Читать книгу Die erste Verlobte - Ruth Berger - Страница 9
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ОглавлениеIhr zweites Kind war ein Junge, was sie als ein großes Glück ansah. Ein Junge, so schrieb sie ihren Eltern und ihrem Mann, verursache gottlob bei der Verheiratung viel weniger Kosten als ein Mädchen. Insgeheim war es ihr fast, als habe sie den Heiland geboren, wobei ihr Sohn freilich nicht die ganze Christenheit, sondern nur seine Mutter erlösen sollte. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, würde er der Erbe von Wistlinghurst werden! Noch immer besaß ja Mr. Lawrence Steele keine Kinder. Mit Gottes Hilfe, so rechnete sich Charlotte aus, könnte ihr Junge später, wenn sie alt wäre, seiner Mutter eine kleine Pension aussetzen, oder sie würde in Wistlinghurst bei ihm wohnen. Ihrem Mann schrieb sie von diesen Gedanken nichts, doch sie bedeuteten ihr einen großen Trost. Inzwischen hegte sie nämlich die Befürchtung, es sei beinahe sicher, dass sie einmal auf die Hilfe anderer angewiesen wäre.
Aber ihr Sohn war nicht zum Leben bestimmt. Noch kein Jahr alt, verschied er an einer immer wieder aufflammenden Erkrankung der Eingeweide, wie sie in jenem Viertel Plymouths fast alle Kinder regelmäßig heimsuchte und leider viele von ihnen vom Leben zum Tode brachte. Charlotte Steele war schwer getroffen und konnte lange nichts anderes tun als weinen.
Doch in der Blüte einer Jugend schlägt das Schicksal nur selten so zerstörerisch zu, dass keine Hoffnung auf künftiges Glück mehr bleibt. Es fügte sich, dass der Lieutenant nach seiner Degradierung nicht wieder in die Kolonien entsandt worden war, sondern seinem König auf einem Schiff der Kanalflotte diente, was ihm in diesen Zeiten, in denen der kommende Krieg kaum mehr als die erwähnten Schatten warf, zwar wenig Gelegenheit gab, sich im Kampfe auszuzeichnen und rasch befördert zu werden, aber dafür umso mehr, bei Landgängen seine Frau aufzusuchen. So ging es, wie es in solchen Fällen häufig zu gehen pflegt: Der sehnliche Wunsch nach einem zweiten Sohn, durch den Tod des ersten geweckt, trug so prompt und pünktlich Früchte, dass die junge Mrs. Steele nicht ein Jahr später das wohlgeratene Resultat in den Armen halten durfte.
Sie hatte das Wochenbett noch nicht verlassen, da fasste sie den Entschluss, sobald sie aufstehen könne, aufs Land zu fahren. Unverzüglich schickte sie die Magd nach Papier und Tinte und verfasste einen Brief an ihre Eltern, in welchem sie ankündigte: Sie wolle aus Gründen der Gesundheit die nächsten ein bis zwei Jahre mit ihren Kindern in ihrem Elternhause verbringen.
Es gibt bei Ihnen in Woodham – schrieb sie – jeden Tag des Jahres eine solch gute, reine Luft, dass man darüber gar nicht nachdenkt und sie für das Selbstverständlichste auf der Welt hält. Als ich noch in Surrey lebte, glaubte ich, dass es selbst dem elendesten, heruntergekommensten der Untertanen Seiner Majestät an guter Luft nicht mangeln könne. Doch hier in Plymouth, jedenfalls diesseits des Tamar, mangelt es daran fast jedem. Wir alle, die wir hier leben, sind gezwungen, entweder das Atmen gleich ganz einzustellen oder aber jene verpesteten Dämpfe in uns aufzunehmen, die aus dem Hafenbecken und den Gassen in die Häuser dringen. Ich versichere Ihnen, diese zweite Methode mag die langsamere sein, doch sie führt genauso unausweichlich zum Tode wie die erste. In meinem geplagten Mutterherzen bin ich überzeugt, mein George würde noch leben, hätte ich nicht zugelassen, dass er diesen todbringenden Pesthauch einatmete. – Aus Schaden klug geworden, will ich meinen Fehler nicht wiederholen und meinen kleinen Arthur in Bälde von hier fort und nach Woodham bringen, wo das Klima, die Luft und die ganze Umgebung dem Gedeihen von Kindern um so vieles zuträglicher sind als in Plymouth.
