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Tag 93
Оглавление13. März 2014
Manfred Götzl, Richter. Ismail Yozgat, 58, Vater des Mordopfers Halit Yozgat. Er trat bereits an den Tagen 41, 80 und 91 auf. Jana J., 33, Sozialarbeiterin aus Berlin. Wolfgang Heer, Verteidiger von Beate Zschäpe. Alexander Kienzle, Anwalt der Nebenklage
(Zunächst gibt Ismail Yozgat eine Erklärung ab, die von einem Dolmetscher übersetzt wird.)
Yozgat Sehr geehrter Herr Vorsitzender, ich bin Ismail Yozgat, der Vater des 21-jährigen Halit Yozgat, der unschuldig in Deutschland getötet wurde. Ich habe das Video mit Temme gesehen. Als er das Geld auf den Tisch gelegt hat, war der Tisch 73 cm hoch. Ich vermute, dass Temme 196 cm groß ist. Warum hat er nicht gesehen, dass Halit hinter dem Tisch liegt, als er das Geld auf den Tisch legt? Warum hat er den Blutstropfen auf dem Tisch nicht gesehen? Was Temme erzählt, kommt mir nicht glaubhaft vor. Mein einziger Sohn wurde am 6.4.2006 durch zwei Kugeln in den Kopf erschossen. Er verlor sein Leben in meinen Armen. Wenn ich nach dem Mord zum Einkaufen in die Stadt fuhr, haben uns die Leute, egal ob Deutsche oder Türken, böse angeschaut, als seien wir schlechte Menschen. Wir sollen Drogen verkauft, Geldwäsche betrieben haben. Es hieß, unser Sohn wurde deshalb erschossen, weil wir krumme Geschäfte betrieben haben. Auch die Zeitungen schrieben das. Wenn wir in den Urlaub in die Türkei fuhren, hörten wir auch dort die gleichen Dinge. Aber wir sind eine aufrichtige Familie und haben all diese Beschuldigungen nicht verdient. Ich habe den Polizisten gesagt, dass die Mörder Ausländerfeinde waren, sie glaubten mir das aber nicht. Das Einzige, was die Polizei damals tat: Sie ermittelte die Einkommensverhältnisse der Familie Yozgat und unterzog uns DNA-Tests. Wir haben zum allmächtigen Gott gebetet: Befreie uns von diesen falschen Beschuldigungen. Ende 2011 kam die Sache mit Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe heraus: Die Mörder waren gefasst, wir wurden von den falschen Beschuldigungen befreit, der allmächtige Gott hat unseren Gebeten entsprochen.
Verteidiger Heer (unterbricht): Bei allem Verständnis für die Familie Yozgat und das Bedürfnis, sich hier zu äußern. Aber wenn unsere Mandantin hier als Mörder bezeichnet wird, muss ich das beanstanden.
Götzl Herr Yozgat, was das Verfahren angeht, haben Sie keine anderen Rechte als alle anderen Verfahrensbeteiligten. Herr Rechtsanwalt Kienzle, da sind vor allem Sie gefordert. Ich habe volles Verständnis, da Herr Yozgat ja kein Jurist ist.
Anwalt Kienzle Herr Yozgat hat aber ein eigenes Erklärungsrecht. Selbst wenn man das hier formaljuristisch sieht, bewegt sich Herr Yozgat in weiten Teilen im Rahmen.
Götzl Dann fahren Sie fort, Herr Yozgat.
Yozgat Die auf uns gerichteten Blicke haben sich geändert. Wir wurden zu einer Familie, mit der alle Mitleid hatten. Am 23. Februar 2012 hatte Frau Bundeskanzlerin Merkel zum Märtyrergedenktag alle Familien nach Berlin eingeladen. Ich habe dort drei Wünsche mitgeteilt: 1. Die Festnahme und Verurteilung der Mörder, 2. Die Umbenennung der Holländischen Straße in Kassel in Halit-Straße, 3. Gründung einer Stiftung für diese zehn Märtyrer. Bezüglich des ersten Wunsches vertraue ich vollkommen Ihrem Hohen Gericht. Die Erfüllung meines zweiten Wunsches ist fraglich. Zum dritten Wunsch: Nach Beendigung dieser Verhandlung werden wir versuchen, für die zehn Märtyrer eine Stiftung zu gründen. Wir als Familie Yozgat haben vom Staat kein Geld bekommen. Sie haben es uns angeboten, aber wir haben es nicht akzeptiert. Wir wollen kein Geld. Wir haben einen einzigen Wunsch: die Umbenennung der Holländischen Straße in Halit-Straße. Er kam am 6.2.1985 in der Holländischen Straße auf die Welt, und er wurde dort am 6.4.2006 getötet. Er ist im selben Haus auf die Welt gekommen und gestorben. Der verehrte Herr Oberbürgermeister von Kassel und seine Gruppe haben uns den Halitplatz gegeben. Ihnen danke ich. Aber sie haben uns nur gegeben, was sie wollen. Nicht, was wir wollen. Wir wollen nur, dass die Holländische Straße in Halit-Straße umbenannt wird. Wenn eine Verurteilung der Mörder unseres Sohnes erfolgt, soll auch bei diesem hohen Gericht eine Entscheidung über die Umbenennung der Holländischen Straße in Halit-Straße erfolgen. Sehr geehrter Vorsitzender, hoher Senat, wenn Sie darüber entscheiden, werde ich als Vater des Märtyrers Halit die Angehörigen der verstorbenen Mundlos und Böhnhardt zur Eröffnungsfeier der Halit-Straße einladen. Wir werden gemeinsam weiße Tauben hochfliegen lassen. Unser einziges Ziel ist: Es sollen keine Menschen mehr getötet werden. Sehr geehrter Herr Vorsitzender, der Ball liegt nun bei Ihnen. Wenn Sie eine historische Entscheidung treffen, werden Freundschaft und Menschlichkeit siegen.
