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Während des Balls war Anne von einer der jungen Damen aus dem Herrenhaus zu einem Tagesausflug nach einer für verspukt geltenden Burgruine gebeten worden – so jedenfalls erzählte sie zu Hause. Im Verlauf ebenjenes Ausflugs, von welchem sie hernach berichtete, die Burg wirke sehr malerisch und Fortescue sei, obwohl mundfaul wie stets, kaum je von ihrer Seite gewichen, erhielt sie eine neue Einladung, diesmal zu einem geselligen Abend mit Kartenspiel im Herrenhaus. Ihre gesamte Familie war, als sie dies vernahm, höchst zufrieden, die älteste Tochter so gut in die Gesellschaft eingeführt zu sehen.

Von der Kartengesellschaft kehrte Anne sehr spät heim. Sie kam zu Fuß, wie sie gegangen war. Man habe sie zwar mit dem Wagen gebracht, wie zu so später Stunde dringend nötig, doch nur bis an die Ecke.

Lucy konstatierte bei sich, dass ihre Schwester keine Anstalten machte, von ihren Erfolgen des Abends zu berichten, wiewohl sie sich in äußerster, wohlgelaunter Erregung befand – was bei ihr sonst stets mit frenetischer Gesprächigkeit einherzugehen pflegte. Dies schien Lucy sehr merkwürdig. Am nächsten Morgen, das Wetter war für die winterliche Jahreszeit mild, schlug sie Anne einen gemeinsamen Spaziergang vor. Die Ältere willigte ein. Beide Mädchen wanderten, auf zum Glück trockenem Grund, in Richtung der Park- und Gartenanlagen des Admirals, welche Lucy stets offen standen, da sie, wie Sir Horatio öfter bemerkte, die Einzige sei, die sein Obst gebührend zu schätzen wisse. (Vor Jahren war sie ihm einmal als Delinquentin vorgeführt worden, nachdem der Gärtner sie beim Pfirsichessen ertappt hatte.) Die Anlagen besaßen den Vorzug, zu dieser Tagesund Jahreszeit meist menschenleer zu sein.

Sobald man sich unter kahlen Kirschbäumen und ganz gewiss in niemandes Hörweite mehr befand, begann Lucy ohne Umschweife: «Willst du mir nicht erzählen, was gestern Abend vorgefallen ist? Irgendetwas muss doch geschehen sein. Du schienst mir so glücklich und so aufgeregt.» «Oh», rief Anne, «ich kann kaum leugnen, dass ich schrecklich glücklich bin! Doch quäle mich nicht mit Fragen, ich habe versprochen, niemandem etwas zu verraten!»

«Es ist also ein Geheimnis?» – «Ja.» – «Ein Geheimnis zwischen dir und einem Mann?» – «Oh, du böses Mädchen, woher kannst du das nur wissen?»

«Weißt du, Nancy, es ist so gut wie unmöglich, Geheimnisse vor seiner eigenen Schwester zu haben. Ich habe sogar neulich gelesen, Geheimnisse zwischen Schwestern seien geradezu unnatürlich. Wer auch immer dich beschworen hat, es niemandem zu sagen, kann damit nicht gemeint haben, dass du es auch mir verschweigen sollst! Es sind wahrscheinlich unsere Eltern, an die er gedacht hat und die es nicht wissen dürfen.»

«O tatsächlich, ich glaube, du hast Recht. Er hat nämlich genau Folgendes gesagt: Nancy, meine Liebste, hat er gesagt, du musst unter allen Umständen verhindern, dass deine Eltern nur das Geringste erahnen!»

«Und was ist es also, das sie nicht wissen sollen?»

«Oh, Lucy, du wirst es niemals erraten! Es ist alles so schrecklich romantisch\»

«Wenn es heimlich ist und romantisch, dann kann es eigentlich nur eines – oder nein. So etwas Wichtiges wird es doch nicht sein.»

«Rate, Lucy, rate! Wenn du es errätst, dann kann er mir nicht vorwerfen, ich hätte es ausgeplaudert.»

«Es ist doch nicht etwa ein heimliches Verlöbnis?»

«Doch! Wie bist du nur daraufgekommen? Es ist aber sogar mehr als nur ein Verlöbnis. Wenn du es genau wissen willst: Wir werden morgen in zwei Wochen heiraten! Oh, ich bin so glücklich, dass ich fliegen könnte!»

Lucy, der ebenfalls die Füße nicht mehr sicher auf der Erde hafteten, steuerte eine efeuumrankte Laube an und ließ sich dort mit ihrer Schwester nieder, deren Hand sie ergriff. Sie sprach wenig, während Anne in einem steten, gluckernden Redefluss, durchbrochen von zahlreichen Ausrufen des Entzückens, die ganze Geschichte ans Licht brachte: Wie niemand anderes als Er sie auf den Ausflug zu der Burgruine geladen, wie sie diese niemals gesehen, da Er sich an diesem Tage unwohl befunden und seinen Wagen im nächsten Dorf vor der Gastwirtschaft angehalten habe, um dort zu ruhen, wie Er sie, erst schüchtern, dann forsch, sehnlichst gebeten hatte, nicht mit seinen Freunden weiterzufahren, sondern ihm hier Gesellschaft zu leisten und ihm mit feuchten Umschlägen die heiße Stirn zu kühlen. Wie sie daraufhin an seinem Bett gesessen und zum ersten Mal wirklich mit ihm gesprochen habe und dabei erkannt, wie viel sie gemeinsam hätten, wie er nach zwei oder drei Stunden vorsichtig nach ihrer Hand gegriffen und diese fur den Rest des Tages in seiner gehalten habe, wie er, als es galt, sich für den Rückweg bereitzumachen, ihre Hand erst losgelassen, nachdem er sie an seine Lippen gefuhrt und auf eine unerhörte Weise geküsst habe, die ihr am ganzen Körper Gänsehaut verursachte, und wie dies alles, oh!, schrecklich artig gewesen sei. Hier stutzte Lucy. «Sprichst du etwa von Witherspoon?», fragte sie.