Reverend Pratt, der als viel beschäftigter Geistlicher seiner Frau jede Woche eine ganze Predigt zu diktieren hatte und zu Weihnachten sogar zwei, war stets der Meinung gewesen, das Verfassen von Briefen zerrütte seine für höhere, wichtigere Aufgaben benötigte Konzentration derart, dass es ihm nicht zugemutet werden könne. Er pflegte es deshalb seiner Frau zu überlassen. Diesmal jedoch ahnte er, er müsse die Antwort eigenhändig in Worte kleiden, denn ein geringerer Geist als der seine schien ihm einer solchen Aufgabe nicht mächtig.
Meine liebe Charlotte – diktierte er -, dein örtlicher Apotheker kann keine Kapazität auf seinem Gebiet sein, sonst hätte er dir nicht derart unsinnige, ja schädliche Flausen in den Kopf gesetzt, wie dein Haus und deinen Mann zu verlassen und mit einem empfindlichen Säugling, Gott bewahre, weite Reisen zu unternehmen. Sind wir denn im Mittelalter, dass du glaubst, schlechte Gerüche könnten am Tod deines ersten Sohnes schuld gewesen sein? Als Mutter und als ein vernunftbegabtes Wesen solltest du wissen, dass einem Kinde immer das genehm und zuträglich ist, woran es von frühester Jugend an gewöhnt wurde. Ein Menschlein gleicht nämlich, wenn es das Licht der Welt erblickt, einem noch unbeschriebenen Blatte, auf welches aber in den folgenden Stunden die verschiedenen, besonderen Merkmale seiner Umgebung, wie die Luft, die es atmet, die Mutter, die es umsorgt, die Art von Nahrung, die es erhält und so weiter, verzeichnet werden. Was in frühester Kindheit dort eingetragen wird, bleibt unauslöschlich fur alle Zeiten bestehen. So kann es nicht verwundern, wenn du dich nach dem Landleben in Woodham sehnst, wo du aufgewachsen bist, und nach einer Luft ohne die Beimischung von Seetang und Fisch! Doch verwechsele nicht deine Empfindungen mit denen deines Sohnes, dessen kleiner, ungeübter Geist bisher nichts kennt und liebt als nur das, was du ihm madig machen möchtest. Die «Miasmen», die dein Riechorgan beleidigen, duften deinem Sohn heimatlich und ambrosisch in der Nase. Brächtest du ihn aber nach Surrey, so würdest du sehen, wie ihm unterwegs schon beim ersten zarten Hauch von Veilchenduft das Gesicht grün anläuft!
Jeder Mensch liebt nun einmal seine Heimat und ihr Klima. So und nicht anders hat es der Schöpfer in seiner Weisheit eingerichtet, auf dass jeder an dem Ort bleibe, auf welchen die Vorsehung ihn gesetzt hat, und nicht kreuz und quer durch die Weltgeschichte zu allerlei fremdländischen Orten wie dem Kontinent oder Jamaica reise, wie es heute leider Mode geworden ist. Warum die jungen Leute sich solches antun, ist mir ein Rätsel, denn es kann kaum etwas Unnützeres geben, als Französisch zu lernen oder andere fremde Gebräuche, die oft genug Anstand und Sitte verletzen, und was man später über solche Reisen hört, ist immer nur, wie schlecht allen schon während der Überfahrt wurde und wie wenig ihnen das kontinentale Essen bekam. Gar nicht zu reden von jenen unserer Landsleute, welche die Pflicht oder ein unnatürlicher Abenteuertrieb bis Indien treibt und die, wenn sie nicht gleich dort unter den Heiden sterben, bei ihrer Rückkehr ganz schwarz und verbrannt aussehen und sich zumeist fur den Rest ihres Lebens mit einem dyspeptischen Magen quälen.
Wir, deine lieben Eltern, bemitleiden dich aus ganzem Herzen für alles, was du in Plymouth an schlechter Luft erdulden musst, obwohl man natürlich Plymouth nicht mit so ungesunden Orten wie Indien oder Schottland vergleichen kann. Immerhin ist es Devonshire. Doch wie du dich entsinnst, waren es nicht wir, die dich aus deinem angestammten Klima vertrieben haben! Du hast dir deinen seefahrenden Ehemann ganz alleine ausgesucht, so wie du später höchst unvernünftig darauf bestandest, das Landhaus seiner Familie in unserem schönen Surrey zu verlassen und überstürzt nach Plymouth zu ziehen, und du wirst dich erinnern, wie sehr dir deine liebe Mutter in meinem Namen davon abgeraten hat. Nachdem du dir aber deinen Wohnort selbst ausgesucht hast, ist es nun deine Pflicht, sein Klima und seine Gerüche zu ertragen.
