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Grimmelshausens Simplicissimus
ОглавлениеEs ist sinnvoll, dies einer exemplarischen Betrachtung des bekanntesten aller deutschen Barockromane voranzustellen, Grimmelshausens Simplicissimus, der so häufig als volkstümlich-realistischer oder auch als Bildungsroman gelesen wurde, während er in Wahrheit doch ganz in der Tradition des satirischen Picaroromans steht.
Die Missverständnisse begannen dabei frühzeitig schon bei der Biographie des Dichters.98 Die schlechte Quellenlage zu dessen Lebenslauf verleitete dazu, das Schicksal seines Simplicissimus auf den Autor zu übertragen und in Grimmelshausen vor allem den ungelehrten Mann aus dem einfachen Volk zu sehen. Diese heute noch verbreitete Einschätzung ist jedoch keinesfalls haltbar. So unruhig die frühen Lebensjahre des 1621 oder 1622 im hessischen Gelnhausen geborenen Grimmelshausen auf Grund der Kriegsereignisse gewesen sein mögen – er hat sechs oder sieben Jahre die Lateinschule besucht, war belesen, hat in der Offenburger Kanzlei gearbeitet, war Sekretär der Regimentskanzlei der Schauenburger und gehörte nach seiner Heirat mit der Tochter eines angesehenen Zaberner Bürgers und späteren Ratsherrn in den Kreis der höheren Gesellschaft. Dass er später Gastwirtschaften betrieb (erst in Gaisberg, dann in Renchen), darf nicht darüber hinwegsehen lassen, dass er bis auf kleine Unterbrechungen auch einflussreiche Verwalterstellen innehatte (1649–60 als schauenburgischer ‚Schaffner‘, 1662–65 als Verwalter auf der Ullenburg; von 1667 bis zu seinem Tod im Jahre 1676 als Schultheiß in Renchen), also im Auftrag von Adelsfamilien als Wirtschafts- und Rechnungsführer fungierte, herrschaftliche Gelder eintrieb und verwaltete, die Polizeigewalt und niedere Gerichtsbarkeit ausübte. Auch wenn er in Renchen nachdrücklich für die Interessen der Bewohner eintrat, war er letztlich Vertreter der Obrigkeit gegenüber den Untertanen und durch sein Amt von der bäuerlichen und kleinstädtischen Bevölkerung distanziert. Schon früh griff er im Übrigen auf den Adelstitel seiner Familie zurück, und es ist bemerkenswert, dass unter seinen schriftstellerischen Arbeiten auch zwei höfische, Angehörigen des Adels gewidmete Romane zu finden sind. Sicherlich ist es richtig, dass Grimmelshausen ein Außenseiter insofern war, als er weder einen Platz in der exklusiven oberrheinischen Adelswelt noch eine formale akademische Ausbildung besaß; noch weniger aber zählte er zu den ‚einfachen Leuten‘; vielmehr war er – wie viele bedeutende Autoren des Barock – ein Angehöriger jener einflussreichen bürgerlichen Schicht, die sich mehr oder weniger eng mit der Lebenswelt der höfischen Gesellschaft verbunden hatte. Schon deswegen liegt es nahe, sein das Leben der untersten Gesellschaftsschichten einfangendes Hauptwerk als Fiktion zu lesen und nicht als Autobiographie.
Der Simplicissimus Teutsch erschien – stark mundartlich gefärbt – im Jahre 1668 und bestand zunächst aus den Büchern 1–5. Im Frühjahr 1669 folgte eine Continuatio. Ob Grimmelshausen sprachlich geglätteten weiteren Ausgaben zugestimmt hat, ist bis heute nicht geklärt. Wie das schon angesprochene, eine Vorrede ersetzende Titelkupfer und die kleine Vorrede der Continuatio erweisen, verstand er seinen Roman als Satire. (Schon 1666 hatte er sich in seinem Satyrischen Pilgrim rühmend auch auf Sorels satirischen Roman Francion bezogen.) Auch von den Zeitgenossen, etwa von Quirinus Moscherosch, ist Grimmelshausen vor allem als Satiriker gesehen worden. Dabei beabsichtigte er nicht, die Narrensatire eines Sebastian Brant (vgl. P. N., 2012 a, IV) und dessen auf Totalität zielende Narrentypologie nachzuahmen; vielmehr versuchte er, die Perspektive des Satirikers, der die Welt durchschaut, mit der des Picaro, der sich gewitzt auf sie einlässt, zu vereinbaren.