Götzl Ich muss Ihnen gleich sagen: Wenn Sie Hoffnungen haben, wir hätten hier Einfluss auf die Benennung der Holländischen Straße – das ist nicht der Fall. Das ist ausschließlich Sache der örtlichen Behörden. Die Einzelheiten wird Ihnen Ihr Anwalt erklären.
(Jana J. tritt in den Zeugenstand.)
Jana J. Mit Beate Zschäpe war ich nicht näher bekannt, ich bin ihr ein paar Mal begegnet, war einmal auch mit ihr in der Disco. Also, zu ihr kann ich eigentlich nicht viel sagen. Das ist ungefähr 17 Jahre her.
Götzl Sie sagen Disco – gab es sonstige Gelegenheiten?
Jana J. Bevor wir in die Disco gefahren sind, haben wir uns bei ihr in der Wohnung getroffen. Es waren noch zwei andere Mädchen da. Ansonsten kann ich mich an zwei Sachen erinnern: Erdbeerschaumwein, weil ich den unfassbar eklig fand. Und dass sie eine Pistole hatte, ich weiß aber nicht, ob es eine echte war.
Götzl Können Sie die Pistole noch beschreiben?
Jana J. Eine Pistole halt. Sie hat sie ihre »Walli« genannt.
Götzl Eine etwas ungewöhnliche Situation.
Jana J. Auf jeden Fall. Aber so sehr habe ich mich auch nicht gewundert. Die ganze Generation war waffenaffin, die hat in der DDR Handgranatenweitwurf üben müssen.
Götzl Laut Ihrer polizeilichen Vernehmung soll André Kapke Ihnen geraten haben, sich von Beate Zschäpe fernzuhalten.
Jana J. Ja, das stimmt. Das hat der André geraten. Ihr eilte der Ruf voraus, sie sei intrigant. Ich konnte das nicht selbst bestätigen.
Götzl Haben Sie weitere Kontakte mit Frau Zschäpe in Erinnerung?
Jana J. Es ist deutlich geworden, dass sie mit Mundlos und Böhnhardt sehr eng befreundet ist. Und dass dieses Verhältnis exklusiv war, sie wurden auch immer als »die drei« bezeichnet.
Götzl Können Sie das näher ausführen?
Jana J. Die Relevanz der drei war erst nach dem Untertauchen richtig deutlich. Es war danach so eine Sensationsstimmung. Die ganze Szene hatte plötzlich eine andere Wichtigkeit.
Götzl Welche Rolle hat Gewalt in der damaligen Szene als Mittel der Auseinandersetzung gespielt?
Jana J. Gewalt war, glaube ich, immer irgendwie streckenweise ein Thema. Es gab viele Skinheads, die sich geschlagen haben. Mit André (sie meint André Kapke) hatte ich einen Streit über eine Situation, wo zwei Mädchen angegriffen worden sind. Ich glaube, wir hatten uns mit denen getroffen, das war auch in der Folge von Auseinandersetzungen, die es zwischen Linken und Nazis gegeben hat in der Zeit. Wir haben mit den Mädchen Tee getrunken, und auf dem Nachhauseweg sind die beiden angegriffen worden. André hat abgestritten, dass es eine Falle war, aber ich denke, es war doch eine.
Götzl Was hatte es mit der Geburtstagszeitung auf sich für André Kapke? (Es geht um eine mit rechtsextremistischen Anspielungen bestückte, selbst gefertigte »Zeitung«, die Jana J. und Ralf Wohlleben in der Zeit nach dem Untertauchen des Trios erstellt haben sollen.)
Jana J. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie die entstanden ist. Ich habe seit gut fünfzehn Jahren nichts mehr mit dieser Szene zu tun. Ich schäme mich auch für die Zeitung, mir ist echt das Herz in die Hose gerutscht, als ich das gesehen habe. Aber ich hatte nie Mordfantasien, ich lese das als Parodie auf die Bild-Zeitung. Das basiert nicht auf Ernst.
Götzl Stichwort Todesliste. Warum spielte das Thema dort in der Zeitung eine Rolle?
