Читать книгу Die erste Verlobte - Ruth Berger - Страница 23
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ОглавлениеEine Reise vom Süden der Grafschaft Devon in die Grafschaft Surrey pflegt nicht ganz drei Tage zu dauern – wenn man die Post nimmt. Die Misses Steele aber begannen ihren Weg zu Fuß. Bis Totnes wanderten sie durch eine klare Märznacht, begleitet vom Enkelsohn der Thorpes, der beim Tragen half, und tausend guten Wünschen ihrer Eltern. Die Mutter, hin- und hergerissen von der ganzen Unternehmung, fürchtete, sie würden niemals an ihrem fernen Ziel ankommen. Daher trugen, falls eine unterwegs verloren ginge, beide Schwestern je ein identisches, klein gefaltetes Papier am Leib, welches die Route, die sie zu nehmen hatten, exakt beschrieb.
In Totnes bestiegen sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen echten, gediegenen Postwagen mitsamt königlichem Wappen und strahlend roten Rädern. Enger als in einem Geflügelkäfig pressten sich in dem geschlossenen Wagen die Leiber aneinander. Vier Fahrgäste waren erlaubt und gebucht, der Postillion hatte jedoch im letzten Augenblick flehentlichen Bitten nebst einigen blanken Silbermünzen nicht widerstehen können und zwei weitere eingelassen. Ein masernkrankes Kind war darunter, wegen dem die Fenster fest geschlossen gehalten werden mussten. Nun mischten sich zwangsläufig die merkwürdigsten Düfte zu einem üblen Gebräu zusammen. In einer Ecke stand ein Korb voller Heringe, die das Meer länger nicht gesehen hatten, ein Schoßhund und drei Gänse waren mit von der Partie, und die Vögel koteten, was das Zeug hielt, kaum dass der Wagen losgefahren war. Derweil packte eine Frau ungerührt kaltes, blutiges Beefsteak aus und begann geräuschvoll zu essen. Es rüttelte und schüttelte, der Wagen machte die unerwartetsten Biegungen. Lucy saß gegen die Fahrtrichtung und konnte von ihrem Platz nicht gut aus dem Fenster sehen, sodass es kam, wie es kommen musste: Ihr wurde sehr, sehr schlecht. Sie wusste kaum, wie sie es ohne sich zu übergeben die ganze lange Fahrt bis Teignmouth durchhielt, wo es endlich eine Pause von zwanzig Minuten gab und nicht nur einen Halt zum Wechseln der Pferde.
Lieber betrat sie nicht den Gasthof, wo die vollkommen fidele Anne die mitgebrachte Mahlzeit einnahm, sich von der Hundebesitzerin ein Bier spendieren ließ und über dasselbe Thema konversierte wie schon zuvor während der Reise. («Oh! Welche Bälle werden wir erleben in Wistlinghurst!») Stattdessen setzte Lucy sich draußen auf ein Mäuerchen in der Sonne, und siehe da, es wurde ihr allmählich besser.
«Ist es noch weit bis Exeter?», fragte sie den Postillion, als er vor die Tür des Gasthofs trat. «Nicht so weit wie von Totnes bis hierher», log dieser, der wohl bemerkt hatte, wie grün sie beim Ausstieg gewesen war, und ihr im Übrigen riet, noch rasch ein Stück Zwieback zu essen. Das sei erfahrungsgemäß besser, als gar nichts im Magen zu haben.
Als Lucy mit dem gekauften Zwieback versehen den Gasthof verließ, Anne im Schlepptau, sah sie, dass sich vor der Post der Kutscher und ein anderer livrierter Mann an einem Rad zu schaffen machten. Es schienen die Speichen nicht in Ordnung zu sein. Noch niemand war eingestiegen. Lucy setzte sich mit der Schwester auf das Mäuerchen, knabberte zaghaft am pappigen Zwieback und beobachtete, wie nach langer Debatte unter den Männern die bereits eingespannten Pferde wieder ausgespannt und ein neuer Wagen vorgefahren wurde. Nun musste sicher umgepackt werden. «Wie ärgerlich!», rief Anne, «wie werden uns verspäten!»
Ihrer Schwester aber war es ganz recht, wenn die Abfahrt sich noch ein wenig verzögerte.
Als endlich alles bereitstand, stellte sich heraus, dass sie und Anne die einzigen Reisenden nach Exeter waren. Man konnte sich endlich in Fahrtrichtung setzen, man konnte aus dem Fenster sehen, man war nicht mehr eingezwängt, dass es einem die Luft abschnürte – Lucy freute sich unter diesen Bedingungen fast, dass es weiterging.
Doch im Augenblick der Abfahrt von Teignmouth geschah etwas, das für alle, die davon betroffen, eine unangenehme Überraschung darstellte. Die Mädchen saßen eben bequem nebeneinander auf der Rückbank. Lucy hielt durchs Fenster den Gasthof im Blick. Der Postillion war aufgestiegen, die Pferde zogen schon an, da hörte man einen Ruf. Der Postillion antwortete etwas, es öffnete sich auf der Seite zum Posthaus hin die Tür des Wagens, ein verspäteter Reisegast stieg eilends zu, ließ sich den Mädchen gegenüber auf die Bank fallen, riss bei ihrem Anblick die Augen auf und war – niemand anderer als Witherspoon. Zugleich rollte der Wagen los.
