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Geistliche, erbauliche, meditative Lyrik

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In die Gruppe der geistlichen, der erbaulichen, der meditativen Gedichte, um zunächst auf sie einzugehen, gehören die Texte der protestantischen und katholischen Kirchenlieder. (Sie sind im Kontext der Literatur der Kirche in dieser Literaturgeschichte [P. N., 2012 a, I] bereits angesprochen worden.) Auch Kirchenlieder sind ‚Gelegenheitsdichtung‘ oder ‚Zweckdichtung‘, wenn diese Begriffe weit genug gefasst werden, jedenfalls Texte in ‚dienender‘ Funktion. Im Protestantismus haben sie ihren festen Platz in der Liturgie, bekunden die Teilnahme der Gemeinde am Geschehen des Gottesdienstes und sind neben dem Gebet Ausdruck der Gläubigkeit jedes Einzelnen. Im Katholizismus ist ihre Rolle notwendigerweise geringer, da die vom Priester zelebrierte Messe eine von der Teilnahme der Gemeindemitglieder unabhängige heilige Handlung ist; dennoch sind sie außerhalb der Liturgie (die sie umrahmen) Bestandteil des Gottesdienstes. Da in ihrer überwiegenden Mehrheit auch die Kirchenlieder des 16. und 17. Jahrhunderts Produktionen humanistisch gebildeter Bürger waren, schlugen sich in ihnen auch deren rhetorische Kenntnisse nieder. Auch die Kirchenlieder dieses Zeitalters sind nach den ‚Regeln der Kunst‘ gemacht, auch wenn sie, wie bei Paul Gerhardt, dem berühmtesten protestantischen Kirchenlieddichter nach Luther, manchmal auch Züge volksliedhafter Schlichtheit tragen – wie etwa sein Lied Geh aus mein Herz, und suche Freud – und daran erinnern, dass Gottesdienste ihrem Wesen nach keine Exklusivveranstaltungen für die gebildeten Gesellschaftsschichten waren. Dennoch ist die Freude an der Natur, die Gerhardt gerade in dem genannten Lied ausspricht, noch ganz die bewundernde (distanzierte) Freude an Gottes Schöpfung und wird die Natur selbst als Emblem verstanden, als zu deutendes Zeichen des Göttlichen, nicht etwa als Mittel zum Zweck der Veranschaulichung eines subjektiven Empfindens (Str. 1 entspricht der Inscriptio, das Naturbild der Str. 2–7 der Pictura, die Str. 8–11 und 12–15 dienen als erste und zweite Subscriptio und erklären den verborgenen Sinn). Im Übrigen aber verzichtet Gerhardt hier auf eine gesteigerte Metaphorik, mythologische Ausschmückungen oder zugespitzte Pointen und erreicht damit, dass das Lied leicht eingängig wirkt.112 – Ein Gespür dafür, dass übertriebene rhetorische Verzierungen eigentlich im Widerspruch zum Sinn von Gottesdiensten stehen, hatte nicht nur ein Paul Gerhardt oder schon vor ihm ein Johannes Heermann, sondern auch der Jesuit Friedrich Spee, der bedeutendste Kirchenlieddichter des 17. Jahrhunderts auf katholischer Seite (Trutz Nachtigal, 1649). Auch bei ihm finden sich wie bei Gerhardt idyllische Naturszenerien, um das Lob der Schöpfung singen zu können. Thematisch im Mittelpunkt aber steht die Jesusminne, für deren sehr sinnliche Schilderungen Motive der petrarkistischen Liebesdichtung und der Mystik verwendet werden.

In der Lyrik Daniel Czepkos (Sexcenta Monodisticha Sapientium, entstanden 1640–47), Johannes Schefflers – bekannt als Angelus Silesius – (Geistreiche Sinn- und Schlussreime, 1657; seit 1674 in einer erweiterten Ausgabe unter dem Titel Cherubinischer Wandersmann), Catharina Regina von Greiffenbergs (Geistliche Sonette, Lieder und Gedichte, 1662) und Quirinus Kuhlmanns (Kühlpsalter, 1684–86) spielt der unmittelbare kirchliche Verwendungszweck keine Rolle. Aber auch diese stark von der Mystik geprägten Dichter schrieben insofern wirkungsbewusst, als sie ihre Leser in meditatives ‚Nachdenken‘ versetzen wollten. Sie alle, mehr oder minder von Jakob Böhme beeinflusst, standen vor dem (in P. N., 2012 a, I) schon ausführlich behandelten Paradox, das eigentlich Unsagbare der mystischen Begegnung des Menschen mit Gott sprachlich vergegenwärtigen zu wollen, was sie zu sehr unterschiedlichen Versuchen sprachlicher Gestaltung führte.

Czepko und Silesius bemühten sich in den von ihnen bevorzugten Alexandriner-Epigrammen um kunstvolle, aus Antithesen entstehende Pointen und suchten mit dem Chiasmus und dem Paradoxon die Einheit der Gegensätze im mystischen Erlebnis sinnfällig zu machen, wobei sie immer wieder die Einswerdung von Gott und Mensch thematisierten:

Gott: Mensch:
und
Mensch: Gott.

