Читать книгу Die erste Verlobte - Ruth Berger - Страница 16
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ОглавлениеEs wurde getuschelt und geträumt in den Damenzimmern, in den Nähstuben und Küchen, beim Bäcker und beim Metzger, es wurde gehofft, spekuliert und geseufzt, gar in bloßer Erwartung des Kommenden errötet, und zu guter Letzt traf ein, was die halbe Weiblichkeit von Moreleigh sowie der Schankwirt so sehnsuchtsvoll erwarteten: Eine Kompanie Soldaten wurde am Ort stationiert.
«Sie sind da, sie sind da!», rief Miss Anne Steele am frühen Morgen aus, da sie beim Blick aus dem Fenster von ferne einen Rotrock erspähte, was ihre Mutter zum Anlass nahm, sich mit einem Schluck Rum zu stärken und in großer Erregung die Kleiderkiste zu durchstöbern, als müsse sich dort durch Zauberhand unverhofft etwas Neues eingefunden haben. Da es Miss Steele, trotz mancher Beinahe-Erfolge, die die Quelle beständiger glücklicher Reminiszenzen bildeten, bisher nicht gelungen war, von einem ihrer zahlreichen mutmaßlichen Verehrer einen Heiratsantrag zu erhalten, musste Mrs. Steele das Eintreffen von zahllosen jungen und größtenteils unverheirateten Mannspersonen so willkommen sein wie nur irgendeiner Mutter von Töchtern am Ort.
Während des Vormittags gab es einen Betrieb auf der High Street, wie ihn die Steeles in all den Jahren, die sie im Obergeschoss des Bäckers Thorpe wohnten, noch nicht beobachtet hatten. Fast jeder fand, er habe etwas in Geschäften zu erledigen, und spazierte im Sonntagsstaat das eine oder andere Mal die Straße auf und ab, um zu sehen, was sich tue und ob man etwas Interessantes zu sehen oder zu hören bekomme. Man war ja sonst hier ein wenig abgeschieden von der großen Welt, und Soldaten, so glaubten selbst die, die nicht ans Heiraten dachten, würden Neuigkeiten und frische Luft ins tägliche Einerlei bringen. Aus der Dachgaube des Bäckers Thorpe ließ sich feststellen, dass gegen zehn Uhr die Menschen in Gruppen und Paaren die High Street so eng bevölkerten, als sei hier der Viehmarkt im Gange. Es versteht sich von selbst, dass auch die Misses Steele dem Treiben nicht länger fernbleiben durften. Wie zum Kirchgang geputzt, betraten auch sie gemeinschaftlich die Straße, die seit neuestem erst gepflastert war. Selbst Lucy, die sich in Begleitung ihrer heiratswilligen Schwester unendlich zu langweilen pflegte, konnte sich an diesem besonderen Tage der allgemeinen gespannten Euphorie nicht entziehen.
Tatsächlich machten die Misses Steele sogleich, auf ihrem ersten Gang die High Street hinab Richtung Schulhaus, die Bekanntschaft zweier Beaus, von denen noch die Rede sein wird – oder vielmehr: Miss Anne Steele machte deren Bekanntschaft. Miss Lucy Steele nämlich ging, obwohl inzwischen ebenso groß wie ihre Schwester, wie ein Kind gekleidet. Sie galt als der Aufmerksamkeit von Offizieren oder anderen Herren noch nicht würdig und war gehalten, bei einer Begegnung mit solchen still ein Stück hinter ihrer Schwester zu stehen und zu Boden zu blicken, nicht mehr und nicht weniger, wie ihr gerade heute die Mutter nochmals eingeschärft hatte.
