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Tag 80

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29. Januar 2014

Manfred Götzl, Richter. Ismail Yozgat, Vater des ins Kassel ermordeten Halit Yozgat. Er trat bereits an Tag 41 auf. Andreas Temme, ehemaliger hessischer Verfassungsschutzbeamter. Er war bereits an den Tagen 41 und 63 als Zeuge befragt worden. Herbert Diemer, Vertreter der Bundesanwaltschaft. Thomas Bliwier, Alexander Kienzle, Anwälte der Nebenklage.

(Zu Beginn der Verhandlung streiten sich Yozgats Anwälte mit den Vertretern des Generalbundesanwalts darüber, ob und welche Akten zum Mordfall in Kassel und vor der weiteren Befragung des Kasseler Verfassungsschutzbeamten Andreas Temme vorgelegt werden müssen. Dann ergreift der Vater des Ermordeten das Wort.)

Yozgat Sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr geehrte Rechtsanwälte, ich gratuliere Ihnen allen zum neuen Jahr. Warum werden die Akten von Temme nicht hergegeben? Was will man verstecken? Eine Weitergabe, heißt es, verstößt gegen die privaten Interessen von Herrn Temme. Wo bleiben die Rechte von meinem Sohn, meinem Lämmchen? Hochachtungsvoll, ich danke Ihnen. (Anschließend wird ein Protokoll verlesen, das die Polizei 2006 nach dem Mord an Halit Yozgat erstellt hat – als Abschrift zu einem mitgehörten Telefonat zwischen Temme und einem Vorgesetzten im Verfassungsschutz. Die Abhörprotokolle werden später im Prozess, an den Tagen 211 und 213, erneut eine Rolle spielen.)

Bundesanwalt Diemer Die Verlesung des Protokolls hat eindeutig ergeben, dass nach diesem Protokoll kein Anlass für die Annahme bestand, dass der Zeuge Temme von seiner Dienststelle angehalten wurde, Dinge zu verschweigen. Und uns vorzuwerfen, wir würden Dinge zurückhalten, die für dieses Verfahren relevant sind, ist ein ungeheuerlicher Vorwurf, dem wir mit Nachdruck entgegentreten. Um es klar zu sagen: Es gibt die Möglichkeit zur Akteneinsicht! Die Akten stehen nicht im Keller, sondern im ersten Stock. In beleuchteten, gelüfteten und gewärmten Räumen des Generalbundesanwalts.

Anwalt Kienzle Natürlich bin ich hochgradig zu Dank verpflichtet, dass Sie mich in beleuchteten und gewärmten Räumen untergebracht haben – und nicht im Keller. (Götzl verfügt, nicht erst Vorgesetzte von Temme zu hören, sondern gleich Temme. Kienzle fordert einen Gerichtsbeschluss. Doch der Senat bestätigt Götzls Verfügung.)

Götzl Dann rufen wir bitte Herrn Temme auf!

(Als der Zeuge Platz nimmt, funktioniert die Mikrofonanlage nicht.)

Götzl Herr Kienzle, haben Sie den Stecker gezogen? (Lacht.)

(Es gibt eine Pause. Techniker reparieren die Anlage, dann kann die Verhandlung weitergehen.)

Götzl Wurde mit Ihnen mal ein kognitives Interview geführt?

Temme Ja, das muss im Jahr 2009 gewesen sein. Der ehemalige Leiter der Mordkommission hatte mich gefragt, ob ich das mache. Und dieses Interview hat dann auch stattgefunden.

Götzl Können Sie uns den Ablauf etwas schildern?

Temme Ich habe es so in Erinnerung: Ich habe dort den Vorbehalt gemacht, dass es für mich schwierig ist, nach all den Dingen mir noch Erinnerungen wachzurufen. Wir haben uns in einem Raum – es stand ein Tisch drin, mehrere Stühle – hingesetzt. Der Psychologe hat gesagt, ich sollte die Augen schließen, ruhig atmen und mich gedanklich zurückversetzen. Möglicherweise habe ich gesagt, dass ich vielleicht was gehört haben kann. (Der Zeuge meint die Situation, als er am 6. April 2006 in einem Internetcafé in Kassel saß und der Betreiber Halit Yozgat erschossen wurde.) Aber mit dem Vorbehalt, dass ich zu dem Zeitpunkt wusste, dass, wenn die Variante zutrifft, dass ich zur Tatzeit noch am PC saß, eigentlich was gehört haben müsste. Ansonsten hat das Interview keine neuen Erkenntnisse gebracht. Ich hab mich auch ein bisschen kundig gemacht, was so ein kognitives Interview ist – das, was ich da gelesen hab, dass man zielgerichtet hingeführt wird, das hat nicht so stattgefunden, wie ich mir das vorgestellt hätte. Aber ich will dadurch nicht die Arbeit der Psychologen kritisieren. Offensichtlich hatte ich nur falsche Vorstellungen.

