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Lohenstein und die barocke Affektenlehre

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Von der – letztlich religiös fundierten – ethischen Rigorosität, mit welcher der obrigkeitstreue, den Absolutismus als notwendige Ordnungsmacht begreifende Gryphius die Fürsten in ihrem politischen Handeln auf das Naturrecht verpflichtete, ist bei Casper David von Lohenstein, dem zweiten bedeutenden ‚schlesischen‘ Dramatiker, nichts zu spüren. Vielmehr gilt Lohenstein in der neueren Forschung, die auf die Bindung der schlesischen Dramatiker an die zeitgenössische staatsrechtliche Diskussion erst aufmerksam gemacht hat,81 als Anhänger derer, die – wie Bodin oder Lipsius – dem Staat für die Realisierung von Rechtsordnungen und zur Sicherung des allgemeinen ‚Heils‘ ein gewisses Maß an Unrecht zubilligten, falls politische Zwänge dies erforderten.

Lohensteins Lebensweg ist dem von Gryphius nicht unähnlich. 1635 in Nimptsch als Sohn eines kaiserlichen Steuereinnehmers geboren, erhielt er seine gymnasiale Ausbildung auf dem Magdalenäum in Breslau, wo er am Schultheater nicht nur als Mitspieler, sondern auch schon als Autor (mit seinem um 1650 entstandenen Stück Ibrahim (Bassa)) mitwirkte, studierte Jura in Leipzig und Tübingen, unternahm Bildungsreisen nach Holland, Frankreich, Italien und lernte Sprachen, kehrte 1657 nach Breslau zurück, wo er sich als Anwalt niederließ, und wurde 1670 Syndikus, 1675 schließlich – bis zu seinem Tode 1683– Obersyndikus der Stadt, der er bei Verhandlungen am Kaiserhof loyal diente. Deutlicher als bei Gryphius ist bei Lohenstein die Orientierung am Lebensstil des Hofmanns zu erkennen. Die Nobilitierung seiner Familie (1670 erhielt sein Vater das erbliche Adelsprädikat) dürfte er selbst betrieben haben, und auf den neu erworbenen Adelstitel legte er besonderen Wert; 1675 wurde er dank seines diplomatischen Geschicks sogar zum Kaiserlichen Rat ernannt. Besonders auffällig ist seine „wohlüberlegte Widmungspolitik“:82 So hat er nicht nur Angehörigen des Piastenhauses einige seiner Werke zugeeignet und u.a. eine Lob-Schrifft (1676) auf den früh verstorbenen Herzog Georg Wilhelm verfasst, er hat auch Kaiser Leopold I. insofern gehuldigt, als er in den Reyen einzelner seiner Dramen an die auf das ‚Buch Daniel‘ zurückgehende Vier-Monarchien-Lehre und an die Vorstellung von der Translatio Imperii anknüpft und die nach dieser Vorstellung sinnhaft fortschreitende Weltgeschichte unter dem Habsburger Leopold an ihr Ziel gelangen lässt – in der 2. Fassung seines Trauerspiels Cleopatra (1680) wird Leopold im Schlussreyen mit Augustus verglichen. Die deutlichste – politisch klug kalkulierte – Reverenz dem Kaiserhaus gegenüber ist wohl das anlässlich der Vermählung Leopolds entstandene Festspiel Ibrahim Sultan (1673), das den Kampf Österreichs gegen die Türken offen unterstützt, indem es das Türkische Reich als Reich des Antichrist erscheinen lässt und die habsburgisch-österreichische Monarchie als eine Art zweites Paradies vorstellt.

Lohensteins literarischen Ruhm begründeten die beiden ‚afrikanischen‘ Trauerspiele Cleopatra (Erstdruck 1661) und Sophonisbe (entstanden vor 1666, Erstdruck 1680) sowie die beiden ‚römischen‘ Trauerspiele Agrippina (Erstdruck 1665) und Epicharis (Erstdruck 1665). Sie galten wegen der in ihnen dargestellten und auch auf offener Bühne gezeigten Gräuel, die von Inzest und Vergewaltigung bis zu Folter, Hinrichtung und Verwandtenmord reichen, lange Zeit als besonders schockierende Beispiele eines Theaters der Grausamkeit, ohne dass man immer wahrnahm, dass all die an Figuren höchsten Standes vorgeführten Lasterexempel letztlich pädagogischen und politischen Intentionen dienten, unter anderem – gleichsam ex negativo – der Huldigung desjenigen Fürsten, der seine Affekte zu beherrschen in der Lage ist und dadurch seinen Untertanen Frieden zu sichern vermag.

