Читать книгу Die erste Verlobte - Ruth Berger - Страница 24
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ОглавлениеIn dem mittelalterlichen Bischofssitz Exeter lebte inmitten von altehrwürdigem, rußgefärbtem Gestein und diversem bischöflichem Personal auch eine ältere Cousine Lieutenant Steeles. Jene nämlich, die damals auf seiner Hochzeit gewesen war und die, weil mit einem Mr. Hornby verheiratet, in der Familie die Cousine Hornby genannt wurde. Der Name hatte ursprünglich nicht einer gewissen Ironie entbehrt, wenngleich diese nach fünfundzwanzig Jahren abgenutzt und ihr damaliger Anlass keine Sensation mehr war. In erster Ehe war nämlich die Cousine Hornby mit einem höheren Geistlichen, dem Archidiakon Jennings, verheiratet gewesen, dann aber hatte sie als sechsundvierzigj ährige Witwe mit drei großen Kindern einen mittellosen Verseknütteler von gerade einmal zweiundzwanzig Jahren geehelicht. Dieser Hornby war mit dem Archidiakon flüchtig bekannt gewesen und hatte, als pflichtbewusster Freund der Familie, der Witwe nach dessen Tod fast täglich die Aufwartung gemacht, bis er nach drei oder vier Monaten in einem schönen Einvernehmen mit ihr stand, welches für beide Seiten große Vorzüge mit sich brachte.
Die Cousine Hornby führte (so glaubte sie) einen regen Briefwechsel mit Mrs. Steele. Gerne hatte sie sich bereit gefunden, deren Töchter während ihrer Reise gen Surrey für eine Nacht bei sich zu beherbergen. Sie besaß keinen eigenen Wagen (auf manches hatte sie dem guten Hornby zuliebe verzichten müssen), doch für ihre über siebzig Jahre noch viel Tatendrang und Stehvermögen.
«Miss Anne? Miss Lucy?», ertönte ihre kräftige Stimme, als die Schwestern steif und müde aus ihrer Postkutsche kletterten. Die Cousine Hornby war also selbst gekommen, rosig und wohlbeleibt und, ohne es zu ahnen, Mrs. Thorpe, der Bäckersfrau, stark ähnelnd, mit den beiden männlichen Dienern, ihrem Pudel sowie einem Handkarren im Gefolge. Sie wusste kaum, wie ihr geschah, als das jüngere und bei weitem hübschere der beiden Steele-Mädchen ihr um den Hals fiel wie ein unerzogener junger Hund.
«Cousine Hornby», erklärte das junge Ding sodann mit genau der bedingungslosen Treue in den Augen, die bei Hundeliebhabern steinerne Herzen zerschmilzt, «Cousine Hornby, ich kann nicht glauben, dass Sie wirklich auf uns gewartet haben! Verzeihen Sie tausendmal! Wir müssen eine Stunde zu spät sein, dank es Ihnen Gott, dass Sie ausgehalten haben. Ach, und ich bin so froh, dass wir endlich da sind!»
«Du musst Lucy sein», vermerkte Mrs. Hornby, die bei aller Rührung sehr wohl fand, dass Hunde wie junge Mädchen, selbst die reizendsten, erzogen gehören, und sofort mit der Arbeit begann:
«Ein Knicks, meine liebe Lucy, wäre angemessener gewesen. Weißt du, wie das geht? Ja? Dann tu es einfach.»
Errötend und ein wenig bestürzt, senkte sich Lucy in einem tiefen Knicks vor ihrer Tante. «Bist ein braves Mädchen», lobte die und erhielt sofort dieselbe Reverenz von Anne. «So, ihr Lieben», stellte sie fest, «nun können wir gehen, es ist nicht weit.»
Über die Nacht, welche die Geschwister Steele in Exeter verbrachten, gibt es sonst nur noch drei Dinge anzumerken.
Erstens, dass die Tante, als sie vor dem Schlafengehen, mit der Nachthaube angetan, wie üblich ihren Hornby in dessen Gemach aufsuchte, um die Ereignisse des Tages Revue passieren zu lassen, diesem mitteilte: Sie mache sich um die Zukunft der jungen Lucy einige Sorgen. «Dieser Dialekt!», jammerte sie, «wie ein Fischweib vom Hafen!» -«Sag eher: Wie ein leichtes Mädchen aus einer Matrosenspelunke», verbesserte sie Hornby, «denn weißt du, nach einem Marktweib sieht sie einfach nicht aus.»
