Читать книгу Die erste Verlobte - Ruth Berger - Страница 22
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ОглавлениеDie Letztere laß in dieser Nacht stocksteif neben der Schwester. Eine ganze Woche blieb sie ernst, schlaflos und nicht geneigt, des Vergangenen zu gedenken, sei es auch nur mit einem einzigen Wort. Selbst vom Heiraten im Allgemeinen wollte sie durchaus nichts hören, bis am Ende von sieben Tagen durch eine Reihe von Ereignissen die Welt sich so sehr verändert hatte, dass Anne wieder die Alte werden konnte.
Die Überbringerin der ersten wichtigen Nachricht der Woche war Mrs. Thorpe, die Bäckersfrau, welche um der Sensation willen trotz ihrer neuerdings schlechten Knie eigens die Treppe zu ihren Mietern hinaufkletterte. Schwitzend und rosig von der Arbeit stand sie im Türrahmen und blickte auf die in trister Einheit in schlechten Gerüchen versammelten, frierenden Steeles: Sie hätten sicher schon gehört? Sie seien gar selbst Opfer des Ehrlosen geworden, wie der Besuch Witherspoons in den letzten Tagen vermuten lasse? – Er wisse nicht, wovon sie spreche, beschied sie der Lieutenant leicht pikiert, während Anne noch blasser wurde, als sie schon war.
«Du liebe Zeit!», rief Mrs. Thorpe aus, «so wissen Sie es wirklich noch nicht! Der Lieutenant Witherspoon hat sich bei Nacht und Nebel davongeschlichen, ist seit drei Tagen spurlos verschwunden und hat hier fast achthundert Pfund Spielschulden hinterlassen. Wie ein Wahnsinniger hat er gespielt, gemeinsam mit diesem vermaledeiten Fortescue, der auch Schulden hat. Beim Fortescue geht’s in die Tausende, nur, bei dem sauberen Früchtchen wird’s wohl der Herr Vater übernehmen früher oder später, doch wer dem Witherspoon geliehen hat – und er hat sich alles zusammengeliehen, vom ersten Einsatz an, mit den unverfrorensten Lügen hat er’s den Leuten aus der Tasche gezogen! Fast jeder hier hat ihm irgendwann etwas gegeben. Ich hoffe, Sie haben nicht etwa Ihre Ersparnisse …?»
«Nein, keinesfalls. Eine solche Dummheit wäre mir niemals unterlaufen», erklärte der Lieutenant, in jeder Hinsicht erleichtert, ja plötzlich heiterer Laune, denn man konnte sich ja nun geradezu als einer der wenigen Glücklichen in Moreleigh wähnen, denen durch den Schurken kein bleibender Schaden entstanden war.
Den beiden Töchtern allerdings, die eine blass, die andere plötzlich rot, schien die Neuigkeit nicht die Stimmung zu heben. Ebenso wenig der Ehefrau, die seit Tagen aus glasigen Augen die Welt betrachtete und womöglich gar nicht zugehört hatte: Lieutenant Steele begann sich, wie öfter schon, leise Sorgen um sie zu machen.
Am selben Nachmittag ließ ihn der Admiral im Wagen holen, um ihm ein paar Briefe zum Diktat zu geben. Auch in seinem Hause war Witherspoons Verschwinden das allgemeine Gesprächsthema, und Steele konnte sich, ohne das der Familie widerfahrene kleine Missgeschick zu offenbaren, versichern, dass von einer geplanten Versetzung und Beförderung Witherspoons niemals die Rede gewesen war – was übrigens nach den Offenbarungen des Morgens nicht mehr verwundern konnte. Dies befriedigte den Lieutenant sehr. Dem äußerst gewöhnlichen jungen Mann hätte er den Vorzug einer Beförderung noch weniger vergönnt als manch anderen, die ihm das Ärgernis antaten, beim Militär aufzusteigen, nachdem die Ungerechtigkeit der Welt es ihm versagt hatte.
Anderntags ging ein neuer Schlag durch Moreleigh, der diesmal auch die Steeles traf.
Nicht lange zuvor hatte die neu entwickelte, allen Prinzipien der aufgeklärten Menschlichkeit verpflichtete Maschine des Dr. Guillot dem Bürger Louis Capet, ehemals der sechzehnte, mit einem perfekt sauberen Schnitt den Kopf vom Leib getrennt. Da sich dies weit weg in Paris begab und man immer schon wenig von den Franzosen gehalten hatte, deren notorische Sittenlosigkeit seit einiger Zeit erst so recht über die Stränge schlug, war das Ereignis in Moreleigh mit größerem Gleichmut aufgenommen worden als die zur selben Zeit grassierende Maul- und Klauenseuche. Zu Recht, da sie Not über manche Pächterfamilie brachte, während der ehemalige sechzehnte Louis von niemandem vermisst wurde.
