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Tag 72
Оглавление8. Januar 2014
Manfred Götzl, Richter. Alexander S., 33, Groß- und Außenhandelskaufmann aus Hannover. Seine Frau hatte dem Angeklagten Holger Gerlach eine AOK-Karte verkauft, die Gerlach an Beate Zschäpe weitergab. Thomas Bliwier, Alexander Hoffmann, Anwälte der Nebenklage.
Götzl Dann setzen wir im Verfahren fort. Ich darf Sie begrüßen. Wir kommen zum nächsten Zeugen. (Der Zeuge Alexander S. wird in den Gerichtssaal gerufen.)
Götzl Herr S., es geht um die AOK-Karte, die Ihre Frau an Herrn Gerlach übergeben haben soll. Was können Sie dazu sagen?
Alexander S. Herr Gerlach hat uns gefragt, ob meine Frau ihre Versicherungskarte verkaufen würde.
Götzl Ja und?
Alexander S. Meine Frau hat dem zugestimmt und wir haben 300 Euro dafür erhalten.
Götzl Können Sie ein bisschen ausholen? Die Umstände, die Situation, wie es kam.
Alexander S. Genaue Erinnerungen habe ich so nicht mehr. Es war ein gemeinsames Zusammensitzen bei Herrn Gerlach oder bei uns. Ein feuchtfröhlicher Abend.
Götzl Wie ist der Abend verlaufen? Wie kam es dazu? Können Sie da ins Detail gehen?
Alexander S. Ich kann schlecht ins Detail gehen. Der Abend war feuchtfröhlich, eine genaue Erinnerung habe ich nicht.
Götzl Was ist denn noch in Erinnerung?
Alexander S. Dass wir zu dritt zusammensaßen und Herr Gerlach meine Frau gefragt hat, ob sie ihm für 300 Euro ihre Karte gibt.
Götzl Hat er gesagt, wofür er die benötigt?
Alexander S. Nein.
Götzl Ist von Ihnen oder Ihrer Frau nachgefragt worden?
Alexander S. Nein.
Götzl Wieso nicht?
Alexander S. Es hat mich zum damaligen Zeitpunkt nicht interessiert.
Götzl Haben Sie Überlegungen angestellt, wofür Herr Gerlach die Karte brauchen könnte?
Alexander S. Nein.
Götzl Erinnern Sie, wann der Abend war?
Alexander S. 2005, 2006, irgendwie so was.
Götzl Sind Sie nach der Übergabe der Karte noch in der Wohnung geblieben?
Alexander S. Habe keine Erinnerung mehr.
Götzl Aber Sie haben doch Erinnerung, dass es feuchtfröhlich war?
Alexander S. Ich habe Schwierigkeiten, den einen Abend herauszupicken. Es gab viele solcher Abende.
Götzl Wie sahen solche Abende aus? Was wurde konsumiert?
Alexander S. Alkohol. Ich weiß nicht mehr, ob ich Warsteiner oder Gilde Ratskeller getrunken haben.
Götzl Wie sah es mit Konsum von Herrn Gerlach aus?
Alexander S. Beim Alkohol hat er sich sehr zurückgehalten.
Götzl Wo hat er sich nicht zurückgehalten?
Alexander S. Beim sonstigen Konsum.
Götzl Was hat er konsumiert?
Alexander S. Amphetamine vorwiegend. Das waren zum damaligen Zeitpunkt schon recht hohe Mengen. Am Ende eines Abends war er sehr durch den Wind.
(Er lacht kurz auf.)
Götzl Was heißt das?
Alexander S. Er war redefreudig, hatte Ausfallerscheinungen. Einen hohen Bewegungsdrang. Schlechte Konzentration.
Götzl Was muss ich mir drunter vorstellen?
Alexander S. Hibbelig sein, hyperaktiv sein, würde ich bei einem Kind sagen.
Götzl Wie lange kannten Sie Herrn Gerlach damals schon?
Alexander S. Schon ein paar Jahre. Auf einer Geburtstagsfeier habe ich ihn kennengelernt. Um das Jahr 2000 herum.
Götzl Wo lagen Ihre Gemeinsamkeiten?
Alexander S. Konzertbesuche, Kino, Clubbesuche, elektronische Musik.
Götzl Gab es auch im politischen Bereich Gemeinsamkeiten?
Alexander S. Konzertbesuche. Wir sind gemeinsam auf Demos gegangen.
Götzl Können Sie da ein bisschen ausholen?
Alexander S. Wir waren nie gemeinsam organisiert. Ich war im Hildesheimer Raum in einer Kameradschaft aktiv. Von der wurden die Fahrten organisiert.
Götzl Können Sie auch zu Ihrer eigenen Einstellung was sagen?
Alexander S. Wir hatten damals eine nationalsozialistische Einstellung.
