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Lohensteins ‚afrikanische‘ und ‚römische‘ Trauerspiele

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Die beiden ‚afrikanischen‘ Trauerspiele – Cleopatra und Sophonisbe – zeigen Etappen des vom Fatum ‚verhängten‘ Aufstiegs Roms zum vierten und letzten der vier Weltreiche (dessen Krone im 17. Jahrhundert – im zeitgenössischen Verständnis – der habsburgische Kaiser trägt). Ihre Konzeption ist durchaus vergleichbar. Die Cleopatra, lange neben den Dramen Gryphius’ als ‚Muster‘ eines barocken Trauerspiels angesehen, behandelt eine Konfliktlage, die sich aus dem unberechenbarsten aller Affekte, der Liebe, und politischen – d.h. vernünftig zu treffenden – Entscheidungen ergibt. Marcus Antonius, der sich im Machtkampf mit Augustus entgegen getroffener Vereinbarungen Ägypten in seinen Herrschaftsbereich einverleibt, die ägyptische Herrscherin Cleopatra geheiratet und deswegen Octavia, die Schwester des Augustus, verlassen hat, erhält nach seiner Niederlage gegen Augustus in der Schlacht bei Actium von diesem das Friedensangebot, einen Teil Ägyptens abzutreten und damit auch die Verbindung zu Cleopatra zu lösen, dafür aber mit einem Drittel des Römischen Reichs entschädigt zu werden. Der seiner Liebe zu Cleopatra („der blinden Brunst“) völlig ausgelieferte Antonius lehnt dieses Angebot gegen alle Vernunftgründe seiner Ratgeber ab. Cleopatra dagegen denkt als Herrscherin, die ihr Reich um jeden Preis zu retten bemüht ist. Sie beschließt, Antonius aus dem Weg zu räumen, um die politische Situation zu klären, und beginnt ein theatralisches Spiel mit den Affekten. Die bedingungslose Liebe ihres Mannes einkalkulierend, täuscht sie ihren Selbstmord vor und verursacht auf diese Weise, dass Antonius sich aus Verzweiflung darüber tötet. Auch Augustus bedient sich des fragwürdigen politischen Verhaltens der Simulation. Er gibt vor, in Cleopatra verliebt zu sein, mit dem Ziel, sie, die auf sein Werben eingeht, lebend zu fassen und sie – nicht zuletzt aus persönlichem Ehrgeiz – auf seinem Triumphzug dem römischen Pöbel vorzuzeigen. Als Cleopatra versteht, dass sie sich verschätzt hat, tötet sie sich, indem sie sich von einer Giftschlange beißen lässt. Augustus also ist – wenigstens in dieser ersten Fassung des Trauerspiels – keineswegs der moralisch unanfechtbare Herrscher; eher vertretbar als die seinen sind die Affektsimulationen Cleopatras, weil sie als Herrscherin in einen Ausnahmezustand geraten ist, der den Einsatz aller ihr zu Gebote stehenden Mittel zumindest verständlich erscheinen lässt. Dennoch hat Lohenstein nicht versucht, ihre Handlungen moralisch zu rechtfertigen, obwohl er hierbei auf Bodin (vgl. o.) hätte zurückgreifen können; er lässt Cleopatra sich ihrer aus „Nothzwang“ erfolgten Verletzung der Treue zu Antonius schuldig bekennen und – ohne Gewissensentlastung – mutig in den Tod gehen. – In der 1680 erschienenen zweiten Fassung der Cleopatra hat Lohenstein die Figur des Augustus insofern aufgewertet, als dieser seine Versprechungen gegenüber der Ägypterin aufrichtig einzuhalten versucht, sich aber, seinen Ratgebern folgend, der Höherrangigkeit der Interessen Roms aus Staatsraison beugen muss. Nur so konnte Lohenstein es wagen, im Schlussreyen den Habsburger Kaiser Leopold in die Nähe des Augustus zu rücken.

Die Leopold I. erwiesenen Huldigungen werden noch viel deutlicher in den Reyen der Sophonisbe, die auch Anspielungen auf seine Hochzeit mit Margareta Theresa, der Tochter Philipps IV. von Spanien, enthält und dieses weltweit ‚strahlende‘ Ereignis gebührend würdigen will (so am Ende des zweiten Reyens):

Wir falln zu Fuß’ uns opfernd eurer Hold;

Der Himmel halt’ euch in stets-grüner Blüthe/

Durchlauchtigster/Großmächt’ger Leopold

Durchlauchtigste/Großmächt’ge Margarite.

(V. 545ff.)