Götzl Ja, ging es bei der Befragung des Psychologen nicht um Ihre Erinnerung?

Temme Es ging darum, ob man was Neues herausfindet. Aber ich habe auch gesagt, dass ich nicht weiß, was ich irgendwo gehört oder gelesen oder selbst mitbekommen habe. Es war damals schon schwierig in 2009. Aber ich habe halt mitgemacht nach bestem Vermögen, weil ich gedacht habe, wenn irgendwas rauskommt, was weiterhilft, dann bin ich dabei.

Götzl Kennen Sie Herrn Irrgang?

Temme Ja natürlich. Er war zu der Zeit der Direktor des Landesamts für Verfassungsschutz in Hessen und damit mein Vorgesetzter.

Götzl Haben Sie mal mit ihm über die Vorgänge gesprochen?

Temme Ja, ich hab ihn getroffen, und zwar in Wiesbaden. Ein Grund waren in der Hauptsache die Dinge, die mit meinem Disziplinarverfahren, das anstand, zu tun hatten. Es war nach meiner Wahrnehmung normal, dass er sich mit mir unterhalten hat. Ich habe vorher auch deutlich gemacht, dass ich jederzeit Rede und Antwort stehen würde zu dem, was ich angerichtet hatte. Ich habe das verbockt, und ich stehe dazu. Es ging aber nicht um Einzelheiten der polizeilichen Ermittlungen.

Götzl Was meinen Sie damit: Ich habe das verbockt, ich stehe dazu? Haben Sie das so gesagt?

Temme Das waren meine Gedanken dazu. So wie eben formuliert, habe ich es ihm gegenüber nicht formuliert.

Götzl Wie ist es denn dann abgelaufen?

Temme Das Gespräch? Ich habe nicht mehr viel parat, ich versuche es mal. Ich denke, dass ich geäußert habe, dass ich die ganze Situation unendlich bedauere, in die ich nicht nur mich, sondern auch die Kollegen gebracht habe. Sicherlich hab ich ihm zur Tat selber auch versichert, dass ich das nicht war. Ich meine, er hätte geäußert, ich hätte Familie und sollte alles dafür tun, dass die Ermittlungen vorangehen, dass die Vorwürfe geklärt werden können. Sinngemäß. Ich war bei dem Gespräch ziemlich aufgewühlt.

Götzl Was meinten Sie, als Sie sagten: dass ich das nicht war?

Temme Dass ich diese Morde nicht begangen habe. Und ich denke mir, dass ich noch über den Drogenfund, diese Krümel Haschisch, und die alten Patronen gesprochen habe. (Diese Dinge waren von der Polizei bei Temme bei einer Hausdurchsuchung gefunden worden.) Dass ich gesagt habe, dass ich keine Drogen nehme.

Anwalt Bliwier Ich setze noch mal am Wochenende nach dem 6.4.2006 an. Sie haben berichtet, dass Sie aus dem »Extra-Tip« Informationen bekommen haben. Der erscheint am Sonntag. Sie haben berichtet, am Montag haben Sie anhand der Stempelkarte rekonstruiert, wann Sie in dem Internetcafé gewesen seien. Wann sind Sie am Montag in die Dienststelle gefahren?

Temme Das kann ich nicht mehr sagen. Normalerweise bin ich morgens da hingefahren, aber genau weiß ich es nicht.

Anwalt Bliwier Hatten Sie außer aus dem »Extra Tip« noch andere Informationen über die Tat?

Temme Das kann ich heute nicht mehr nachvollziehen, wann ich welche Information woher hatte.

Anwalt Bliwier Laut einem Vermerk über ein Gespräch mit Frau E. soll es so gewesen sein, dass Sie von Frau E. befragt worden sind. (Die Rede ist von einer Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes in Kassel.) Kommt Ihnen eine Erinnerung?

Temme Nein. Wir haben es ja Anfang Dezember schon versucht.

Anwalt Bliwier Sie sollen ihr erklärt haben, Sie würden das Opfer nicht kennen und das Internetcafé nicht besuchen.

Temme Das war von mir natürlich nicht korrekt, aber die Gründe habe ich ja schon dargelegt.

Anwalt Bliwier Haben Sie denn eine konkrete Erinnerung daran?

Temme Wenn ich das so gesagt habe, war es nicht korrekt.

Anwalt Bliwier Auf eine Frage des Vorsitzenden waren Sie ja in der Lage, von Ihrer Gefühlssituation am Wochenende zu berichten und vom Lesen des »Extra Tip«. Aber vom Montag wollen Sie keine Erinnerung mehr haben?

Temme An die Einzelheiten, wann ich wo war, was ich gesprochen habe, mit wem, kann ich mich nicht mehr erinnern.

Anwalt Bliwier Sie sollen auch etwas über mögliche Hintergründe der Mordtaten gesagt haben, Stichwort überregionaler Bezug.

Temme Ich kann nichts Konkretes dazu sagen.