Jana J. Ich werte das als ironische Überspitzung dieser ganzen Klischees. Wir haben uns damals ja in einer Opferrolle gesehen. Ich schäme mich für diese Zeitung. Ich war selber nie gewalttätig, aber mit diesem Habitus hat man schon kokettiert. Aus meiner Perspektive heute ist es total pubertärer Schwachsinn. Wenn es ernst gemeint gewesen wäre mit der Todesliste, dann wäre da nicht Mona Lisa und Godzilla gestanden.
(Im Stile einer Boulevardzeitung enthielt die »Geburtstagszeitung« Schlagzeilen. In einem Text mit der Überschrift »Top-Terrorist schwört Rache« geht es um eine angebliche Hausdurchsuchung bei André Kapke. Dabei sei eine Todesliste gefunden worden, auf der Mona Lisa, Godzilla, Ignatz Bubis, Gerhard Schröder, Helmut Kohl gestanden hätten.)
Ich finde es schwierig, wenn man das linear einordnet in die Ereignisse. Dass es mit dem, was heute über die Taten bekannt ist, eine andere Konnotation bekommt, kann ich nachvollziehen. Ich kann nur beteuern, dass das definitiv nicht ernst gemeint gewesen ist.
Götzl Die Zeitung ist ja für André Kapke gemacht worden. Was können Sie denn zu den Ansichten Kapkes sagen?
Jana J. Er ist ja auch damals schon als Neonazi bekannt gewesen. Ich hatte mit ihm eine enge Freundschaft, die das Politische zwar tangiert hat, aber vorwiegend das Persönliche betraf. Zu dieser Zeit habe ich ihn als nicht gefährlich gesehen. Er hat mir damals erzählt, dass die Verfolgung aufgrund einer Rasterfahndung passiert, wie bei der RAF. Das bedeutet dann halt Terrorismusfahndung. Ich hab André Kapke nicht als Terroristen wahrgenommen. Das mag daran liegen, dass man die Ereignisse der Zukunft nicht sehen konnte, oder an der Naivität in dem Alter. Aber er war ein Freund, mit dem ich ganz andere Dinge verband, nicht ein gefährlicher Mensch. Ich will diese Zeitung nicht bagatellisieren, trotzdem ist es schwierig zu erklären, dass wir diese Verfolgung damals als Unrecht empfunden haben. Heute sehe ich das alles anders. Es war eine feindselige, recht zynische Sprache, das haben wir alle gut verstanden.
Götzl Aus heutiger Sicht sehen Sie alles anders?
Jana J. Ich habe, als ich Ende 1998 mein Fachabi angefangen habe, mich zunehmend weiterentwickelt, wegentwickelt von der Szene, das war ein Prozess. An dem hatte André auch teil, das war kein Konflikt. Ich sehe es heute ganz anders, auch in Anbetracht der Taten, die offenbar geworden sind. Die einfach grausam sind. Aus heutiger Sicht, kann man sagen, war diese Verfolgung ganz sicher gerechtfertigt. Drei haben Straftaten verübt, sind untergetaucht, und ein ganzes Umfeld wird dafür kriminalisiert – das war die Perspektive damals. Mit dem Wissen heute erscheint das alles in anderem Licht. Ich wusste bis zu Andrés Aussage nicht, dass er Kontakt hatte und Telefonzellen-Netze kannte. Das hab ich damals einfach nicht gewusst.
Götzl Wie war Ihre eigene politische Einstellung damals? Erzählen Sie bitte!
Jana J. Ich hatte einen rasanten Abstieg mit meiner Mutter hingelegt, wir sind aus einer schönen Wohnung weggezogen in eine kleine Wohnung im Jenaer Stadtteil Lobeda, wo die Nazis unterwegs waren. In meinem Milieu ist es so gewesen, dass Fremdenfeindlichkeit eigentlich üblich war. Ich hab das unreflektiert übernommen.
Götzl Wie war damals die politische Einstellung André Kapkes?
Jana J. Ganz klar nationalistisch. Rassistisch, würde ich aus heutiger Sicht auch sagen. Damals habe ich ein anderes Empfinden von angemessen und unangemessen gehabt. Er war jemand, der auch relativ aktiv war. Er war einer der wenigen, der auch ein Mobiltelefon besaß. Ab 1998 haben wir auch zunehmend diskutiert miteinander. Ich weiß, dass wir über die Asylgesetzgebung diskutiert haben. Da hab ich mich auch schon ein bisschen näher befasst mit Legende und Realität. Es war da Konsens: Asylanten gefährden Arbeitsplätze, kriegen alles in den Hintern geschoben. Wir haben da diskutiert, als ich gemerkt habe, die Asylgesetzgebung bedeutet all das eben nicht. André hatte eben die Einstellung, dass nationale Interessen vorgehen müssen. Meine Haltung war zunehmend, dass ich ihm gesagt habe: Ey, André, wir haben alle nur ein Leben. Ich verstehe, dass jemand nicht in schlimmsten Umständen, bedroht von Hunger und Krieg, leben will. Dass jemand versucht, so einem Leben zu entfliehen. Ich erinnere mich, dass André mich dann häufiger »elende Humanistin« genannt hat.