Sie hielt sich auch jetzt daran, als ihrer Schwester Captain Fortescue vorgestellt wurde, ja anderes wäre ihr womöglich schwer gefallen, denn dieser junge Mann nahm Lucy ein wenig den Atem. Mehr als jeder andere, den ihre Schwester und ihre Mutter jemals so bezeichnet hatten, schien gerade er den Namen Beau zu verdienen. Nichtsdestotrotz machte er einen sehr zurückhaltenden, schüchternen Eindruck, ganz im Gegensatz zu seinem forsch auftretenden Begleiter, Lieutenant Witherspoon. Anne hatte die jungen Männer bemerkt, als beide in Begleitung von Admiral Sir Horatio Graves aus dessen Wagen stiegen, und war, die Schwester am Arm, auf die Gruppe zugesteuert, bis man beinahe zusammenstieß und der Admiral kaum anders konnte, als die Misses Steele den Herren vorzustellen. Während Captain Fortescue dies mit nicht mehr als einem Räuspern und einer nur halbherzig den Erfordernissen des zivilen Lebens angepassten militärischen Grußgeste in die ungefähre Richtung Annes quittierte, ließ Witherspoon vernehmen, es sei «schrecklich artig», auf so charmante junge Damen getroffen zu sein, und erkundigte sich, ob man die Freude haben werde, dieselbigen am nächsten Tag im Hause des Admirals wiederzutreffen. Er würde dies in jedem Falle schrecklich artig finden. Worauf der Admiral die Misses Steele informierte, es sei in der Tat ein Tee geplant, der hauptsächlich dem Zweck dienen solle, die neu eingetroffenen Offiziere in die hiesige Gesellschaft einzuführen, wovon Lieutenant Steele bereits informiert sei, da er die Einladungen geschrieben habe. Selbstverständlich werde der Admiral sich freuen, auch die Familie Steele zu diesem Anlass am folgenden Tage in seinem Hause begrüßen zu dürfen, zumal er glaube, Lieutenant Steele werde, als ehemaliger Angehöriger der Flotte, mit den jungen Herren von den Streitkräften manches finden, worüber zu reden sich lohne. Da der Anlass informell sei und eher einer Familienfeier gleichkomme, bestehe er darauf, dass auch Miss Lucy, obwohl noch jung an Jahren, ihm beiwohne.
Nachdem Anne dem Admiral zugesichert hatte, die ganze Familie werde kommen, bemerkte Witherspoon: «Ist das nicht schrecklich artig?», der Admiral aber wünschte den Misses Steele einen guten Tag und setzte mit seinen Begleitern zügig den Weg fort.
«Hast du gemerkt», tuschelte Anne, kaum hatten sich die Männer ein wenig entfernt, «wie er mich fortgesetzt anblickte?» – «Wer?», fragte Lucy.
«Du dummes Ding», schalt ihre Schwester, «wen könnte ich wohl meinen als Captain Fortescue!»
Lucy erläuterte, dies sei ihr entgangen, da sie die meiste Zeit über auf den Boden statt den jungen Herren ins Gesieht gesehen habe. Insgeheim aber gab es ihr einen kleinen Stich, bei der Schwester dieselbe Schwäche für Fortescue anzutreffen, die sie in ihrem Inneren sich regen spürte.
Nach diesem schönen Erfolg strebte Anne geradewegs heim, um ihrer hocherfreuten Mutter und ihrem ein wenig verwunderten Vater von der erhaltenen Einladung zu künden und weiter zu berichten, sie habe zwei vortreffliche Beaus kennen gelernt, von denen der eine auf den ersten Blick so hingerissen von ihr gewesen sei, dass er kaum ein Wort habe sprechen können, während der andere sie mit Komplimenten überschüttet habe.
Diese Einladung zu einer Teegesellschaft war die erste ihrer Art, welche die Steeles in Moreleigh jemals erhielten. Mit Ausnahme von Lucy, die von klein auf in jedermanns Haus ein und aus ging und sich zur Schande ihrer Eltern nicht scheute, bei Pächtern und Handwerkern zu Tisch zu sitzen, hatte die Familie sehr zurückgezogen gelebt. Da man selbst keine Gesellschaften gab, der Lieutenant außerdem als Invalide galt, war man auch zu keinen geladen worden.