Dieses Verständnis der Lasterdarstellungen Lohensteins erwächst aus einer Betrachtung der barocken Affektenlehre,83 nach der die Darstellung von Affekten zugleich ein Mittel der Affektschulung und sogar der Affekttherapie sein kann. In der Diskussion hierüber freilich kamen unterschiedliche Traditionszweige zur Geltung. Das Vertrauen der antiken Moralphilosophen (Platon, Aristoteles, Cicero) in die Kraft der Vernunft, die sich die Affekte zu unterwerfen habe, wurde im 16. und 17. Jahrhundert nicht ohne weiteres geteilt; zu stark wirkte die Auffassung Augustins, der die antike Affektenlehre mit dem christlichen Erbsündedogma zu vereinbaren gesucht hatte. Nach Augustin haben die Affekte ihren Ursprung im Sündenfall. Durch ihn, durch die Abwendung des Menschen von Gott, sind die Rangverhältnisse von Leib, Seele, Vernunft durcheinander geraten, und die Affekte, die Diener der Seele, haben ihren Gehorsam sowohl gegenüber der Seele als auch gegenüber der Vernunft aufgekündigt. Damit aber muss dem Menschen die Beherrschung seiner Affekte aus eigener Kraft misslingen; er ist auf die göttliche Gnadenzuwendung angewiesen, kann sich allenfalls durch Askese vor den von den Affekten beeinflussten Versuchungen des ‚verderbten Fleisches‘ wappnen. Diese Ansicht war nicht nur im gegenreformatorischen, sondern auch im protestantischen Lager weit verbreitet. Lohenstein teilte sie nicht.

Für ihn, der wie kein anderer Dramatiker des 17. Jahrhunderts (und wohl der ganzen deutschen Literaturgeschichte) die Macht und das Spiel der Affekte vor Augen geführt hat, war die Gefahr, die er von ihnen ausgehen sah, auch ohne gläubige Zuwendung zu Gott und ohne dessen Gnadenerweis zu bewältigen, waren die von den Affekten verursachten Gemütskämpfe vielmehr eine Herausforderung an die menschliche Vernunft und Tugend. Insofern war er eher an der aristotelischen Seelenlehre orientiert, nach der Affekte weder als gut noch als böse zu beurteilen sind, sondern immer nur das zu loben oder zu tadeln ist, was die Vernunft als die höchste und herrschende Instanz im leiblich-seelischen Ganzen des Menschen aus ihnen macht. In Lohensteins Dramen werden die Affekte daher auch keineswegs grundsätzlich denunziert. Sie können durchaus nützliche Funktionen haben, können Triebräder der Selbstbehauptung des Einzelnen und seines Handelns im Dienste des Gemeinwohls sein.84 Gerade weil Lohenstein sich als Fürsprecher der Natürlichkeit der Affekte verstand, konnte er zugleich auch ihre Abgleitungen ins Widernatürliche ins Auge fassen, die für ihn immer dann eintreten, wenn die Vernunft es unterlässt, gegenüber starken Lusterfahrungen, wie der Liebe oder der Ehrsucht, ihre Superiorität zu behaupten. Wenn er in seinen afrikanischen und römischen Trauerspielen gerade auch die gravierenden politischen Folgen veranschaulichte, die Wollust und Grausamkeit als unkontrollierte Affekte hervorrufen können, so hoffte er dabei auf die Fähigkeit seines Publikums, die Fehler der Protagonisten zum Anlass zu nehmen, sich der eigenen Affekte bewusst zu werden und deren Beherrschung zu üben. Dieser pädagogische Wirkungszweck seiner Spiele erklärt zugleich, warum sie nicht nur in größeren Sälen der Stadt oder separat am Hofe, sondern eben auch und vor allem auf der Bühne des Schultheaters aufgeführt werden konnten. Wie die Zuschauer tatsächlich auf die extremen Affektdarstellungen Lohensteins reagierten, muss offen bleiben. Die Ergebnisse heutiger Wirkungsforschung85 stehen dem bei ihm zu erkennenden pädagogischen Optimismus zumindest insofern entgegen, als – in vorsichtiger Formulierung – wohl auch im 17. Jahrhundert die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich bei manch einem (auch der gebildeten und rhetorisch versierten) Rezipienten seiner Stücke die pure Lust an den Reizwirkungen dargestellter Begierden und Grausamkeiten verselbstständigt und die kritische Reflexion geradezu blockiert hat.