Dabei lag gerade in dieser (in vielen Formulierungen wiederholten, auch mit der durch den Namen Leopold nahe gelegten Löwen-Emblematik spielenden) Huldigung durchaus ein Wagnis.89 Denn Lohensteins Drama enthält monströse Grausamkeiten, die dem festlichen Anlass, dem es sich widmet, scheinbar ganz und gar nicht gerecht werden. Selbst wenn die Zuschauer verstanden, dass die vorgeführten Gräuel der von Rom überwundenen ‚afrikanischen‘ Welt angehören und geeignet sind, den Glanz der vom ‚Verhängnis‘ ausersehenen neuen Weltmacht Roms (und nach typologischem Schema auch den der Habsburger) umso stärker hervorzuheben, war ihre Distanzierungsfähigkeit angesichts der sinnlichen Eindrücke jedenfalls erheblich gefordert.

Seit Livius (Ab urbe condita, 1. Jh. n. Chr.) und Appian (Historia Romana, 2. Jh. n. Chr.) galt Sophonisbe, die numidische Fürstin aus der Zeit des Zweiten Punischen Krieges, als eine in der Geschichtsschreibung gleichsam kanonisierte Gestalt, als die Feindin Roms schlechthin, und Francesco Petrarcas Epos Africa (1338–42) bahnte den Weg für zahlreiche Bearbeitungen des Stoffes in ganz Europa (u.a. Jean Mairets La Sophonisbe von 1635 und Pierre Corneilles Sophonisbe von 1669). Welche Texte Lohenstein neben den antiken Quellen kannte, ist umstritten. Bei ihm greift Sophonisbe, die „Penthasilea Afrikens“, um ihr Reich vor dem mit Rom verbündeten Afrikaner Massinissa zu retten, nicht nur selbst zu den Waffen, sondern bietet ihre eignen Söhne den heidnischen Göttern zum Blutopfer dar. Doch sie wird besiegt und mit ihrem Gatten Syphax in den Kerker geworden. Während Syphax entfliehen kann, gibt sie dem Liebeswerben des leidenschaftlich für sie entbrannten Massinissa nach und willigt in eine Heirat unter der Bedingung ein, dass dieser sie nie in die Hände der Römer fallen lasse. Nun aber verlangt der römische Oberbefehlshaber Scipio, der von dem Römerhass Sophonisbes weiß, aus Staatsraison, dass die Verbindung gelöst werde. Massinissa fügt sich, und Sophonisbe, der zu Beginn des 5. Aktes durch den Geist Didos der Verlauf der Weltgeschichte offenbart wird, in dem der Untergang Numidiens und Carthagos sowie der Aufstieg Roms beschlossen liegen, tötet sich und ihre Söhne durch Gift.

Ähnlich der Cleopatra kann auch Sophonisbe dem ihr zugewiesenen Herrschaftsauftrag nur dadurch nachkommen, dass sie ihre Tugend ‚verlarvt‘, also moralische Werte, die durchaus Gültigkeit für sie besitzen, verletzt. Sie bricht die Treue zu ihrem Ehegatten und gibt dem Werben Massinissas nach. Ihre Selbsttötung vermag diese Schuld nicht zu tilgen, aber sie erheischt Respekt, indem sie auf die ausweglose Situation hinweist, in die der politisch Verantwortliche geraten kann. Andererseits aber ist Sophonisbes Selbstopferung aber eben auch als Zeichen für die vom Fatum verhängte Überlegenheit der Welt Roms zu verstehen, die der von Affekten und Lastern weitgehend unberührte, als ‚rex iustus‘ fungierende Scipio repräsentiert, der als Vorbild zugleich dem die imperiale Tradition des Römischen Reiches fortsetzenden Habsburger Kaiser Leopold schmeichelt.