Anne warf ihr einen verständnislosen Blick zu. «Dummerchen, von wem sollte ich denn sonst sprechen als von Witherspoon?»

«Du hast Recht», gestand Lucy erleichtert zu, «ich war irre, denn wenn es Fortescue wäre, gäbe es keinen Grund, es vor unseren Eltern geheim zu halten. Ich dachte nur – ich hatte eben ein wenig geglaubt, dir gefiele Fortescue besser.» – «O nein», entgegnete Anne ohne Zögern, «Fortescue ist ein saurer Hering, sagt Witherspoon.»

Diese unschmeichelhafte Bezeichnung desjenigen, den sie heimlich liebte, tat Lucy umso mehr weh, als sie sich zugeben musste, sie sei weder ohne Esprit noch komplett unpassend. Im Augenblick allerdings gab es Wichtigeres, worum sie sich zu kümmern hatte. Sie ließ sich von ihrem Verdruss nichts anmerken und befragte Anne weiter über das Geschehene und ihre Absichten. So hörte sie: Die Kartenparty im Herrenhaus habe nie stattgefunden und sei nur ein Vorwand gewesen, um abends alleine ausgehen und sich mit Witherspoon an der alten Mühle treffen zu können. Dort hatte er unter einiger Agitation berichtet: Er sei für die übernächste Woche von seinem hiesigen Bataillon nach Blackpool abkommandiert, wo er zum Captain befördert werden solle. Dies scheine ihm, oh!, schrecklich gemein, denn wie um alles in der Welt solle sein liebendes Herz die Trennung von Anne verkraften? Er wage kaum zu hoffen, doch er bitte sie inständig, ihm die Qual der Trennung nicht zuzumuten, sondern, wenn der Termin herankäme, bei Nacht und Nebel gemeinsam mit ihm nach Norden aufzubrechen, um ihn noch, bevor er seine neue Stellung anträte, in Gretna Green zu heiraten.

In Lucy regte sich das ungute Gefühl, ein so heimliches Unterfangen könne nicht glücklich enden. Nur wusste sie nicht, wie sie ihre Schwester hiervon überzeugen sollte. Kein einziger guter Grund fiel ihr ein außer eben ihrem Gefühl, von dem sie gar nicht sicher war, ob es nicht trog. Was schließlich ließ sich gegen Witherspoon sagen, als dass er den niederen Ständen angehörte, ein Einwand, den sie keine zwei Wochen zuvor selbst verworfen hatte, und weiter, dass er ihr nicht sympathisch war, doch was konnte dies bei Anne zählen, bei der es sich offenbar anders verhielt und die ihn wesentlich besser kannte, als sie es tat. Gut, eine heimliche Verlobung war gewagt und höchst unziemlich, doch verständlich unter solchen Bedingungen. Von einer Tante wusste Lucy inzwischen, dass ihre eigenen Eltern in dieser Hinsicht gesündigt hatten und demnach wahrscheinlich Milde walten lassen würden, wenn man sie nach erfolgter Heirat mit den vollendeten Tatsachen konfrontierte. Möglich, dass Lucys ungutes Gefühl nichts weiter war als eine winzig kleine schwesterliche Eifersucht. Sie war noch immer ein Kind mit ihren zwölf Jahren (es mochten auch dreizehn sein; ihre Eltern waren sich nicht mehr ganz sicher, in welchem Jahr sie geboren war). Sie also konnte von heimlichen Liebschaften, gehaltenen Händen und küssenden Lippen nur träumen, während ihre Schwester all dies in der greifbaren Wirklichkeit erlebte.

So behielt sie ihre Zweifel und dunklen Ahnungen für sich, riet aber doch Anne sehr eindringlich, sich den Eltern sofort zu offenbaren, die vielleicht nach Prüfung aller Umstände erkennen würden, dass die Partie trotz allem eine akzeptable war. Hiervon wollte jedoch Anne nichts wissen, die gerade dies eine ausdrücklich Witherspoon versprochen hatte: die Sache vor ihren Eltern geheim zu halten.

Sei es dann nicht besser, gab Lucy zu bedenken, die Heirat um ein paar Wochen zu verschieben, statt einen Skandal zu verursachen und ohne ein Wort nach Gretna Green zu fliehen? Warte man die Beförderung Witherspoons ab, so ließe sich die Zustimmung ihrer Eltern zu der Ehe ohne Zweifel gewinnen.

Ein solches Vorgehen hatte Anne noch gar nicht erwogen. Geduldiges Zureden Lucys brachte sie am Ende tatsächlich so weit, es, wenn nicht schrecklich artig, so doch recht vernünftig und bedenkenswert zu finden, die Heirat, bis sich die Zustimmung der Eltern erhalten ließe, aufzuschieben. Sie wolle, versprach sie zum Schluss, Witherspoon bei nächster Gelegenheit fragen, was er davon halte.

Empfindlich unterkühlt und verspätet für die Mittagsmahlzeit wanderten die Schwestern nach Hause. Dort schalt Mrs. Steele Lucy: Sie habe wohl einmal mehr die arme Nancy zur Säumigkeit gezwungen, und es werde Zeit, dass sie ihre wilden, zügellosen Spiele auf anderer Leute Grund und Boden endlich aufgebe, es ihrer großen Schwester gleichtue und sich in eine sittsame, manierliche junge Dame verwandele, die ihren Eltern keine Schande bereite.

Die erste Verlobte

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