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Der höfisch-historische Roman
ОглавлениеDer Kreis der Leser der höfisch-historischen Romane (diese Bezeichnung steht im Folgenden für alle anderen des ‚hohen‘ Romans) war mit dem der Zuschauer der an den Höfen des 17. Jahrhunderts und in den Schultheatern aufgeführten Opern und Theaterstücke identisch. Ihm gehörten die Angehörigen der höfischen Gesellschaft im weitesten Sinne an, Adlige, bürgerliche Beamte und Gelehrte – und auch die Verfasser dieser Romane kamen aus ihm; Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel war der prominenteste unter ihnen. Obwohl Romane nicht unmittelbar zur Festlichkeit höfischen Lebens beitragen konnten, sondern in kleineren Zirkeln vorgelesen oder auch ganz allein gelesen wurden, beschäftigten sie doch die Phantasie, waren Gesprächsstoff und trugen zur Unterhaltung und zum Selbstverständnis der Hofgesellschaft und ihr verbundener Bürgerlicher bei – zumal in ihnen (ebenso wie auf dem Theater) die politischen Ordnungsprinzipien des Absolutismus weitergegeben wurden. Auf die übergeordnete Rolle der Zentralgewalt gegenüber der des Adels spielte besonders der 1621 veröffentlichte, vielen deutschen Autoren als Vorbild dienende Roman Argenis des Engländers John Barclay an, und die bedeutsame Funktion eines loyalen Beamtenstands betonte wie kein anderer Philipp von Zesen in seinem Josephsroman Assenat (1670). Die von theologischer Seite häufig sehr nachdrücklich geäußerte Kritik am Romanlesen, die sich einerseits auf die für die Lektüre ‚verschwendete‘ (d.h. der Erbauung fehlende) Zeit, andererseits auf den freien Umgang mit biblischen Stoffen und Motiven bezog, hat das Vergnügen der Leser höfisch-historischer Romane kaum beeinträchtigen können.
Wie groß es war, belegt allein schon der Umfang dieser Texte. Die sechs Bände von Herzog Anton Ulrichs Hauptwerk Die Römische Octavia (1677ff.) hatten insgesamt 7000 Quartseiten, so dass wohl Monate nötig waren, um sich durch sie hindurchzuarbeiten. Ähnliche Großdichtungen waren der 1659/60 erschienene Herkules von Andreas Heinrich Buchholtz und auch Daniel Caspar von Lohensteins Arminius 1689/90). Keiner dieser Romane (andere, zu ihrer Zeit sehr beliebte – etwa Eberhard Werner Happels Der Asiatische Onogambo [1673], Zesens Simson [1679], Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausens Asiatische Banise [1689] wären zu nennen) kann hier als Einzelner vorgestellt werden. Ein solches, viel Raum beanspruchendes Vorhaben93 wird vielmehr durch eine (sicherlich nicht jedem einzelnen Werk gerecht werdende) genretypische Beschreibung ersetzt, wie sie Richard Alewyn versucht hat,94 um auf diese Weise wenigstens einen Eindruck davon zu vermitteln, was die um den Hof zentrierte Leserschaft des 17. Jahrhunderts faszinierte. Dabei waren die in Deutschland publizierten Romane eigentlich nur Nachahmungen französischer Vorbilder (etwa Madeleine de Scuderys Artamene ou le Grand Cyrus [1649–53] und Clélie [1654–60] oder Gautier La Calprenèdes Cléopàtre [1647–63]), die ihrerseits dem hellenistischen Roman (Heliodors Aithiopika aus dem 3. Jh. n. Chr.) und dem portugiesischen und spanischen Ritterroman des 16. Jahrhunderts, insbesondere dem Zyklus der nach dem Helden Amadis de Gaula genannten Amadisromane verpflichtet waren.
