Читать книгу Die erste Verlobte - Ruth Berger - Страница 20
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ОглавлениеDie gemeine, schmutzige Phantasie Lucys war, um genau zu sein, nicht ihre eigene, sondern die eines verblichenen Mr. Samuel Richardson, dessen Briefroman mit dem Titel Clarissa Lucy einige Monate zuvor im Bücherschrank der Pfarrei hatte stehen sehen. «Ist das ein Buch?», hatte sie verwundert die Pfarrersfrau gefragt, von der es in die Ehe gebracht worden war, und die Frage war berechtigt. Gut und gerne einen Fuß breit, hellbraun-ledrig, alt und behäbig hockte das Opus zwischen schmalen, eleganten Bänden wie eine Kröte.
«Sicher ein Buch. Ein berühmter Roman sogar», erläuterte die Pfarrersfrau. Von Romanen hatte Lucy zuvor mehrfach sprechen hören und geschlossen, es müsse sich um etwas nicht ganz Anständiges handeln, von dem Mädchen sich lieber fern zu halten hätten. Als sie nun aber erfuhr, das Ungetüm im Regal sei ein leibhaftiger Roman, und das in einem frommen Pfarrershaushalt, da wollte sie in den schweren Brocken durchaus hineinsehen.
Sie sei ein wenig jung für solche Lektüre, bemerkte die Pfarrersfrau, die fürchtete, wenn Lucy einmal hineingesehen habe, dann werde sie es gleich auch geliehen haben wollen. Ungern sah sie ihr Lieblingsbuch in die schäbige Rumpelkammer verschwinden, welche die Familie Steele ihre Wohnung nannte. Doch sie hatte selten jemanden mit so großen und sehnsüchtigen Augen einen breiten Buchrücken betrachten sehen, wie es Lucy an jenem Vormittag tat, und als das Mädchen sich wenig später zum Gehen anschickte, überkam sie die Barmherzigkeit. Ich habe es dreimal gelesen, dachte sie, ich hatte meine Freude daran, soll nun Lucy die ihre haben. So erhielt diese den schweren Brocken überrascht und glücklich in den Arm gelegt, mit der Maßgabe: Zu Martini des Folgejahres müsse er zurück sein.
Früher wäre kaum angebracht gewesen, denn mit Clarissa verhält es sich so, dass manche Briefe der Hauptpersonen, vorgeblich in einem Tag geschrieben, zwei oder drei brauchen, um gelesen zu werden. Damen, die weiter keine Beschäftigung haben, bringen leicht ein halbes Jahr mit der Lektüre von Clarissa zu. Sie empfinden das als reines Glück. Buchstäblich Tausende von Leserinnen haben Mr. Richardson zu seinen Lebzeiten fur seine endlosen Briefromane gedankt, indem sie ihm eigene lange Briefe schrieben, denn das brennendste Problem von Damen war und ist ja stets, sich die Zeit zu vertreiben, von der sie so entsetzlich viel besitzen.
Lucy allerdings, von der noch fraglich ist, ob sie den Namen Dame verdiente, war nicht die geübteste Leserin und hatte zu jeder Stunde des Tages irgendeinen Auftrag ihrer Mutter zu erledigen, während abends am Licht gespart werden musste. Ihr Fortschritt in dem dicken Wälzer war mäßig. Wie man schon ahnt, war sie jedoch inzwischen immerhin bis zu der Stelle gediehen, da die edle Clarissa Harlowe mit dem schönen, leider verdorbenen Robert Lovelace aus dem Elternhaus entflieht und von ihm nirgendwo sonst hin als in ein Bordell verfrachtet wird. Lucy konnte kaum anders, als hieraus Befürchtungen für das Schicksal ihrer Schwester abzuleiten.
Von Anne einer bösen und schmutzigen Phantasie bezichtigt, gestand sie dieser nun flüsternd auf dem Treppenabsatz der Witwe Thorpe, woher ihre Weisheit komme.
Wenn sie geglaubt hatte, ihrem Rat auf diese Weise größere Autorität zu verleihen, so hatte sie darin allerdings gefehlt.
Anne, regelrecht erleichtert, lachte aus voller Kehle. «Du liebes, süßes Dummerchen», schalt sie, plötzlich flüsternd, weil ihr jetzt die Eltern oben hinter der Tür wieder einfielen. «Jedes Kind weiß: Bücher sind Bücher, sie sind nicht die Wirklichkeit! Genauso gut kannst du glauben, was in den Fabeln und Märchen erzählt wird. Aber ist dir schon mal ein sprechender Fuchs begegnet? Oder ein Reh, das sich in einen Menschen verwandelt? Siehst du. – Witherspoon mich ins Bordell bringen! Dass ich nicht lache! Sterben würde er vor Eifersucht.»
Und während Anne insgeheim beschloss, dass sie im schlimmsten Fall lieber das erregende und tragische Schicksal einer Romanheldin erleiden wollte, denn als alte Jungfer zu vertrocknen, musste Lucy sich eingestehen, dass Witherspoon dem Lovelace nicht im Geringsten ähnelte, ebenso wenig wie ihre Schwester der Clarissa Harlowe. Womöglich hatte die Mutter doch Recht mit ihrer ewigen Litanei, alles Lesen in dem Schinken schade nur Lucys Augen und verwirre ihr den Kopf, bis sie noch dümmer davon werden würde, als sie ohnehin schon sei.
So schwiegen die Schwestern furderhin in der Sache. Und während unaufhaltsam der Tag näher rückte, an welchem Anne mit ihrem Witherspoon entfliehen wollte, wurde Lucy voll schlechten Gewissens nicht selten träumend zu Clarissas und ließ sich willig von jemandem entfuhren, von dem sie nicht wusste, ob er mehr Fortescue oder mehr Lovelace glich. Immer aber ging die Geschichte am Ende gut aus.