Der Perspektivenwechsel gehört zu den auffälligsten Erzähltechniken des Simplicissimus. Wie für den pikaresken Roman typisch, ist er in der Ich-Form erzählt. Durch sie soll nicht nur der gegen die unwahrscheinlichen Abenteuer des höfisch-historischen Romans gerichtete Anspruch des Authentischen, des ‚Selbsterlebten‘ betont werden; vielmehr ermöglicht die Ich-Form ein ironisches Spiel zwischen dem erzählenden und dem erlebenden (dem erzählten) Ich und auf diese Weise die Konfrontation zweier verschiedener Blicke auf die Welt. Einmal den Leser ganz in die Perspektive des erlebenden Ichs versetzend, kann der Erzähler doch im nächsten Moment die Perspektive des aus zeitlichem Abstand heraus erzählenden Ichs wählen, ironische Anmerkungen, moraldidaktische Reflexionen, gelehrte Exkurse einfügen und den Leser damit distanzieren. Da aber im Simplicissimus auch das erlebende Ich schon sehr früh ethische und religiöse Wertmaßstäbe kennen gelernt hat, fließen auch aus seiner Perspektive oft genug selbstkritische, sein nicht immer vorbildliches Verhalten begleitende Bemerkungen ein. So kommt es zu einem reizvollen Verwirrspiel zwischen einem mit Lust am Fabulieren mitgeteilten, neugierigen Interesse des erlebenden Ichs an der sündhaften Welt einerseits und moralisierenden Urteilen andererseits, das den Leser oft genug irritiert.
Irritierend wirkt – das spiegelt sogar noch die literaturwissenschaftliche Diskussion unserer Tage – auch die Struktur des Romans. Handelt es sich, der Tradition des Picaroromans entsprechend, um die parataktische Reihung exemplarischer, aber mehr oder weniger zufälliger Geschichten, oder folgt der Roman einem übergeordneten Kompositionsprinzip, z.B. – dies ist der interessanteste Erklärungsversuch99 – einer auf astrologischem Systemdenken beruhenden Anordnung seiner Teile, wonach die Planeten den Helden leiten – von der Anschauung der äußersten Beständigkeit (unter Saturn) über das Erlebnis trügerischer irdischer Güter (unter Jupiter und Venus) bis zur Einsicht in die Unbeständigkeit der Welt (unter Merkur und Mond)?100 Astrologisches Denken war dem Kalendermacher und Kalendergeschichtenschreiber Grimmelshausen – vgl. Des Abenteurlichen Simplicissimi Ewigwährender Calender, 1671101 – immerhin nicht fremd. Die sich auf die innere Struktur des Romans beziehende Kontroverse kann hier nicht nachgezeichnet werden.102 Nur ist zu fragen, ob die Erwartung künstlerischer ‚Einheit‘ und ‚Stimmigkeit‘ nicht eine Denkform der Goethezeit auf das 17. Jahrhundert projiziert. Der barocke Picaroroman war eher als an der ‚Geschlossenheit‘ des Aufbaus an einer ‚offenen‘ Form der Satire orientiert, die im Rahmen der fiktiven Autobiographie die widersprüchlichsten Aspekte der Wirklichkeit einzufangen vermochte und dafür auch unterschiedliche literarische Ausdrucksformen einsetzte.