«Das nenn ich einen Zufall», sprach er, als er sich beinahe gefasst hatte. Man ratterte schon auf guter Fahrt die Hauptstraße entlang, es ging hinaus aus dem Ort, und die schreckensstarre Lucy dachte: In der Tat, was für ein unerhörter, unglaublicher Zufall! – wie man dies, wenn man in der Ferne unvermutet auf Bekannte trifft, häufig zu meinen pflegt, ohne zu bedenken, dass jeder fremde Reisende, dessen Weg man kreuzt, es ebenfalls nur aufgrund eines unglaublichen Zufalls tut.
«Wohin also des Wegs, die Damen?», erkundigte sich der zufällige Mitreisende, spöttisch fast, nur Anne im Blick. «Waren Sie etwa in Ihrer Liebe und Treue auf der Suche nach mir in Teignmouth?»
«Ganz und gar nicht», entgegnete Anne schnippisch.
«Wir sind nämlich unterwegs nach Wistlinghurst. Falls Sie es nicht wissen, Wistlinghurst ist das Landhaus unseres Onkels in Surrey.»
«Und dass wir uns nun hier treffen! Ist das nicht schrecklich artig? ! Fast hatte ich schon befürchtet, wir würden uns niemals mehr wieder sehen. Nicht auszudenken!»
Womit Witherspoon sein braun bezopftes Haupt samt Hut vorbeugte, Annes Hand ergriff und einen Kuss auf dem Handschuh hinterließ. «Oh, Sir!», kicherte Anne, «Sie sind wirklich zu unartig!»
«Oh, in der Tat, war ich nicht schrecklich unartig in letzter Zeit? Sie werden inzwischen gehört haben, dass ich meine Gründe hatte, warum ich, äh, etwas übereilt aufgebrochen bin. Ich hätte dennoch in Totnes auf Sie gewartet, doch mein Eindruck war, Sie würden vielleicht nicht kommen …»
«Ich war auch nicht da», versetzte Anne spitz.
Lucys Augen fielen unterdessen auf den Gürtel Witherspoons, worin ein wenig versteckt unter dem Rock eine große schwarze Pistole stak. Sie bedachte, dass der Mann als Deserteur in Kriegszeiten ebenso gesucht werde wie als Schuldner und dass er womöglich Zeugen, die ihn gesehen und erkannt hatten, zu beseitigen trachten würde. Inzwischen befand man sich weit draußen auf dem Landweg, kein Mensch war zu sehen, nur Wiesen ringsumher und ein Wäldchen, auf das die Kutsche nun zusteuerte. Lucy war höchst unbehaglich zumute, während sie hören musste, wie Witherspoon befand: Anne sei das lieblichste kleine Ding zwischen Plymouth und Exeter, und aufsein Wort, er habe sich mächtig geärgert, dass ihm nun diese Geldgeschichte dazwischengekommen sei; doch aufgeschoben sei nicht aufgehoben. Es möge ihm erlaubt sein, unter seinem neuen Namen eine Korrespondenz mit ihr zu fuhren, bis man, vielleicht in einigen Monaten …, spätestens jedoch im Sommer, oh!, er sei absolut darauf aus, sie im Sommer sein Eigen zu nennen.
«Oh, nein!», rief Anne, alles Glück dieser Welt in der Stimme. «Mein Vater würde mich totschlagen!»
Immer unbehaglicher wurde es derweil Lucy, aber es schien doch eher ein körperlicher Zustand zu sein denn ein seelischer. Gewiss war ihr wieder schlecht. Allerdings hatte ihr Übelsein diesmal sein Zentrum in Kopf und Ohren – und nun erst kam ihr zu Bewusstsein, wie laut und schrill seit der Abfahrt die Räder quietschten.
«Hätten die Damen wohl etwas übrig fur Schmiergeld?», fragte Witherspoon, recht höflich an beide gewandt, als könne er Gedanken lesen. Zwar waren die Mädchen zum Sparen angehalten und Schmiergeld nicht vorgesehen, denn die Mautschranken überall machten das Reisen teuer genug. Doch Lucy, getrieben von den Schauern, welche ihr das Quietschen verursachte, zückte ihren Geldbeutel, was sie im selben Augenblick schon bereute, und entnahm eine kleine Summe.
Witherspoon öffnete die Tür und brachte den Fahrer zum Halten. Während er draußen mit diesem verhandelte, begann Lucy sich noch mehr zu furchten, denn sie wähnte mit einem Mal, der Mann verfolge böse Absichten mit diesem Halt auf freier Strecke. Wenn sie gewusst hätte, wohin, sie hätte die Schwester an der Hand gepackt und wäre geflohen. Endlich kam Witherspoon zurück und lehnte sich an den Türrahmen. Der Fahrer begann fröhlich pfeifend mit Schmieren und lag keineswegs von einer Kugel durchbohrt im Graben, was Lucy beruhigte.
«Die Damen werden verstehen», verkündete Witherspoon und schob sich den Hut zurecht, «dass ich Sie bitten muss, über unser Zusammentreffen vollkommenes Stillschweigen zu bewahren.» – «Du meine Güte, was denken Sie», lachte Anne, «fur wie dumm halten Sie mich!»
«Oh, ich halte Sie für ebenso klug, wie Sie hübsch sind», verkündete Witherspoon. Hierauf kletterte er mit zwei Schritten in den Wagenraum, beugte sich zu Anne, küsste sie zweimal auf den Mund, einmal von der einen, dann von der anderen Seite, sprang nach draußen und marschierte von dannen.
«Oh!», rief Anne, «was fur ein Schelm, dieser Witherspoon!»