Götzl Was beschreiben Sie damit?
Alexander S. Konkret war man daran interessiert, die Gesellschaft dahingehend zu verändern, dass sie sich zu einer nationalsozialistischen entwickelt.
Götzl Was bedeutet das? Was haben Sie angestrebt?
Alexander S. Ich habe versucht, bei gesellschaftlichen Themen, die mich interessiert haben, mitzuwirken. Auf Demos zu gehen und Flugblätter zu verteilen. Ich hab mir nicht angemaßt, den Staat zu verändern.
Götzl Worum ging es Ihnen dann?
Alexander S. Kann ich heute nicht mehr nachvollziehen.
Götzl Da sollten Sie sich aber bemühen. Sonst wird es länger dauern. Sie weichen mir aus, so empfinde ich das, Herr S. Was bedeutete das für Sie? Das müssen Sie mir jetzt erklären.
Alexander S. Das kann ich nicht erklären.
Götzl Worum ging es bei der Demo? Wofür oder wogegen haben Sie demonstriert?
Alexander S. Ich war auf der Rudolf-Heß-Demo in Wunsiedel, und auf Demos zum 1.Mai.
Götzl Ja, und welche politische Bewegung haben Sie da unterstützt? Um was ging es Ihnen persönlich?
Alexander S. Ich hatte eine nationalsozialistische Weltanschauung und habe mich an Demos beteiligt, wo ich mich aufgehoben gefühlt habe.
Götzl Was war dann der Grund, dass Sie auf die Demos gegangen sind?
Alexander S. Ich habe mich Zielen zugewandt, denen ich positiv gegenüberstand. Weil mich das Thema bewegt hat.
Götzl Können Sie ein konkretes Thema sagen?
Alexander S. Ich habe kein konkretes Thema im Kopf.
Götzl Was hatten Sie vor Augen, wenn Sie sagen, mich hat etwas bewegt?
Alexander S. Zum Beispiel, wenn ich etwas als ungerecht dargestellt empfunden habe.
Götzl Können Sie Beispiele nennen?
Alexander S. Zum Beispiel im Fall Rudolf Heß, die öffentliche Darstellung des Ganzen.
Götzl Dann sagen Sie mir halt, was Sie gestört hat?
Alexander S. Ich habe mich lange nicht mehr damit auseinandergesetzt. Ich möchte dazu keine Angabe machen.
Götzl Das geht aber nicht, Sie stehen hier unter Zeugenpflicht. Jetzt machen wir mal 20 Minuten Pause und dann denken Sie jetzt nach.
(Nach der Pause wird die Befragung des Zeugen fortgesetzt.)
Götzl Erinnern Sie sich noch, was ich Sie gefragt habe?
Alexander S. Sie haben mich nach meinen Beweggründen befragt – ich habe mich intensiv damit befasst, kann aber nach wie vor nicht nachvollziehen, was mich damals bewegt hat.
Götzl Da werden Sie Probleme bekommen, das sage ich Ihnen gleich. Ich weise Sie darauf hin, dass Verschweigen ebenfalls eine Falschaussage ist. Ich habe Sie jetzt schon ganz gut kennengelernt, und wenn Sie meinen, dass Sie so mit den Fragen umgehen können: Das wird nicht funktionieren. Bleiben wir jetzt einfach dabei, was Sie gesagt haben: Es hätte Sie die öffentliche Darstellung von Rudolf Heß gestört.
Alexander S. Ja, die Darstellung als Kriegsverbrecher, die hat mich damals gestört.
Götzl Was wäre die richtige Darstellung gewesen?
Alexander S. Die Darstellung eines Mannes, der sich für den Frieden eingesetzt hat.
Götzl Haben Sie weitere Beispiele, was Sie noch als ungerecht empfunden haben?
Alexander S. Zwei Töchter wurden damals von der Waldorfschule verwiesen, weil ihre Mutter dem rechten Spektrum zugeordnet wurde.
Götzl Wann war das?
Alexander S. Ende der Neunziger.
Götzl An wie vielen Demos haben Sie teilgenommen?
Alexander S. Grob geschätzt zwischen zehn und zwanzig. So zwischen 1996 und 2003/2004.
Götzl Was war nach 2003/2004?
Alexander S. Da haben sich meine Lebensumstände geändert.
Götzl Inwiefern?
Alexander S. Das politische Interesse war nicht mehr gegeben.
Götzl Wie kam es dazu?
Alexander S. Meine Freizeitgestaltung hat sich dahingehend entwickelt, dass ich bei Feiern mit elektronischer Musik war. Ich bin mit anderen Leuten in Kontakt gekommen, mein Freundeskreis hat sich im Laufe der Zeit geändert.
Götzl Im Laufe der Zeit?