Der Simplicissimus beginnt nach einleitenden Kapiteln als Narrensatire. Der kleine Simplicius, der, einst von plündernden Soldaten vom Hof seines Vaters vertrieben, im Wald bei einem Einsiedler Zuflucht gefunden hat und von ihm im Lesen und Schreiben und in der Christenlehre unterrichtet worden ist, kommt nach dessen Tod durch Zufall zum Stadtkommandanten nach Hanau. Hier ist er zunächst der ‚reine Spiegel‘, in dem die Sittenverderbtheit der Hanauer Offiziersgesellschaft erscheint. Wegen seiner Einfalt ins Kalbsfell, ins Narrenkostüm, gesteckt, beginnt er – in seiner neuen Rolle (d.h. in der alten Rolle des ‚weisen‘ Narren) der ‚Hofgesellschaft‘ die Wahrheit zu sagen, entlarvt Modetorheiten, Titelsucht, den hohlen Anspruch des Adels. Eines Tages wird er von umherstreifenden Kroaten entführt, und es beginnt nun eine Kette hier nicht im Einzelnen aufzuzählender pikaresker Abenteuer, während derer er seinen Freund Herzbruder gewinnt, sich, inzwischen in kaiserlichen Diensten, als ‚Jäger von Soest‘ einen Namen macht, später mit zwei Adligen nach Paris geht, dort in der höchsten Gesellschaft verkehrt, sich als Liebhaber vornehmer Damen erschöpft, an Blattern erkrankt, sich als Quacksalber wieder nach Deutschland durchschlägt, mit einem schwedischen Oberst nach Moskau gelangt, gegen die Tataren kämpft – usw. Zufälle jagen ihn, der inzwischen erfahren hat, dass er eigentlich adliger Herkunft ist und sein richtiger Vater der alte Einsiedel war, um die ganze Welt, bis er sich, wieder in Deutschland, im Schwarzwald nun selbst als Einsiedler niederlässt und der Welt entsagt. In der Continuatio wird Simplicius wiederum in Abenteuern gezeigt, findet aber endlich seine Ruhe in der Einsamkeit einer Insel.
Die Einsiedlerszenen rahmen den Roman ein und suggerieren eine Art Kreisstruktur. Sie kennzeichnen zugleich die weiteste Entfernung, die dem Menschen von der unbeständigen Welt erreichbar ist, einen gleichsam paradiesischen Zustand.103 Dazwischen liegt die Kette der Abenteuer, die das wechselhafte Glück, das ewige Auf und Ab des Lebens spiegelt. Die Unbeständigkeit des Lebens wird im Roman auch allegorisch veranschaulicht, in der steinernen Figur des ‚Baldanders‘, der Simplicissimus kurz vor dem Ende seiner Abenteuer in der Continuatio begegnet. Baldanders, der sich – seinen Namen zurecht tragend – vor den Augen des Helden dauernd in unterschiedliche Gegenstände verwandelt und sich als jemand zu erkennen gibt, der von Beginn an über dessen Leben gewacht hat, ist nicht nur als Schutzgeist des Simplicissimus, sondern als die „Allegorie der Picareske“ schlechthin zu verstehen.104 Nimmt man ernst, was er lehrt, dass nämlich nichts auf der Welt beständig ist als nur die Unbeständigkeit, und nimmt man auch den Weltverzicht des Helden am Ende des Romans ernst, so verbietet es sich, in diesem, wie häufig geschehen, den ersten deutschen Entwicklungsroman oder zumindest dessen Vorläufer zu sehen. Er ist weder das eine noch das andere. Auch wenn der Held im Laufe seines Lebens Erfahrungen sammelt, so dienen diese nicht dazu, die Anlagen eines Individuums allmählich zu entfalten; die Erfahrungen sollen nur die Einsicht in die Bedeutung christlicher Lebensmaximen verstärken, die der Einsiedel schon zu Beginn des Romans verkündet hat. Selbst wenn die Lebensführung eines Einsiedlers in Reflexionen auch problematisiert wird, etwa wenn Simplicissimus Zweifel an der Angemessenheit stiller Selbstzufriedenheit äußert und sich vom Postulat eines tätigen Lebens in der Gesellschaft und für die Gesellschaft angezogen fühlt, so ist dies eher ein Beleg für Grimmelshausens Interesse an der Wahrheitsfindung und lässt jedenfalls nicht den Schluss zu, er habe einen sich immer weiter differenzierenden Charakter darstellen wollen.