Mensch kleide dich in Gott: Gott wil sich in dich kleiden,

So wird dich nichts von Ihm, auch Ihn von dir nichts scheiden.

(Czepko)113

Ich bin wie Gott, und Gott wie ich

Ich bin so gross als Gott, er ist als ich so klein;

Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.

(Silesius)114

Catharina von Greiffenberg gewann ihre künstlerische Unverwechselbarkeit dagegen aus ihrem Hang zur Analogiebildung und aus ihrem bildhaften Sprechen, wobei die metaphorisch zusammengesetzten Substantive und Adjektive besonders auffällig sind (Wort-Safft, Wahrheits-Sonne, Leidens-Blei; seel-gesund, lieb-erkrankt usw.). Sie verstand die Welt als Leib Gottes und sah die Aufgabe des Dichters darin, die Herrlichkeit dieses ‚Leibes‘ zu ‚reffektieren‘ und den Menschen alle Sinnesorgane für seine Wahrnehmung zu öffnen, sie zum Sehen, Fühlen, Schmecken des Göttlichen zu überreden. So entstand beispielsweise ein (möglicherweise auch heute schockierend wirkendes) Gedicht wie das folgende, das Vorstellungen evoziert, die zugleich ganz sinnlich und ganz spirituell sind, die Oralerotik und Theologie in Übereinstimmung bringen, aber doch voneinander getrennt bestehen lassen:

Ich will ein Bienlein sein, dem Jesus-Klee zufliegen.

Auror’ und Titan ich laß ruhig schlafen liegen;

Das selbste Feder-Volk noch schlummert auf dem Ast,

Da ich zu schiffen schon durch Lüfte bin gefaßt

Nach meinem Blumen-Port. Die Purpur-Perlen scheinen

Den Sternen selber vor mit ihren Himmels-Feinen.

Sie machen seel-gesund, doch tödlich lieb-erkrankt.

Sie löschen Höllen-Glut, entzünden, daß es fankt,

Das Feur der Dankbarkeit. Ich setze ganz mit Zittern

Die Zunge gierig an, besorge, anzubittern

Den schon erz-großen Schmerz; saug also fein gemach

Das Mark des Himmels ein. O angenehme Sach!

Ich saug der Gottheit Saft. Ich trink den Bronn der Sonnen.

Der Geist der selbsten Stärk kommt hier in mich geronnen.

Der Drei- und Einheit-Klee gibt hier sein Honig her.

Wenn man die Allheit hat, was will und wünscht man mehr?115

Der ungewöhnlichste unter den Verfassern geistlicher Lyrik im 17. Jahrhundert war Quirinus Kuhlmann, der sich selbst als Propheten und seine Dichtung als Prophetie verstand. In manischer Selbstbezogenheit war er ständig auf der Suche nach der heilsgeschichtlichen Bedeutung seiner Biographie und fand die Bestätigung für seine Erwähltheit als ‚Figur‘ Christi in seiner Fähigkeit, Gottes Offenbarung in der Sprache zu erkennen. Über die Lautformen der Wörter meinte er dem Wesen der bezeichneten Gegenstände auf die Spur zu kommen, denn für ihn bezeichneten die Laute die Dinge nicht nur, sie ‚sagten‘ sie wirklich. Sprache war für ihn die Wiederherstellung der Schöpfung im Wort. Im Sündenfall ging nach dieser merkwürdigen Theorie diese Sprache, in der Laut und Bedeutung eins waren, weitgehend verloren, und Aufgabe des Dichters war es nun, dem verlorenen adamitischen Sprachzustand nachzuspüren, ihn wiederzufinden, ihn in der Poesie womöglich wiederherzustellen. Dabei richtete Kuhlmann sein Augenmerk besonders auf Namen (insbesondere auf den eigenen), auf die benennenden Substantive und Adjektive und suchte in ihnen nach Sinn. So entstanden Gebilde, die – etwa durch den exzessiven Gebrauch des Polyptotons – deutlich die Zeichen des Manierismus tragen:

Klahrwerde von dem klahrem klahren,

Des klährstenklährstenklahrauffahren,

Das klährer seine klahrheit klährt,

I klährer klahr sein klahr gebährt.

Schöpff ewigst klahr vom klahrtriangel,

Da klahr im klahr wächst ohne mangel,

Im klahrstenklahrstenklahrsten meer

Der klährstenklährstenklährsten klähr,

Di ewigewigewigst klährer

Wird ihrer klahrheit selbstgebährer.116

Wer meint, dass diese Art von Lyrik auf Sprachexperimente des 20. Jahrhunderts wie die ‚konkrete Poesie‘ vorausweise, muss bedenken, dass die poetische Arbeit mit der ‚Sprache als Material‘ heute jedenfalls nicht von dem Wunsch getragen wird, über die Sprachzeichen dem Geist Gottes näher zu kommen. Das ‚tertium comparationis‘ liegt allenfalls im Verzicht auf Kommunikation.

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