Es lässt sich leicht erahnen, welche Szenen sich nun in Vorbereitung dieses ersten echten gesellschaftlichen Auftritts in der kleinen Wohnung abspielten, wie viele Haarsträhnen gelockt, gesteckt und wieder gelöst, wie viele Bänder geknotet, Haken gehakt und Kleider probiert, verworfen und erneut probiert wurden – jedenfalls, was Anne betraf, um welche die Mutter für Stunden im Kreise herumscharwenzelte, um zu richten, zu helfen und zu raten. Lucy, sich selbst überlassen, war schnell fertig, denn sie besaß ohnehin nur zwei Kleider: ein graues fur den Alltag, das arg kurz geworden war und das sie an zwanzig, dreißig Stellen mit minderwertigen oder nicht ganz passenden Materialien ausgebessert hatte, und ein weißes fur den Sonntag, zu eng und zu kurz, ebenjenes, das sie bei der Begegnung mit Sir Horatio und den jungen Offizieren schon getragen hatte und das sie am folgenden Nachmittag erneut anlegte.
Als man sich zur vorbestimmten Zeit auf den Weg begab – zu Fuß, da man einen Wagen nicht besaß und der Admiral nicht angekündigt hatte, er werde den seinen nach den Steeles schicken -, da bemerkte Mrs. Steele mit einiger Überraschung, dass Lucy Anstalten machte, die Familie zu begleiten. «Lucy, Dummerchen, du bist noch ein Kind, Sir Horatio kann dich unmöglich mit eingeladen haben!» -«Das hat er doch», bemerkte Lucy mit einem derart kindischen Trotz, wie sie ihn seit Jahren nicht verspürt hatte. Ihr Vater aber entschied: «Lass sie tun, was sie für richtig hält. Der Admiral hat einen Narren an ihr gefressen, er wird nicht verärgert sein, wenn sie kommt.»
So ging nun Miss Lucy Steele auf ihre allererste elegante Teegesellschaft, und sie fand daran, neben einigem, was sie unterhielt und amüsierte, so viel Grund zu Besorgnis, Unruhe und Unglück, dass sie sich in der folgenden schlaflosen Nacht wünschte: Sie hätte auf ihre Mutter gehört und wäre zu Hause geblieben.
Die geringste Ursache fur das lebhafte Missbehagen, welches sich bei ihr schon während der Feier einstellte, war Captain Fortescue, der sie natürlich keines Blickes würdigte. Sie ihrerseits wagte kaum, ihn anzusehen – es sei denn aus den Augenwinkeln. Ihre Pupillen schienen ein Eigenleben zu besitzen, huschten wie getrieben von einer bösen Macht stets in die Richtung, in welcher er sich aufhielt. Am Ende hatte Lucy, ohne es eigentlich zu wollen, jede seiner Bewegungen, jeden Ausdruck, jede flüchtigste Regung seines Gesichtes verfolgt, den Klang jedes seiner Worte aufgenommen. Diese waren nicht eben viele. Um genau zu sein, er sprach so gut wie überhaupt nicht, und als Lucy ihn nach fast einer halben Stunde zum ersten Male reden hörte, da war es ihr auf eine merkwürdige Art höchst peinlich festzustellen, dass seine Stimme unangenehm plärrend klang, ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Unverzüglich erdachte sie eine Theorie, wonach Fortescue nur deshalb so still und griesgrämig scheine, weil er sich seiner hässlichen Stimme schäme. Angesichts solcher Gedanken füllte sich ihr Herz bis zum Rand mit den zärtlichsten, mütterlichsten Empfindungen für den ungeselligen Captain.
Doch all ihr romantisches Leid an und mit Fortescue war nichts im Vergleich mit einer schweren Lektion, die sie heute zu lernen hatte.
