht und auch angesichts der verheerenden Zustände, welche die durch sie angezettelten Kriege hinterließen, nur willkommen sein. Als wie nützlich für die Sozialdisziplinierung sich eine Denkstruktur erwies, in der Entbehrung in der Hoffnung auf Belohnung geradezu als wünschenswert erscheint, zeigt außerhalb des religiösen Bereichs z.B. die erzielte Willfährigkeit der neuen Beamtenschaft, die den Dienstgedanken (in einem sich zeitlich bis ins 19. und 20. Jahrhundert erstreckenden Prozess) immer weiter verinnerlichte und sich trotz schlechtester Lebensumstände dabei nicht beirren ließ.123 Auch die Überzeugung, dass Züchtigungen ein Ausdruck der Liebe seien (in der Erziehung zumal) und schließlich Früchte trügen, ist ein Derivat dieser Denk- und Gefühlsstruktur, die zu überwinden bei vielen noch gegenwärtig so viel Mühe kostet. – Es dürfte auch ohne weitere Beispiele für die politische Brauchbarkeit der Leiden-Heil-Argumentation deutlich sein, dass auch die scheinbar dem Politischen so entzogene religiöse bzw. meditative Lyrik, wenigstens in Teilen, eine politische Dimension besaß, deren sich die Autoren zwar schwerlich bewusst waren, die aber gleichwohl eine – sehr vermittelte – Wirksamkeit entfaltete, die auch sie – mit aller Vorsicht – in Korrelation zum höfischen Absolutismus zu setzen erlaubt.