Читать книгу Die erste Verlobte - Ruth Berger - Страница 10
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ОглавлениеEine nach der anderen der europäischen Nationen ließ ihre Flotte in die Neue Welt segeln, als hätte man nur daraufgewartet, auf gut Glück exotische Meere zu durchkreuzen und sich gegenseitig mit Kanonenkugeln zu beschießen, wenn man zufällig aufeinander traf. Dieser merkwürdige Zeitvertreib hielt Lieutenant Steele, wie so viele andere, fur Jahre beschäftigt und fern von seiner Familie – mit der Ausnahme eines Heimaturlaubs von ganzen zehn Tagen.
Ein Jahr nach diesem Landgang erhielt er einen Brief seiner Frau, worin sie ihm mitteilte: Er habe seit kurzem eine zweite Tochter namens Lucy.
Die Geburt des Mädchens traf Charlotte Steele hart. Fast war sie ungläubig in ihrer Verzweiflung, wie sie es beim Tod Arthurs gewesen war. Wieder und wieder prüfte sie das Geschlecht des Kindes im Glauben, der erste Anschein müsse sich als Täuschung erweisen. Während ihrer Schwangerschaft hatte sie die Möglichkeit gar nicht erwogen, sie könnte eine Tochter austragen, sie, die so sehr auf einen Sohn hoffte und der gegenüber das Schicksal geradezu verpflichtet schien, Ersatz für den zu schaffen, den es ihr entrissen hatte. Für ein Mädchen wollte ihr nicht einmal ein Name einfallen.
Es war die Nachbarsfrau, welche ihr in den Tagen nach der Geburt ein wenig zur Hand ging, die schließlich in ihrer ungebildeten Art sagte: «Liebes, du kannst die Kleine William oder Richard nennen, aber ein Pieselmann wird ihr trotzdem niemals wachsen. Nenn sie doch Lucy, das ist hübsch, das passt zu ihr.»
Wie sich bald herausstellte, war Mrs. Steele doppelt gestraft. Schlimm genug, dass sie ein Mädchen geboren hatte, das nur kostete und nichts einbrachte. Aber wenn es wenigstens ein stilles, schläfriges Bündel gewesen wäre wie ihre liebe Nancy im selben Alter! Doch nein, Lucy führte sich von Anfang an als rechter Quälgeist auf, war Tag und Nacht hungrig und biss ihre Mutter schmerzhaft in die entzündeten Brüste, während sie trank.
Nachdem Charlotte dies alles drei Wochen lang geduldig erlitten hatte, verspürte sie, dass die unersättliche Gier des Kindes ihre eigenen Kräfte in gefährlicher Weise anzugreifen begann. So gab sie Lucy, wie es sich, bei aller Not, auch gehörte, zu einer Amme und opferte dafür die zweite Küchenmagd (die längst wieder eingestellt worden war). Sie ließ ihre Tochter aber nicht volle drei Jahre bei der Amme, wie es sonst üblich war. So früh wie irgend möglich, nach acht Monaten schon, nahm sie das Kind zurück (und dingte eine neue zweite Magd).
Leider musste sie feststellen, dass Lucy, die beträchtlich gewachsen und von der vulgären Amme wahrscheinlich verzogen worden war, mehr noch als ehedem eine Plage darstellte, indem sie beinahe zweistündlich lauthals nach Nahrung verlangte. Um das Kind Manieren, Gehorsam und Mäßigung zu lehren, stellte sie sich taub und gab ihm nie anders als nur zu den Hauptmahlzeiten zu essen. Doch alle Mühen Mrs. Steeles machten die kleine Lucy nicht zu einem stillen, wohlerzogenen Wesen. Sie blieb gierig, frech und über die Maßen kräftig, und kaum wurde sie nicht mehr mit dem Band fest gewickelt, lief und kroch sie ohne Hilfe treppauf, treppab im Haus umher, wild wie der Junge, der sie nicht war, und wurde der Schrecken ihrer leidgeprüften Mutter. Was sie in die schmutzigen kleinen Finger bekam, zerkaute, besudelte oder versteckte sie. Wurde sie ihrer zerstörerischen Exkursionen durch das Haus endlich müde, so saß sie oft für Stunden in der kleinen Wohnstube breitbeinig auf dem Boden wie ein Türke, gab sich sinnlosem, albernem Spiel mit einem Löffel, einem Bindfaden oder einem anderen gestohlenen Gegenstand hin und war ein dauerndes Ärgernis für jeden Menschen, der sich in dem Raum aufhielt. Unaufhörlich brabbelte, plapperte oder sang sie leise vor sich hin, und die seltenen Momente, in denen ihr kindischer Monolog einmal abriss und tiefe Stille den Raum erfüllte, waren jene, wenn Lucy dabei war, einen besonders bösen Streich zu begehen.
In einem solchen Augenblick ominöser Ruhe gelang es ihr einmal, der Mutter die einzige gute Porzellanteekanne in tausend Scherben zu werfen. Die Kanne war, noch halb voll mit Tee, zum Abräumen auf einem Servierwagen abgestellt, auf dem sich auch ein Korb mit einigen Scheiben Brot befand. Von diesem gedachte Lucy zu stehlen. Sie hielt sich, während sie mit der einen Hand versuchte, an den Brotkorb heranzureichen, mit der anderen am Rand des Wagens fest, zog sich an ihm hoch, bis dieser ins Wanken geriet, kippte und die kleine Übeltäterin unter sich begrub. Mrs. Steele, von einem gellenden, spitzen Schrei ihrer Tochter aufgeschreckt, der ihr fast das Trommelfell zerriss und nichts Gutes bedeuten konnte, hetzte in die Küche und fand neben dem gekippten Wagen einen Berg von ehemals sauberem, nun teebeflecktem Leinen, Scherben und Brot, daneben die freche, unachtsame Magd, die sich erschrocken die Hand vor den Mund hielt. Da rührte sich der Scherbenhaufen, und darunter hervor kam Lucy gekrochen, fidel und ohne auch nur eine Beule am ganzen Körper. «Der Teufel schützt die seinen», bemerkte dazu wie im Scherz die Magd, und Mrs. Steele bedauerte im Stillen, dass der Tee nicht mehr heiß gewesen war, denn eine Verbrühung hätte dem Kind eine heilsame Lehre bedeutet. Obgleich ihr von der Arbeit des Tages Kopf und Glieder schmerzten und eine bleierne Müdigkeit sie niederdrückte, sandte sie die Magd zur Nachbarin, deren Peitsche auszuborgen, um damit ihre jüngere Tochter zu züchtigen. Mit ganzer Kraft hieb sie auf das Mädchen ein, während die Magd es hielt, sodass sich offene, rote Striemen auf seinem Rücken bildeten. Mrs. Steele war danach ganz außer Atem, und das Herz klopfte ihr zum Zerspringen. Niemals hatte ihr die Erziehung der stillen, genügsamen Anne solche Mühen bereitet wie nun die Lucys. Am liebsten hätte sie sich des ungestümen Wechselbalges im nächsten Waisenhaus entledigt, doch sie wusste, es war ihr eine vom Schöpfer auferlegte Pflicht, alles zu versuchen, auch aus der kleinen Wilden einmal einen guten, anständigen Christenmenschen zu machen.