Anwalt Bliwier Sie sollen auch das begründet haben: Sie hätten gesagt, die Waffe sei bereits bei mehreren Taten im gesamten Bundesgebiet eingesetzt worden.

Temme Ich sagte schon, ich habe keine konkrete Erinnerung an dieses Gespräch.

Anwalt Bliwier Hatten Sie denn gewusst, welche Waffe da eingesetzt wurde?

Temme Irgendwann habe ich das erfahren, aber ich weiß nicht mehr wie und wann.

Anwalt Bliwier Im »Extra Tip« in dem Artikel stand nichts davon drin. Sodass wir das als Informationsquelle schon mal ausschließen können. (Allerdings spekulierte der »Extra Tip« bereits über einen Zusammenhang zu der bundesweiten Česká-Mordserie an Migranten, ohne den Namen »Česká« zu nennen.)

Temme Dann konnte ich daraus nichts entnehmen.

Anwalt Bliwier Die »HNA« hat am Montag auch nicht berichtet, welche Waffe verwendet wurde. Nach unseren Recherchen meldete zum ersten Mal am Montag um 16.40 Uhr »Spiegel Online«, dass die Česká-Pistole eingesetzt wurde. Verstehen Sie jetzt, warum ich frage, wann Sie am Montag im Amt waren?

Temme Das verstehe ich nicht.

Anwalt Bliwier Ich will Ihnen gerne helfen. Zu dem Zeitpunkt, wenn Sie morgens im Amt gewesen sein sollten, können Sie es nicht aus den Medien haben.

Temme Ja, aber ich habe da keine Erinnerung.

Anwalt Bliwier Falls wir hier feststellen, dass Sie schon am Montagmorgen im Amt waren und etwas von der Waffe sagten, dann haben Sie ein Problem.

Temme Wenn ich nicht weiß, woher ich das wann habe …

Anwalt Bliwier Sie bleiben dabei, dass Sie es nur aus Zeitungen oder dem Internet haben?

Temme (aufgebracht) Das habe ich doch gar nicht gesagt. Ich habe doch gar nicht gesagt, dass ich das nur aus den Medien habe!

Anwalt Bliwier Ich verstehe, dass Sie jetzt etwas aufgeregt sind.

Temme Es geht nicht, dass Sie hier etwas verdrehen! Ich habe das doch gar nicht gesagt, dass ich es aus den Medien habe. Denkbar wäre, dass ich möglicherweise bei der Polizei … aber das wäre Spekulation.

Anwalt Bliwier Was fällt Ihnen denn dazu ein? Denkbar bei der Polizei?

Temme Wenn ich beim Staatsschutz war, dann … Es ist denkbar, dass ich da was aufgeschnappt habe. Aber was da denkbar ist, hilft uns, glaube ich, nicht weiter.

Götzl Die Fragen, die Herr Rechtsanwalt Bliwier stellte, stellen sich ja tatsächlich, Herr Temme! Bitte fahren Sie fort.

Anwalt Bliwier Haben Sie in Erinnerung, dass der Montag schon mal Thema war bei Ihren Vernehmungen?

Temme Konkrete Erinnerung hab ich nicht. Aber der Montag ist schon Thema gewesen.

Anwalt Kienzle Sie haben mehrfach auf ihre »dienstliche Erklärung« hingewiesen. Gab es inhaltliche Erörterungen dazu mit dem Landesamt für Verfassungsschutz, wie Sie die schreiben?

Temme Ich habe keine Erinnerung daran, aber der Presse entnommen, dass es offenbar ein Telefonat dazu gegeben hat. Dass mein Gesprächspartner was gesagt haben soll, »so nah wie möglich an der Wahrheit«. Ich betrachte die Artikel alle aber mit ein bisschen Vorsicht, wie Sie verstehen werden.

Anwalt Kienzle Das kann ich schon verstehen. Können Sie sich denn daran erinnern, dass Ihnen mal gesagt wurde, Sie sollten »so nah wie möglich an der Wahrheit« bleiben?

Temme Nein, kann ich nicht. Möglicherweise ist so ein Satz gefallen, wobei das für mich keine Bedeutung hatte. Weil ich nicht so nah wie möglich an der Wahrheit schreiben wollte in der Erklärung – sondern die Wahrheit. Ich habe da die Wahrheit reingeschrieben.

Götzl Frau Zschäpe, bauen Sie ab? Sie haben Ihre Augen teilweise geschlossen. Können Sie der Befragung noch folgen?

(Normalerweise antwortet Verteidiger Heer für Zschäpe. Doch Heer ist gerade nicht im Saal. So antwortet Zschäpe erstmals selbst auf eine Frage des Richters. Da ihr Mikrofon nicht eingeschaltet ist, ist ihre Antwort auf der Pressetribüne nicht zu verstehen. Kurz darauf beendet Götzl den Verhandlungstag. Temmes Befragung wird unterbrochen.)

Der NSU Prozess

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