Die Affektdarstellungen Lohensteins verweisen freilich nicht allein auf die Gefährlichkeit der unkontrollierten vitalen Leidenschaften als solcher, sondern auch auf die Gefährlichkeit ihres theatralischen, für trügerische Zwecke genutzten Einsatzes. Dass mit Hilfe vorgetäuschter Affekte auch Verständige irregeleitet werden können, ist ein in seinen Trauerspielen durchgängiges Motiv. Gerade politisch zwielichtige Figuren wie Cleopatra, Sophonisbe, Agrippina, nach denen Stücke betitelt sind, verstehen es meisterhaft, Affekte zu erregen und beziehen die Täuschungsanfälligkeit ihrer Gegenspieler in ihr Kalkül ein. Hierin spiegelt sich der Sinn für Theatralik und Rollenspiel, der mit der schon ausführlich beschriebenen höfischen Lebensform einhergeht. Für Lohenstein war in dieser Hinsicht die Unterscheidung zwischen Dissimulation und Simulation von Bedeutung, die durch den von ihm geschätzten spanischen Diplomaten Diego Saavedra Fajardo (Idea de un Príncipe Político-Cristiano Representada en Cien Empresas, 1640; 1655 ins Deutsche übertragen) nach Deutschland vermittelt und von Gracián, den Lohenstein als Erster ins Deutsche übersetzte, ausgebaut worden war. Mit Dissimulation bezeichneten die Spanier das für sie legitime Verschweigen der Wahrheit bzw. der eigenen Absichten, während ihnen die Simulation, die bewusste Verdrehung der Wahrheit, die Lüge, als mit den christlichen Wertvorstellungen nicht vereinbar galt. Wenn Lohenstein beide Spiel arten dieses auf die Affekte bezogenen Rollenverhaltens vorführte, so vornehmlich, um seine Zuschauer und Leser zu lehren, es zu durchschauen – bei anderen und bei sich selbst. Der Theatralik der Affekte mit Hilfe der Klugheit (der ‚prudentia‘) entgegentreten zu können, war nach seiner Auffassung zumal für den Herrscher unverzichtbar – in seiner schon erwähnten Lob-Schrifft wird dies nachdrücklich dargelegt. Anders als bei Gryphius also, dessen Dramen die Beständigkeit als Wertvorstellung hervorheben, dient Lohensteins Theater der Erprobung von Bewusstseinsfunktionen und liegt sein wichtigstes ‚Bildungsziel‘ in der Vermittlung eines Verhaltens, das sich um den Ausgleich zwischen Tugendhaftigkeit und praktischer Weltklugheit bemüht.

So wie sich mit dem Blick auf die Diskussion über die Affekte und auf Lohensteins Einbindung in diese Diskussion das in der Rezeption seiner Stücke schon früh einsetzende Missverständnis aufklären lässt, sie zeigten seelische Reizungen, Leidenschaften und Grausamkeiten in geschmackloser Weise nur um ihrer selbst willen, so ist auch einem anderen, schon seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer wieder geäußerten Einwand gegenüber seinen Texten von vornherein zu begegnen. Als einer der Ersten beklagte Breitinger (1740) die ‚schlimme‘ Schreibart Lohensteins, die durch die maßlose Verwendung „unnützlicher, ungeheurer und unanständiger Gleichnisse“ gekennzeichnet sei,86 und seitdem hat die Kritik an seinem übertriebenen, üppigen, schwülstigen, manieristischen Stil nicht mehr aufgehört. Doch ist dabei – wie die neuere Barockforschung verdeutlicht hat87 – immer übersehen worden, dass Lohensteins Stil an die Intention seiner Affektdarstellungen gebunden ist und zugleich unter dem Gesichtspunkt der Affekterregungs-Rhetorik eingeschätzt werden muss. In der Tat ist Lohensteins Dramensprache voller Worthäufungen und -verdoppelungen, intensivierender Adjektive, antithetischer Setzungen, Metaphorisierungen und anderer Tropen. Das Manieristische, das hierin stets gesehen worden ist, aber dient bestimmten Zwecken. Lohenstein, der sich so sehr auf die Vergegenwärtigung der Affekte seiner Protagonisten konzentrierte, versuchte, die Affekte jeweils in ihrem ganzen Wesen zu veranschaulichen. So ist beispielsweise die Liebe eben „Seelen-Liebreitz“, „begierliche Hertzneigung“ oder „rasend=tolle Brunst“. Ganz wichtig ist ihm die Schilderung der körperlichen Ausdrucksbewegungen, die als äußere Zeichen die Gefühle der Figuren begleiten und von diesen an sich selbst und an den anderen wahrgenommen werden:

Warumb bebt Hand und Fuß? Der Angst-Schweis bricht mir aus.

Ich wath’ in Sand und Flutt/und steh auf Brand und Graus!

Welch Schauer überläufft die Eiß-gefrornen Glieder?

Das Haar steht mir zu Berg’/ich sincke Kraft-los nieder.

Hilf Himmel! Ich erstarr! ach. Was hab ich gethan?

(Agrippina V,391ff) 88

Die Vernunft des Protagonisten (Neros) hat an dieser Stelle die Herrschaft über seine Affekte verloren, sein Körper wird gleichsam zur Marionette der kranken Seele. – Im Sinne der Simulation können körperliche Erregungszustände natürlich auch vorgetäuscht werden – wie z.B. von Agrippina in der berühmten Inzestszene bei der Verführung Neros, ihres eigenen Sohnes:

Schau/wie der Seele Dampf in Thränen schon zerflüße

Die Lippe schwitzet Oel und Balsam heisser Küsse!

Die rothe Flamme krönt der Brust geschwellte See; …

(Agrippina III,241f.)

Die Sprache dient hier der Suggestion und betrügerischen Taktik, und der Zuschauer/Zuhörer soll erkennen, wie wirksam rhetorische Mittel zur Affekterregung eingesetzt werden können. Lohensteins manieristische Dramensprache muss in ihrer Funktionalität gesehen werden, will man über das Klischee der ‚Schwülstigkeit‘ hinausgelangen.

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