Während die ‚afrikanischen‘ Trauerspiele Lohensteins den Aufstieg Roms thematisieren (und die ‚türkischen‘ – hier zu übergehenden – Spiele auf die Gefährdung von außen hinweisen, die der gegenwärtige Repräsentant des römischen Weltreichs abzuwehren hat, also die ‚habsburgische Sendung‘ spiegeln), betonen die beiden ‚römischen‘ Trauerspiele Agrippina und Epicharis die Bedrohung Roms und seiner Tradition von innen. In beiden Dramen, die eine Art Diptychon bilden,90 wird die Herrscherfigur (Nero) zum Inbegriff des Tyrannen stilisiert und gezeigt, wie der Missbrauch von Herrschaft eine Kette sich gegenseitig bedingender Bluttaten hervorruft. Diese gipfeln in der Agrippina im Muttermord. Agrippina, die Mutter Neros, die in den Annalen des Tacitus als bloßes Mordopfer dieses Kaisers dargestellt wird, ist bei Lohenstein eine von Ehrgeiz getriebene Intrigantin. Sie sinnt auf allerlei Machenschaften gegen ihren tyrannischen, der Hybris verfallenen Sohn, der seine Herrschaftsposition zur Befriedigung privater Begierden missbraucht. („Man thue was man thu/Der Purpur hüllt es ein.“ [II,42f.]) Um eine gegen sie selbst und ihre Schwiegertochter gerichtete Intrige der ebenfalls von Ehrgeiz angestachelten Geliebten Neros, Sabina Poppaea, abzuwehren, scheut sie nicht davor zurück, ihren Sohn zu verführen, um ihn von dieser Frau zu trennen. Ob es tatsächlich zum Inzest kommt oder nicht, ist Gegenstand einer berühmt gewordenen Beratungsszene (III,1), in der Höflinge im Vorzimmer des Schlafgemachs Neros die Affekte Agrippinas analysieren, ihre Verstand und Gewissen ausschaltende Eifersucht, ihre Ehrsucht und ihre „Regiersucht“, die vor allem deshalb so groß sind, weil sie als Kaiserin selbst einmal alle Macht besessen hat. Die Affektanalyse der Höflinge ist die Voraussetzung für die ‚Affekttherapie‘, die den zweiten Teil des Trauerspiels beherrscht und sich hier auf die Frage der Bestrafung Agrippinas konzentriert. Diese Frage wird vor allem von Neros Ratgeber Seneca erörtert, der Agrippinas Ermordung zustimmt, als Nero seine Herrschaft angesichts des allgemeinen Jubels, mit dem seine Mutter nach einem missglückten Anschlag auf sie empfangen wird, ernsthaft gefährdet sieht. Damit ist „die Konstruktion eines Anti-Papinian perfekt.“91 Während Papinian bei Gryphius jeden Opportunismus aus Gewissensgründen ablehnt (vgl. o.), stellt Lohensteins Seneca die Sicherung des Staates über alle Skrupel. Gedungene Mörder töten Agrippina auf grausame Weise. Neros Wunsch, sich mit der Getöteten wieder zu versöhnen, ein Wunsch, der in nächtlicher Einsamkeit (also in einer von der fürstlichen Stellung befreiten Position) aufbricht, wird von Furien abgewehrt, die im letzten Reyen seine künftigen Gewissensqualen ausmalen. – So werden beide Protagonisten dieses Trauerspiels für ihre Laster bestraft. Sie beide erscheinen in ihm als vollkommen von Affekten beherrschte Figuren, wobei Unkeuschheit und Ehrsucht auf beide gleichermaßen verteilt sind; und beide verdeutlichen auf exemplarische Weise, welch ruinöse Vorgänge sich entwickeln können, wenn der Maßstab für Herrschaft und Lebensführung, die Vernunft, verloren geht.

Auch in der Epicharis erscheint Nero als mörderischer Tyrann, gegen den die – aus den Annalen des Tacitus bekannte – Titelgestalt, von Lohenstein zum Haupt der Pisonischen Verschwörung erhoben, zum Kampf aufruft. Anders als die Märtyrer des Gryphius, die in der zum Tode führenden Prüfung ihrer Tugend die Gnade Gottes wirksam werden sehen, ist Lohensteins Heldin zum aktiven Widerstand gegen die Macht des Lasters entschlossen. Doch indem sie Widerstand leistet, setzt sie das Leben anderer aufs Spiel und wird auf diese Weise schuldig. Noch aus einem anderen Grund ist ihr Verhalten zur unmittelbaren Nachahmung kaum geeignet. Ebenso wie Nero oder wie die skrupellose Sabina Poppaea ist auch sie von Affekten beherrscht. Ihr Zorn gegen den Tyrannen, den sie „zerstückt“ zu sehen wünscht (IV,110), ist maßlos. Obwohl Verfechterin der republikanischen Idee, ist sie doch sofort bereit, als Preis für die Ermordung Neros der Erhebung eines neuen Monarchen zuzustimmen. Ebenso problematisch ist ihre Schmerzenswollust, die sie nach ihrer Gefangennahme durch Nero und während ihrer Folterung in Hasstiraden und blutrünstigen Wortwechseln mit ihren Widersachern auslebt, in einem Wettstreit gegenseitiger Mordwünsche. Am Ende erwürgt sie sich selbst, verübt Selbstmord im Henkerstuhl, um bis zur letzten Konsequenz mit ihrer „Tugend Muth“ der „Blutt-Tyrannen Macht“ (II, 425) zu trotzen. So sehr ihre ‚magnanimitas‘ (‚Großherzigkeit‘) an dieser Stelle beeindruckt, so wenig ist zu übersehen, dass Lohenstein mit seinem Stück am historischen Beispiel die in den Untergang führende Verderblichkeit affektgesteuerten politischen Handelns vorzuführen versucht. Dem individuellen Heroismus der Epicharis wird dabei der Respekt nicht versagt, und indirekt spielt Lohenstein – anders als Gryphius – mit der Möglichkeit des aktiven Widerstands gegen die Tyrannis. Doch wird gleichzeitig im Widmungsschreiben dieses Dramas betont, dass dank des milden Regiments der Habsburger niemand sich mit Blut beflecken müsse – eine geschickt verkleidete Mahnung (die angesichts der vom Kaiserhaus offensiv vertretenen und mit Mediatisationen und Kircheneinziehungen systematisch vorangetriebene Gegenreformation durchaus ihre aktuelle politische Relevanz besaß).

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