Alexander S. Innerhalb von wenigen Monaten. Meine politische Weltanschauung hat nichts mehr mit meiner Lebensrealität zu tun gehabt. Es gab Ausländer im Bekanntenkreis, ich hab mit Juden zusammengearbeitet. Ich habe meine Positionen überdacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht zeitgemäß sind.
Götzl Und welche Positionen waren das?
Alexander S. Fremdenfeindlichkeit, nationale Ideen insgesamt, weil ich glaube, dass wir in einer Welt mit globalen Problemen leben.
Götzl Wie war die politische Einstellung von Herrn Gerlach?
Alexander S. Ich habe ihn als Rechten kennengelernt.
Götzl Was hatte er für Vorstellungen?
Alexander S. Er war der Meinung, dass es zu viele Ausländer in Deutschland gibt.
Götzl Sie sagen, um 2003, 2004 hat sich Ihre politische Einstellung geändert. Was hat Herr Gerlach dazu gesagt?
Alexander S. Er ist diesen Weg mitgegangen.
Götzl Was heißt das im Konkreten?
Alexander S. Soweit ich das empfinden kann, ist er diesen Idealen nicht mehr nachgehangen.
Götzl Hat sich bei Herrn Gerlach irgendwas verändert in den Lebensumständen?
Alexander S. Die Feierei ging los.
Götzl Holen Sie doch einfach mal ein bisschen aus.
Alexander S. Es wurden viele Drogen konsumiert. Und das passt dann einfach nicht mehr zu den bisherigen Einstellungen. Drogen wurden immer abgelehnt. Und so entfernt man sich immer weiter.
Götzl Haben Sie mit Ihrer Frau über Ihre Aussage bei der Polizei gesprochen?
Alexander S. Ja.
Götzl Worüber?
Alexander S. Sie hatte mir erzählt, dass sie auf viele Fragen keine Antworten mehr hatte. Auch gemeinsames Brainstorming hilft uns da nicht weiter.
Götzl Wo wurde die Karte übergeben?
Alexander S. Meine Frau erinnert sich daran, dass es in der Örtlichkeit von Herrn Gerlach war.
Götzl Wie ging es für Ihre Frau damals weiter?
Alexander S. Sie hat ihre Karte drei Tage später als verloren oder gestohlen gemeldet und eine neue zugeschickt bekommen.
Götzl Hatten Sie keine Bedenken, dass es Schwierigkeiten für Ihre Frau geben könnte?
Alexander S. Nein, wir dachten, wenn die Karte verloren gemeldet ist, kann man sie auch nicht mehr nutzen.
Götzl Und was sollte dann die Investition von 300 Euro von Herrn Gerlach?
Alexander S. Weiß ich nicht.
Götzl Und das war Ihnen keine Nachfrage wert?
Alexander S. Nein.
Götzl Wieso eigentlich nicht?
Alexander S. Hat mich nicht interessiert.
Anwalt Bliwier Herr S., wurden Sie mal wegen uneidlicher Falschaussage verurteilt?
Alexander S. Ja.
Anwalt Bliwier Worum ging es?
Alexander S. Ein Verkehrsdelikt. Ich würde immer noch sagen, dass der Angeklagte zu Unrecht verurteilt wurde.
Anwalt Bliwier Sie hatten von einem Treffen in einer Eisdiele und einem Treffen bei der Mutter von Gerlach berichtet. Gab es weitere Treffen?
Alexander S. Kurz nach seiner Haftentlassung waren wir im Seehaus in Isernhagen (in der Region Hannover), Herr Gerlach, seine Mutter, seine Lebensgefährtin, meine Frau und ich. Wir haben auf seine wiedergewonnene Freiheit angestoßen.
Anwalt Bliwier Worüber haben Sie noch gesprochen?
Alexander S. Es ging auch darum, dass er mir versichert hat, dass er von alldem nichts wusste.
Anwalt Bliwier Haben Sie auch über Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe gesprochen?
Alexander S. Er fühlte sich von denen, glaube ich, etwas hintergangen. Er sagte, dass er sich das nie hätte vorstellen können. Und dass er sich hintergangen fühlt, dass das unter seiner Mithilfe geschehen ist.
Anwalt Bliwier Was meinte er mit Mithilfe?
Alexander S. Die angemieteten Wohnmobile, den Reisepass und den Führerschein.
Anwalt Bliwier Hat er mal von einem Waffentransport berichtet?
Alexander S. Nein.
Anwalt Bliwier Haben Sie ihm eigentlich irgendwann mal Vorwürfe gemacht?
Alexander S. Noch nicht.
Anwalt Hofmann Hat Herr Gerlach Ihnen erklärt, für wen die Karte war?
Alexander S. Er wollte sie, weil Frau Zschäpe zu einem Arzttermin musste.
Anwalt Hofmann Hat er Ihnen erklärt, warum er das gemacht hat?
Alexander S. Kann ich mich nicht erinnern.