An der Teegesellschaft nahmen alle unverheirateten jungen Damen von Stand teil, die am Ort lebten, insgesamt sieben oder acht. Schon beim Eintritt in den Esssaal erkannte Lucy, dass Annes Kleidung und Haartracht, trotz aller Mühe, welche die Mutter sich mit ihnen gegeben hatte, in vielerlei Hinsicht nicht zur Aufmachung der anderen jungen Ladys passten und auf sehr ungünstige Weise hervorstachen – ganz zu schweigen natürlich von Lucys eigenem, aus Mrs. Lawrence Steeles Jugend stammenden Sonntagskleid. Jedoch war sie nur ein Kind; wie sie aussah, schien nicht von großer Bedeutung, und ihre Sorge galt allein Anne. Erschrocken war sie, ja beschämt, als sie den Gegensatz zwischen der Schwester und den anderen bemerkte, sie sagte sich aber, Kleider ließen sich kaufen, nähen oder borgen. Man würde schon auf die eine oder andere Weise eines für Anne beschaffen können, in welchem sie auf einer Teegesellschaft keinen Anstoß erregte. Erst jetzt kam Lucy zu Bewusstsein, es müsse solche Anlässe wie den heutigen all die Jahre über gegeben haben, Anne aber sei davon ausgeschlossen geblieben. Kein Wunder, so wenig passte sie zu den anderen jungen Damen, die unglaublich geziert aßen und auf eine höchst wunderliche Weise Konversation betrieben. Sie sprachen über Malerei, Gedichte und Personen, von denen beide Misses Steele niemals gehört hatten, machten Anspielungen, die ihnen unverständlich blieben, und am allerschlimmsten, sie steckten voller Künste und Fähigkeiten, über die man nur staunen konnte, wie lebensgetreu zeichnen, Klavier spielen und Musik von einem Blatt Papier absingen, wo selbige in unentzifferbaren Linien, Klecksen und Fähnchen notiert stand.
Lucy, das einzige Kind in der Gesellschaft, hielt sich bei ihren älteren Bekannten auf und war den ganzen Abend über so still, wie man sie kaum je erlebt hatte. Ihre verräterischen Augen mochten noch so viel zu Fortescue schweifen, es blieb ihr dennoch nicht verborgen, dass ihre Schwester vergeblich suchte, sich unter die jungen Leute zu mischen, welche entweder das Gespräch mit ihr mieden oder aber sie mit pikanten Bemerkungen quälten, um hemmungslos loszulachen, sobald sie ihnen den Rücken zukehrte.
So verstört war Lucy von diesen Beobachtungen, dass ihr die ausgelassene Stimmung ein Rätsel war, in welcher Anne sowie Mrs. Steele sich am nächsten Morgen aus dem Bett erhoben. Sogar der Vater gab sich heiter, pfiff ungeachtet seiner Kopfschmerzen, als er das Rasiermesser schwang, beschwerte sich weder über den Straßenlärm noch über den dünnen Tee und schien wie berauscht davon, am Vorabend mit den Offizieren gefachsimpelt und zum ersten Mal seit langem eine aufmerksame Zuhörerschaft für seine These gefunden zu haben: Der Krieg, in dem England seine Flotte in die Kolonien schicke, sei der, in dem es selbige verliere.
Die Mutter und Anne hingegen konnten an nichts denken und über nichts sprechen als die Anne zugekommenen Aufmerksamkeiten Witherspoons und, weit mehr noch, die mutmaßlichen, womöglich ernsten Absichten des stillen und mysteriösen Fortescue, über welche man sich in hoffnungsvollen Spekulationen erging. Anne, so erfuhr man, hatte von ihm smanch glühenden Blick erhascht. «Einen größeren Gegensatz zu Witherspoon als Fortescue kann man sich kaum vorstellen», rief sie, nachdem sie zum wiederholten Male von dessen vielsagenden Blicken berichtet hatte. «Dieser trägt alles im Herzen und in den Augen, jener auf der Zunge! Dieser versucht vornehm, seine Leidenschaft zu verbergen, jener schäkert in offener Verliebtheit mit mir! Wie arg hat er es gestern mit mir getrieben, dieser Witherspoon!»
«Ja, das hat er», antwortete Mrs. Steele nicht ohne Zufriedenheit, «doch du tust ganz recht daran, Nancy, Liebes, dich nicht von ihm einwickeln zu lassen, auf seine Schmeicheleien und Komplimente nicht viel zu geben und dich an Fortescue zu halten, denn schließlich, weißt du, ist dieser Witherspoon keine Partie fur dich, er ist doch kein Edelmann.»
