Читать книгу Die erste Verlobte - Ruth Berger - Страница 13
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ОглавлениеMrs. Steele hatte ihren Mann dafür gehasst, dass er die hundertunddreißig Pfund ihres Vaters konfisziert und unerreichbar in die Hände des Admirals gelegt hatte. Doch als Anne zu einem Mädchen von sechzehn, siebzehn Jahren heranwuchs, das kaum noch etwas anderes im Sinn hatte als die Suche nach einem Bräutigam, da war es ihrer Mutter sehr recht, zumindest eine symbolische Mitgift zur Verfügung zu haben.
Die Jahre hatten Anne, ehemals so still, ein wenig lebhafter gemacht. Da ihr das Leben ein neues Ziel beschert hatte, erwachte nun auch Mrs. Steele aus ihrer Lethargie. Ganze Tage verbrachten sie und Anne damit, Frisuren aus- und Kleider anzuprobieren, von denen man vor langer Zeit eine Truhe voll abgelegter aus Wistlinghurst geschickt erhalten hatte. Fast schien es, als sei Mrs. Steele selbst neu zum jungen Mädchen erblüht, wenn sie mit der Tochter scherzend Revue passieren ließ, wer von den Beaus des Dorfes am Sonntagmorgen in der Kirche begehrliche Blicke in Annes Richtung gesandt hatte.
Nun beachtete sie auch ihre kleine Tochter Lucy wieder, die ihr ganz fremd geworden war, denn sie hatte sich all die Jahre wie ein Zigeunerkind von früh bis spät auf Wiesen, im Heidekraut sowie in fremder Leute Häuser umhergetrieben und war selten daheim anzutreffen gewesen. Jetzt aber wurde Lucy gebraucht, gebraucht zu solchen Diensten, fur die sogar ein streunender Nichtsnutz wie sie taugte. Nicht selten zweimal täglich erhielt sie nämlich von der Mutter den Auftrag, mit der Schwester zur Mühle, zum Herrenhaus, zum Fischweiher oder zur Schule und zurück spazieren zu gehen. All diese Spaziergänge, wie die dazugehörigen langen Ruhepausen auf Bänken und auf Mauern, dienten dem einen Zweck: Anne möge von Männern, falls möglich unverheirateten, gesehen und bewundert werden. Die Mutter, die zuvor Lucy barfuß und ungekämmt hatte gehen lassen, flocht ihr nun mit harter Hand die widerspenstigen Locken, kleidete sie sorgfältig und schärfte ihr ein, die wilden Spiele zu unterlassen, denn kein Mann würde Anne zweimal ansehen oder gar heiraten wollen, wenn sie eine ungesittete kleine Zigeunerin zur Schwester habe. Es gab nun kein Hüpfspiel mehr, keine Dämme an Wiesenrinnsalen, kein Gekletter auf Bäume, kein Naschen von wilden Erdbeeren. Lucy wollte schier vergehen vor Langeweile auf den endlosen, stets in den gleichen Bahnen sich bewegenden Spaziergängen. Weil sie gewohnt war, auf Bitten gefällig zu sein, fugte sie sich in das, was man ihr befahl, ohne dass sie jedoch den Sinn aller dieser Maßnahmen und Verbote eingesehen hätte. Einmal, als sie mit ihrer Schwester zum Schulhaus unterwegs war (welches jüngst ein wohltätiger Aristokrat hatte errichten lassen) und als Anne mit Blick auf die Kirchuhr drängte, langsamer zu gehen, damit man den Lehrer beim Herauskommen antreffe, wagte Lucy zu fragen: «Und wenn du den Lehrer nun siehst und wenn er dich dann grüßt, was hast du davon?» Darauf entgegnete ihr Anne zwischen Lachen und Verärgerung: Wenn sie so blöde sei, dies nicht von selbst zu verstehen, dann wisse sie auch nicht, wie sie es ihr begreiflich machen könne.
