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‚Casualdichtung‘
ОглавлениеEine große Anzahl, wenn nicht die größte Anzahl der produzierten Gedichte stand in Gebrauchszusammenhängen der höfischen Gesellschaft, war Gelegenheitsdichtung, ‚Casualdichtung‘. Die Anlässe für die Produktion und Rezeption solcher Lyrik waren so breit gestreut wie die Anlässe für das Feiern von Festen. Besondere Anstrengungen forderten Krönungen, Amtsantritte, Jubiläen, die Geburts- und Todestage von Würdenträgern, Besuche gekrönter Häupter heraus.
Du Gesegneter des Herren,
Komm, zeuch gnädig ein! wir sperren
Thor und Hertzen Dir weit auff,
Komm, Dein Preussen kompt zu hauff,
Wünschet Deiner Herrschaft Segen:
Dir legt Königsberg sich an
Auch so schön es immer kan,
Aller Pracht ist Deinetwegen,
Der Triumph-Gebäude Zier
Pranget, Unserm Fürsten, Dir. (…)109
schrieb – um nur ein Beispiel zu geben – der wie kaum ein anderer als ‚Gelegenheitsdichter‘ hervorgetretene, hoch angesehene Professor Simon Dach anlässlich des Besuchs des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Preußen 1641 in Königsberg. Es ist, obwohl es mentalitätsgeschichtlich aufschlussreich wäre, hier kein Raum, um auf die schier endlose Zahl der Verse dieser Art näher einzugehen, in denen Momente des Lebens festgehalten wurden, die immer auch geeignet waren, ganz allgemeine Betrachtungen anzuknüpfen – von der Verantwortung im Amt bis zur Vergänglichkeit des Lebens. Insofern waren die Casualdichtung und speziell das Herrscherlob, die Panegyrik, nicht nur Ausdruck der Freude oder pure Lobhudelei, sondern zugleich die positive Formulierung von Ansprüchen, die den Gefeierten an die Normen erinnerte, denen er nach allgemeiner Überzeugung gerecht werden musste. Gerade diese Lyrik trug damit zur Verständigung über die Wertmaßstäbe bei, die in der Gesellschaft galten oder gelten sollten.
Über den konkreten historischen Anlass oft hinausgehend, aber meist dennoch auf allgemeine Alltagserfahrungen sich beziehend und in dem Wunsch geschrieben, Partei zu ergreifen und Einfluss zu nehmen, waren die ‚Gelegenheitsgedichte‘, die sich mit der Gesellschaft, insbesondere mit dem Hof und seiner Organisation, kritisch beschäftigten. Die beliebteste Form, in der dies geschah, war die des satirischen Epigramms, das wegen seines – durch antike Vorbilder geprägten – Anspruchs, in aller Kürze einen Gedanken geistreich, zumindest überraschend zuzuspitzen, auch eine rhetorische Herausforderung darstellte. Dieser Herausforderung wurden zumal die unzähligen epigrammatischen Versuche auf Einblattdrucken und Flugblättern, die während des Dreißigjährigen Krieges zu propagandistischen Zwecken neu auflebten, selten gerecht; aber sie belegen, auf einer anderen ästhetischen Qualitätsebene, die Gebrauchsfunktion lyrischer Texte in diesem Zeitalter. Die genaue Umkehrung des Herrscherlobs erkennt man in Zeilen wie
Hie liegt und fault mit Haut und Bein
Der Grosse KriegsFürst Wallenstein.
Der groß Kriegsmacht zusamen bracht/
Doch nie gelieffert recht ein Schlacht. (…)110
Als Dichter satirischer wie auch gnomischer (belehrender) Epigramme (‚Sinngedichte‘ in Zesens deutscher Übersetzung) ist Friedrich von Logau wie kein anderer bekannt geworden (Salomons von Golaw Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend, 1654). Er stammte aus einer schlesischen Adelsfamilie, stand im Dienst des Herzogtums Brieg und attackierte gleichwohl die Hofgesellschaft, in der er sich bewegte, nachhaltig. Dabei idealisierte er als Angehöriger des alten Landadels den patriarchalischen, auf einem Treueverhältnis zwischen Fürst und Ratgebern basierenden Herrschaftsstil vergangener Zeiten, wandte sich gegen den Ehrgeiz und die mit ihm verbundene Duckmäuserei der Höflinge, gegen die neue ‚politische‘ Moral, gegen die Überfremdung der deutschen durch die französische Kultur, gegen die Städte als den Nutznießern des absolutistischen Verwaltungsstaates, nicht zuletzt auch gegen die Machtgier der führenden Vertreter der kirchlichen Konfessionen – sein bekanntestes Epigramm, ‚Glauben‘, lautet: „Luthrisch, Päbstisch und Calvinisch, diese Glauben alle drey, Sind vorhanden; doch ist Zweiffel, wo das Christenthum dann sey.“