Lucy hatte den Austausch auf einer Fußbank hockend verfolgt, Stecknadeln zwischen den Lippen und Nähzeug auf den Knien. Nun nahm sie die Nadeln aus dem Mund. «Gentleman oder nicht», warf sie ein, «kann das denn fur Nancy von Bedeutung sein? Sollten wir nicht, wenn wir uns nach einem Bräutigam umsehen, hauptsächlich darauf achten, dass der junge Mann nett und freundlich ist und sie ernähren kann? Dann ist es doch gleich, ob er einen langen Familienstammbaum besitzt. Schließlich gehören wir selbst nicht unbedingt zur Nobilität, dass es nun darauf so ankäme.»
Mrs. Steele entfärbte sich bei diesen Worten ihrer jüngsten Tochter. Mit Entsetzen in der Stimme sprach sie: «Was sagst du da, du dummes, unverständiges Kind! Wir sollten nicht zur Gentry gehören? Natürlich tun wir das, ohne den geringsten Zweifel. Meine Familie hat Landbesitz seit Jahrhunderten, ebenso natürlich die deines Vaters, welche fast bis zu Wilhelm dem Eroberer zurückreicht! Jetzt sag mir bloß, du weißt das nicht!»
«Das weiß ich sehr gut, Mama, und ich wollte keinesfalls meine Vorfahren beleidigen. Zum Adel gehört aber wahrscheinlich mehr als nur die Abstammung, und es scheint mir doch, dass es uns an manchem davon mangelt. Ist Ihnen gestern Abend nicht aufgefallen, dass Nancy und ich ganz anders sind als die jungen Mädchen vom Herrenhaus und als die Tochter des Admirals und auch als Captain Blassingames Tochter! Sie sind alle so gebildet und so elegant und vornehm, dass wir im Vergleich wie Wilde aus dem Urwald scheinen.»
Mrs. Steele, bleicher denn zuvor, sah ihre Tochter so lange und aufmerksam an, wie sie es seit Jahren nicht getan hatte. «Nicht einmal von dir hätte ich solches geglaubt», sagte sie schließlich, «wiewohl ich dein hartes, unbändiges Temperament kenne. Wie kannst du nur uns, deine Eltern, so grausam und ungerecht verurteilen, die wir uns unser Leben lang gemüht und geplagt haben, euch trotz aller Schicksalsschläge anständig zu erziehen und euch wachsam von aller unziemlichen Berührung mit den niederen Ständen fern zu halten. Du freilich, Lucy, hast deine Manieren selbst korrumpiert und deine Eltern und all deine Vorfahren verhöhnt, indem du von frühester Kindheit an einer unnatürlichen Neigung folgtest, dich unter das gemeine Volk zu mischen und es dir zum Vorbild zu nehmen und schlechter von uns zu denken als von Bäckern und Fleischern. So weit bist du darin gegangen, dass du eines Tages, du warst noch nicht vier Jahre alt, deinen Vater fragtest, warum er nicht Bäcker werden könne wie Mr. Thorpe, und hast ihn so beleidigt damit, dass er nächtelang die Neuralgie hatte. Du wirst es vergessen haben, aber ich habe es nicht vergessen, und warum sollte ich auch, wo du bis heute dasselbe undankbare, alberne, böse und außerordentlich dumme Ding geblieben bist, das du schon damals warst! Du bist die Wilde, Lucy, wir sind es nicht!»
Nach dieser Rede, welche die längste war, die sie in ihrem ganzen Leben gehalten hatte, erklärte Mrs. Steele, sie sei leidend, verarztete sich mit Rum und legte sich zu Bett. Lucy hockte sturzunglücklich auf ihrer Fußbank, im Wissen, der ganzen Familie die aufgekratzte Laune verdorben zu haben.
Insgeheim übrigens musste sie bald der Mutter Recht geben: Es schien ganz so, als ob alle ihre Befürchtungen, die feinen jungen Leute würden Anne meiden und sie verspotten, übereilt und grundlos gewesen wären. Miss Anne Steele wurde nämlich von jetzt an häufiger in Gesellschaft geladen.