Wenige Tage waren seit diesem Gespräch vergangen, da trafen die Mädchen, nicht ganz zufällig, den Pfarrer an, wie er aus dem Haus eines Pächters trat (wo man ihn von ferne einige Zeit früher hatte einkehren sehen). «Oh, guten Morgen, Miss Steele – guten Morgen, kleine Lucy», begrüßte er die Schwestern. «Ich musste gerade Mrs. Hapgood fur immer die Augen schließen. Ein trauriger Anlass, nicht wahr?»
«Die Ärmste!», rief Lucy, und Anne bemerkte: «Ich wusste gar nicht, dass sie krank war.» Hierauf der Pfarrer: «Es kam ganz plötzlich über sie, heute früh erst, wie die Bibel sagt: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Aber was rede ich, mit hübschen jungen Damen in der Blüte ihrer Jugend sollte man von solchen Dingen nicht viel sprechen. Sie sollten an andere, schönere Dinge denken, nicht wahr? Dann auf Wiedersehen, Miss Steele, auf Wiedersehen, Lucy, ich muss mich sputen.» Worauf er zügig davon -strebte.
Diese Begebenheit, an welcher Lucy bis auf den Tod der armen Mrs. Hapgood durchaus nichts Bemerkenswertes finden konnte, geriet fur Anne sogleich zu einem Quell unbezwingbarer Freude, wurde bei der Rückkehr nach Hause triumphal und in allen Einzelheiten der Mutter berichtet und zog in der Folge zahllose Anspielungen Mrs. Steeles auf die mutmaßliche Vorliebe des Pfarrers fur Anne nach sich, welche diese mit errötendem, lautem Protest zu quittieren pflegte (obschon sie sie oft genug durch eigene Bemerkungen zu provozieren suchte). Lucy schien das rätselhaft. Sie konnte kaum anders, als diesen Eindruck auf ihre eigene Begriffsstutzigkeit zurückzuführen, welche ihr von den Familienmitgliedern oft genug vorgehalten wurde. Jüngst zum Beispiel hatte sie von ihrem Vater, der über Verwandte in der Grafschaft Surrey gesprochen hatte, die Auskunft erbeten, ob man in jenem Lande Englisch spreche. Der Lieutenant betrachtete sie mitleidig und ein wenig verstört und bemerkte dann, ohne ihr eine Antwort gegeben zu haben, in Richtung seiner mit Nähen beschäftigten Frau: Ob es nicht an der Zeit sei, dem Mädchen eine gewisse Bildung zukommen zu lassen, immerhin sei es jetzt ungefähr acht Jahre alt?, worauf Mrs. Steele beiläufig erwiderte: Lucy habe einen solch wirren Kopf, dass in ihrem Fall durch Bildung wohl nicht viel auszurichten sei. «Im Übrigen», fugte sie noch an, «wissen Sie nur zu gut, mein lieber Steele, dass uns für einen anständigen Unterricht das Geld fehlt. Die eine Stunde wöchentlich bei Miss Clipping, die Anne erhalten hat, würde bei einem so schwerfälligen Geist wie dem Lucys gar nichts bewirken.»
«Sie könnte in diese Schule gehen, die es hier neuerdings gibt», schlug der Lieutenant ohne viel Nachdruck vor.
«Was meinen Sie», entrüstete sich seine Frau, «etwa mit den Bauernkindern? Damit es sich selbst unter den Tagelöhnern herumspricht, dass die zweite Tochter der Steeles schwer von Begriff ist? Was sollte sie auch in dieser primitiven Schule lernen außer Lesen, das sie schon kann. Nein, Lucy wird alle Bildung, die sie braucht, am besten erhalten, indem sie viel zu Hause bleibt und mit uns und ihrer lieben Schwester Umgang pflegt statt mit den albernen, dummen Gossenkindern, mit denen sie sonst ihre Zeit verbringt.»