Wie stark das Gewicht der ausdrücklich belehrenden Anteile des Romans ist, zeigen die in ihn eingefügten ‚Einlagen‘. Zu ihnen gehört die allegorische Darstellung der Kriegsgesellschaft in der Traumvision des jungen Simplicius vom Ständebaum. An dessen Spitze steht ein adliger Kavalier, der mit ihm untergebenen Soldaten die Wurzeln des Baumes, die „ungültigen“ Leute, auspresst. Oberhalb dieser Wurzeln herrscht ein „unauffhörliches gegrabel und aufkletterns an diesen Baum“ (I,16), versucht jeder, in der militärischen Hierarchie einen oberen Platz zu gewinnen, regieren Missgunst und Korruption. Kritik an den Privilegien des Adels, dem die besten Plätze auf dem Baum vorbehalten sind, verbindet sich hier mit der Vorstellung von der Wandelbarkeit der Welt.
Solcher kritischen Betrachtung der Gesellschaft stehen verschiedene in die Zukunft oder in geographisch isolierte Räume verlegte Utopie-Entwürfe gegenüber, die als Gegenbilder gegenwärtiger Gesellschaftsordnung zu verstehen sind. Mit ihrer Hilfe vermag die Gesellschaftskritik besondere Schärfe zu gewinnen.105 In der sog. Jupiter-Episode (III,3–6) wird eine neue Friedensordnung entworfen, deren Voraussetzung die Abschaffung feudaler Herrschaft ist; zugleich aber wird diese Utopie, die in Einzelzügen an Morus’ Utopia (vgl. P. N., 2012 a, V) erinnert, selbst satirisch verspottet, werden Wunschvorstellungen als illusorisch enthüllt, so dass darüber gestritten worden ist, ob Grimmelshausen auf diese Weise letztlich die bestehenden Verhältnisse legitimiert. In der ‚Mummelsee-Episode‘ (V,13–15) wird das unterirdische Reich der Sylphen geschildert, in dem vollkommene Ordnung und vollkommene Freiheit herrschen; aber die Sylphen sind ohne Erbsünde, ihre Vollkommenheit ist nicht menschenmöglich. Nur wer die Prämissen menschlicher Existenz verleugnet, heißt dies, kann von einer derartigen Utopie träumen. Im dritten utopischen Entwurf dieses Romans, der Beschreibung des christlichen Lebens der ungarischen Wiedertäufer (V,19), fehlen sowohl die Ausflüge ins Phantastische als auch die satirischen Seitenhiebe. Aber es muss auch hier bezweifelt werden, dass Grimmelshausen in der auf einem optimistischen Menschenbild beruhenden vorbildlichen sozialen Organisation der Wiedertäufer, für die es in den Huterischen Gemeinden Mährens immerhin reale Entsprechungen gab, ein Modell sah, das überall in der Gesellschaft zu verwirklichen war. Auch dieser Entwurf sollte durch seine Funktion als Gegenbild wohl eher auf die Verbesserungsbedürftigkeit der zeitgenössischen Verhältnisse hinweisen. Sowohl die im Simplicissimus beschriebenen Utopie-Entwürfe als am Ende auch der Rückzug des Protagonisten aus der Gesellschaft sind von tiefen, sich immer wieder in satirischem Stil äußernden Zweifeln durchsetzt. Die Spannung zwischen der Hoffnung und dem Anspruch auf ein besseres Leben angesichts der zerrissenen Wirklichkeit, die dieser Roman des Dreißigjährigen Krieges zur Anschauung bringt, und der Flucht aus der Welt wird nicht aufgelöst; in beidem spiegelt sich die Sehnsucht nach einer gerechten Sozialordnung und nach Frieden.