Bei uns, in deinem Elternhause, bist du immer herzlich willkommen, obwohl es natürlich sehr beengt wäre und du weißt, wie sehr wir sparen müssen und wie wir jedes Jahr schon volle zwei Monate vor seinem Ende so gut wie mittellos sind, ohne die zusätzlichen Auslagen, die ich neuerdings durch mein Gichtbein habe. Deine Mutter und ich würden uns freuen, wenn du uns einmal mit den Enkelkindern für zwei Wochen oder etwas länger besuchen kämest, doch wenn dir das Leben deines Sohnes lieb ist, dann komme nicht jetzt, solange er in seinem zartesten Alter ist und eine solche strapaziöse Reise in ein fremdes Klima gewiss nicht überstehen wird.
Wie um seinem Großvater Recht zu geben, gedieh der kleine Arthur prächtig in fauliger Luft und schmutziger Umgebung und war bald zu einem reizenden, dickbackigen Tollpatsch geworden, der gerne aß, schlief und sehr bedacht auf seinen eigenen Willen war, wie es die Weise gesunder Kinder ist. Nicht einmal die Gelbsucht, die ihn um seinen ersten Geburtstag herum plagte, konnte ihm den Appetit recht verderben, und nach knapp zwei Wochen schon war sie vergangen.
An Arthurs drittem Geburtstag erhielt Charlotte Steele einen außerordentlich liebenswürdigen Brief von Mrs. Lawrence Steele (die alte Witwe Steele war inzwischen verstorben), in welchem sie davon sprach, sie und ihr Mann würden sich glücklich schätzen, Arthur so bald als möglich samt seiner Frau Mutter sowie natürlich den Rest der Familie bei sich aufzunehmen, ihnen alle Annehmlichkeiten zu bieten und keine Ausgaben und Mühen zu scheuen, um den Erben mittels Erziehung und Bildung auf seine künftige Rolle vorzubereiten.
Charlotte ahnte, es sei die Furcht Mrs. Lawrence Steeles, nach dem Tod ihres Mannes von der Gunst ihres Neffen abhängig zu sein, die sie veranlasste, sich so freundlich und freigebig zu zeigen. Was auch immer der Grund, ihr war es recht. Sie herzte ihren Sohn und küsste ihn wieder und wieder, nachdem sie den Brief gelesen hatte, denn ihm hatte sie es zu danken, künftig ein komfortableres Leben genießen zu können.
Doch die Wege des Herrn sind so wunderbar, wie sie rätselhaft sind. Auch diesem Sohn war es bei all seiner blühenden Gesundheit nicht beschieden, ein Mann zu werden. Nur wenige Tage nach der Ankunft des denkwürdigen Briefes, Charlotte hatte eben die Antwort gesandt und war im Begriff zu packen, wurde Arthur von einem Nachbarskind, das er geärgert hatte, in die Hand gebissen. Die Wunde war klein und schien ganz ungefährlich, begann aber tags darauf zu schwären und bewirkte am dritten Tage, an welchem man hatte reisen wollen, ein Fieber. Der Apotheker hielt sich mehr im Haus der Steeles auf als in seinem eigenen und versuchte sich mit allerlei Salben und Pülverchen, von denen keines helfen wollte. Binnen einer Woche war der Junge tot.
Seine Mutter wollte lange nicht glauben, was geschehen war, und mühte sich mehrere Stunden, das tote Kind zu wecken, bis man es ihr aus den Armen riss. Erst bei der Beerdigung, als sie hörte, wie die schwere, nasse Erde auf den Sarg prasselte, wurde sie recht gewahr, ihr Sohn würde niemals mehr lebendig werden. Da spürte sie, dass sie sich unter der Last ihres Kummers nicht würde erheben können.
In der Tat blieb ihr wenig, um sich über den Verlust ihres Augapfels hinwegzutrösten, nur ihre Tochter Anne, inzwischen acht Jahre alt, freundlich und folgsam, mit der sie gemeinsam viele Tränen weinte. Lieutenant Steele hatte bisher die erhoffte Beförderung nicht erhalten, und manches, was er in der letzten Zeit sprach, hatte seiner Frau den Eindruck vermittelt, dies werde niemals mehr geschehen. Vor wenigen Wochen erst war er in See gestochen, diesmal wieder in Richtung der amerikanischen Kolonien, wo der Krieg nunmehr in vollem Gange war und dem Lieutenant genauso gut wie Auszeichnung und Aufstieg den Tod bringen konnte.