Nur der König in London, zum dritten Mal in Serie ein George, vermisste ihn doch. Es ist beunruhigend, wenn einem der Erbfeind, mit dem man vor kurzem noch zwei treffliche Kriege siegreich ausgefochten hat, so plötzlich und ohne eigenes Zutun verloren geht; ja, es erinnert auf fatale Weise an die eigene Sterblichkeit. Besser, gegen die revolutionäre Seuche etwas zu unternehmen, schon damit sie nicht den Ärmelkanal überspringe (nachdem bereits die amerikanischen Kolonien mit infamer Unterstützung des Erbfeinds ihrethalben verloren gegangen waren und nunmehr als so genannte Republik die schönen Profite aus dem unter viel Mühen den Wilden entrissenen Land alleine einheimsten). Also: eingreifen! Dem Erbfeind helfen. Die royalistische Insurrektion unterstützen, Seit an Seit mit den Partisanen der ungeliebten Bourbonen gegen die Revoluzzer! Auch diesmal war ja der Gegner immerhin Franzos. Ließ sich den eigenen Untertanen problemlos verkaufen.
Und so zog fur Krone und König, nur diesmal jene der Franzosen, von einem Tag auf den nächsten das in Moreleigh und Umgebung bereitstehende Bataillon ab, marschierte nach Plymouth und bereitete sich auf die Überfahrt in die Normandie vor.
In Moreleigh machte sich ungläubiges Entsetzen breit. Verlobte, Liebhaber sowie manch schöne Hoffnung eines Weiberherzens verschwanden in eine ungewisse Zukunft, und der Schankwirt wusste nicht mehr, wie die Lieferung bezahlen, die er eben erst bestellt hatte.
Auch im Hause Steele herrschte Katerstimmung. Wie schmerzte der peinliche Fehlschlag mit Witherspoon, da man nun erkennen musste, man werde ihn wohl kaum demnächst durch einen Erfolg anderwärts ausbügeln können. Inzwischen war übrigens auch der Lehrer vergeben, sodass an örtlichen Kandidaten für Anne gleich gar niemand mehr in Frage kam, es sei denn, man wollte sie als künftige Bauersfrau einem Landpächter vor die schäbig bestiefelten, mistverkrusteten Füße werfen.
«Es wird einmal eine andere Kompanie kommen», tröstete Lucy die Schwester und die Mutter, denen die Tränen liefen.
Eigentlich war ihr selbst zum Weinen. Es kam ihr tief im Herzen so vor, als hätte sie seit langer Zeit nur für Fortescue gelebt, jeden Tag nur deshalb begonnen, jeden Weg draußen nur deshalb unternommen, weil sie stets hoffen konnte, einen Blick auf ihn zu erhaschen. Doch als sie bemerkte, wie die Mutter nun Anne von der bislang schamhaft versteckten Rumflasche anbot, da wusste sie, dass ihr heimlicher Mädchenkummer die geringste Schwierigkeit war, mit welcher die Familie zu kämpfen hatte.
Nur einen Tag später traf ein Brief ein, der unter diesen Umständen wie ein Werk der Vorsehung erscheinen musste.
Sie sei gerne bereit, so schrieb Mrs. Lawrence Steele, aus familiärer Verbundenheit die Bitte ihrer vom Schicksal geplagten Schwägerin zu erfüllen und deren Töchter Anne und Lucy für eine Zeit lang, sie denke an ein Jahr, bei sich zu beherbergen. Die auf Wistlinghurst derzeit schon lebende Nichte Daphne Lomax, deren Betragen und Bildung den lernwilligen Cousinen aus Moreleigh zum Vorbild gereichen würden, sehe ihrer Gesellschaft freudig entgegen. Mrs. Steele hoffe, dass die jungen Leute gut Freund miteinander würden.
Ein Pfund Fahrtspesen lag dem Brief bei.
«Oh!», rief Anne, «welch elegante Partys werden wir erleben! Wie viele vorzügliche Beaus werden wir kennen lernen! Und wie wird der Pfarrer unglücklich sein, wenn er erfährt, dass ich Moreleigh verlasse.»