Die höfisch-historischen Romane präsentieren das Personal der höfischen Gesellschaft in höfischer Umgebung, Prinzen, Prinzessinnen, Heerführer, Priester, Adlige, Höflinge. Im Mittelpunkt der geschilderten Handlungen stehen Liebespaare, die Schicksalsschläge (Naturkatastrophen, Vertreibungen, räuberische Überfälle, Verführungsversuche, Erpressungen u.a.) gleich reihenweise zu bewältigen haben, bis sie endlich vereint sind. Dabei sind die männlichen Helden durch Mut und Kraft begünstigt, die weiblichen durch Schönheit und Tugendhaftigkeit – auch aus dieser Quelle wird der massenhaft verbreitete Unterhaltungs- und Trivialroman des 19. und 20. Jahrhunderts seine Klischees beziehen. Der Umgang der Geschlechter miteinander folgt den Regeln des höfischen Anstands, und Liebende halten eher öffentliche Prunkreden als dass sie vertrauliche Gespräche führen. Kennzeichnend ist, dass die Protagonisten regierenden Häusern angehören, so dass Trennungen und Verbindungen zugleich auch immer mit Staatsaktionen verbunden sind. Dies alles wird in die räumliche und zeitliche Ferne verlagert, die es ermöglicht, die ‚Tragweite‘ aller Handlungen überzeugend zu kennzeichnen, und die zugleich auch die Phantasie des Lesers von seinen Alltagsbindungen abzulenken vermag. – Die Struktur dieser Romane ist mehr als verwickelt. Da in der Regel nicht nur die Geschichte eines einzelnen Liebespaares erzählt, sondern das Schicksal einer ganzen Anzahl Liebender verfolgt wird (in Herzog Anton Ulrichs Römischer Octavia sind nicht weniger als 24 Liebespaare beschäftigt) und dem Leser stets die zum Teil verwickelten Lebensgeschichten aller Beteiligten vor Augen geführt und vom Erzähler auch noch durch ausführliche Vorgeschichten und Kommentare ergänzt werden, überlagern sich die einzelnen Handlungsstränge dermaßen vielschichtig, dass es während des Lesens kaum möglich ist, die Übersicht zu behalten. Verkleidungen, die den Wechsel der Gestalt oder des Geschlechts bewirken, Verstellungen, Missverständnisse tun ein Übriges, um die Verwirrung zu vervollständigen. Damit gewinnen diese Romane die Dimension der Breite, verlangsamt sich auch das Lesetempo des in Rätselhaftigkeiten versinkenden Lesers. Erst am Ende sind alle Geheimnisse geklärt, die Identitäten gesichert, die Paare glücklich vereint, und erst am Ende ist auch die Übersicht des Lesers endlich hergestellt. Es ist, wie Alewyn bemerkt hat, mit diesen Romanen wie mit den Labyrinthen, in die das Barock seine Gärten verwandelt hat (vgl. S. 25f.): „Für den Menschen, der zwischen ihren Hecken irrt, sind sie eine undurchdringliche Wirrnis, wer sie von oben betrachtet, erfreut sich an ihrem symmetrischen Muster.“95 – Damit stellt sich die Frage nach dem Sinn dieses Erzählens. Das glückliche Ende, in das die höfisch-historischen Romane das Leben ihrer Figuren nach allem von der Fortuna bewirkten Auf und Ab schließlich münden lassen, ist der Lohn für die Beständigkeit ihrer Charaktere, für ihr stoisches Gemüt, das ihnen in allen Verwirrungen ihre Identität und Integrität bewahrt. Da die höfisch-historischen Romane ihrem Wesen nach Liebesromane sind, ist die Tugend, auf die es in ihnen ankommt die der Treue. Ihretwegen verdienen die Helden ihr Attribut ‚heroisch‘; sie sind unbeugsam im Widerstand gegenüber allen Verlockungen, die sie von ihrer Bestimmung abzubringen vermöchten, bis endlich die Providentia, die Vorsehung, der Fortuna Einhalt gebietet und die Ordnung wieder sichtbar werden lässt, die zwar immer vorhanden, von den handelnden, sich im Irrgarten des Lebens bewegenden Menschen aber nicht zu erkennen war.