Zunächst war es zwar nur ein Ball, der in der Schankwirtschaft abgehalten wurde, an dem aber auch verschiedene Ladys und Gentlemen teilnahmen. Lucy hatte von der Tochter der Thorpes – nun eine verheiratete Bauersfrau – einige Tänze gelernt und diese auf ihren Spaziergängen mit Anne notdürftig geübt, wenn man sich zwischen Mühle und Dorf ohne Zeugen fühlte. Jetzt freute sie sich, dass Anne diese Künste einmal brauchen konnte, ob sie aber hinreichen würden, das bezweifelte sie.
Doch ihre Sorgen waren grundlos. Sobald Anne von den unmittelbaren Folgen einer schlaflosen Nacht in Verbindung mit viel Lärm, ungewohnter Bewegung und Bier genesen war, zeigte sie sich außerordentlich gesprächig sowie aufs schönste zufrieden mit sich selbst und ihren Erfolgen in der Ballnacht. Das Erste, was sie erzählte, war: Sie habe zweimal mit Fortescue getanzt! Oder, wie sich herausstellte, fast zweimal, denn beim zweiten Mal, als er sich auffordernd zu ihr gebeugt habe, um sie für den nächsten Tanz einzuhaken, sei Witherspoon, mit Worten bekanntermaßen schneller zur Hand als sein Freund, ihm mit einem rasch dahingemurmelten «Darf ich bitten?» zuvorgekommen, worauf sich auf Fortescues Gesicht ein Ausdruck bitterster Enttäuschung und Verzweiflung ausgebreitet habe. Anne, über die Einmischung Witherspoons empfindlich verärgert, blieb nichts, als den nächsten Tanz ihm zu schenken, wollte sie nicht mehr als unhöflich wirken – und gerade das, betonte sie, wollte sie in Fortescues Gegenwart nicht. «Aber wer sich noch mehr als ich geärgert hat», berichtete sie befriedigt, «war der Pfarrer! Oh, làlà, ihr hättet sein Gesicht sehen sollen, als Witherspoon mich durch den Saal wirbelte – es war regelrecht grün vor Eifersucht!»
«Aber der Pfarrer ist doch seit letztem Jahr verheiratet», bemerkte halblaut Lucy, die ein wenig abwesend schien. «Dummerchen», schalt Anne sie liebevoll, «eine Ehe hat nicht immer etwas mit Leidenschaft zu tun, jedenfalls was den Pfarrer angeht, der eine reiche Witwe genommen hat, die mindestens fünf Jahre älter ist als er! Der Ärmste, gedenke, was er nun Tag für Tag durchstehen muss mit der alten Schachtel, er kann einem fast Leid tun.»
«Mir tut er gar nicht Leid. Seine Frau ist nämlich netter als er. Aber erzähl doch weiter, ich hatte dich unterbrochen.»
«Wie gesagt, der Pfarrer platzte fast vor Eifersucht. Und ich habe ihn grausam gequält, indem ich ihn den ganzen Abend nie so nahe an mich heranließ, dass er mich hätte auffordern können!»
«Du bist mir eine rechte Schlange», kommentierte Mrs. Steele voll mütterlichem Stolz, worauf Anne glücklich kicherte. «Es geschieht ihm nur recht. War es nicht geradezu gemein von ihm, die alte Vettel zu heiraten, nachdem er mich jahrelang umworben hat! – Doch so ist es am besten, ich hätte ihn ohnehin niemals nehmen können, selbst wenn er mir einen Antrag gemacht hätte. Mir liegen militärische Männer viel mehr als solche aus der Geistlichkeit. Nicht auszudenken, falls ich ihn geheiratet hätte, was würde ich mich ärgern, jetzt, wo die Kompanie hier ist!»
«Du bist wirklich eine Schlange», wiederholte lachend ihre Mutter. «Aber wie du siehst, es hat sich alles zum Besten gefugt: Du bist noch frei, und Fortescue macht dir den Hof. Ein Erstgeborener ist er natürlich nicht, aber ich habe gehört, dass er aus dem Vermögen seiner Mutter ein erstklassiges Sümmchen zu bekommen hat.»