«Ob nun dieses oder jenes, mein lieber Hornby, sie spricht jedenfalls wie die Leute auf der Gasse, und niemals je kann sie irgendwo als Lady durchgehen! Himmel, wer wird sie heiraten!?»
«Wenigstens ist sie recht ansehnlich geraten, mit ihren zwei netten Grübchen, wenn sie lacht. Merkwürdig übrigens, dass die Schwester damenhaft genug redet.»
«Eher merkwürdig, dass Lucy es nicht tut. Ich kann mir nicht erklären, woher sie diese Sprache hat. Ach, kämen die jeweiligen Vorzüge der beiden nur in einer zusammen, dann hätte wenigstens diese eine Chance und könnte der anderen helfen! Aber so? Eine spricht nicht richtig Englisch, die andere ist vollkommen reizlos. Kein Geld, keine Bildung, kein Titel. Gott, Hornby, mir wird das Herz schwer, wenn ich daran denke, was aus den Töchtern von Thomas Steele einmal werden soll.»
«Traurig, aber unausweichlich: Am Bettelstab werden sie gehen», schloss Hornby. Er stellte sich dabei vor, wie die junge Lucy, wenn sie Hunger litt, gewiss auch noch auf einträglichere Arten des Broterwerbs käme, welche Reflexion er jedoch seiner Frau ersparte.
Zweitens gilt es zu vermerken, dass Miss Lucy Steele in jener Nacht zum ersten Mal in ihrem Leben ein Bett für sich allein hatte.
Drittens, dass dieselbe, da sie aufgewühlt von neuen Eindrücken lange nicht schlafen konnte, sich im weichen Kissen schwebend die eigene Zukunft in herzerwärmend rosigen Farben malte. Sie würde, durch Wistiinghurster Schliff in eine vollkommene junge Lady verwandelt, in einer Ballnacht unerwartet Fortescue gegenüberstehen, der vom Glücksspiel längst geläutert aus der französischen Kampagne heimgekehrt wäre. Wo ihn, versteht sich, Tag und Nacht der Gedanke an Lucy begleitet hätte, im Kampfesgetümmel wie am einsamen Lagerfeuer et cetera. Die Fortsetzung muss nicht weiter ausgeführt werden.
Hätte man allerdings in jener Nacht Fortescue nach Miss Lucy Steele gefragt, so wäre ihm, nach einigem Nachdenken, eingefallen, dass in der Tat der Sekretär von Admiral Sir Horatio Graves zwei Töchter besaß, die er, Fortescue, bei der einen oder anderen Gelegenheit wohl einmal gesehen hatte. Vielleicht wäre ihm am Ende sogar ein schemenhaftes Mädchenantlitz zu dem Namen erschienen. Mehr nicht. Es wäre übrigens die letzte Gelegenheit gewesen, ihn zu fragen. Die Rotröcke des britischen Königs hatten in der Normandie gegen eine Armee zu kämpfen, die es sich leisten konnte, ihre Soldaten en masse im Kugelhagel zu verheizen, weil sie per Wehrverpflichtung aus dem Volk die gleichen Massen jederzeit nachrekrutieren konnte. Darauf war man bei den Engländern noch nicht eingestellt.
Im Morgengrauen wurde Fortescues kleine Einheit, die in sicher geglaubter Stellung eine Brücke hielt, von einem größeren Trupp Infanterie angegriffen. Man schoss die Kanonen ab, sah ganze Trauben von Franzosen niedergehen, doch der Rest der revolutionären Massen marschierte weiter in völlig ungeschützter Formation auf die rauchenden Geschütze der Engländer zu. Dass diese schließlich überwältigt wurden, nahm Fortescue kaum noch wahr, der mit sich ganz allein war in seiner Qual – gekrümmt auf einem mit ersten Blüten gesprenkelten, sandigen Wiesenboden, die Eingeweide von einer Gewehrkugel zerfetzt im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.