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DIE ENTDECKUNG DES KÖRPERGEFÜHLS

In mehr als zwanzig Jahren durfte ich als Körpertherapeut und Ernährungsberater gemeinsam mit meinen Patienten und Klienten in meiner klinischen Arbeit eine Ernährungsmethode entwickeln, die nicht primär auf Ernährungstipps und Diätempfehlungen beruht, sondern auf einem systematischen Training des Körpergefühls beim Essen und Trinken.

Die Wirkungen, die ich dabei zuerst an mir selbst und später in der Arbeit mit meinen Patienten und Klienten erfahren durfte, waren für mich, ohne zu übertreiben, bahnbrechend. Viele sogenannte »austherapierte« Menschen, die schon lange jegliche Hoffnung auf ein gesundes, natürliches Essverhalten aufgegeben hatten, konnten über diesen Ansatz wieder zu einem ausgeglichenen, natürlichen Essverhalten finden und dieses auch beibehalten.

Meine Beobachtungen konnten zeigen: Je besser ein Mensch die Fähigkeit ausgebildet hat, diese feinen Impulse beim Essen zu spüren, desto seltener treten bei ihm Ernährungsprobleme auf.

WARUM DIE KÖRPERWAHRNEHMUNG UNSER LEBEN VERBESSERT

In den frühen 1960er Jahren begann Eugene T. Gentlin, Professor an der Universität von Chicago, das Phänomen zu erforschen, weshalb Psychotherapie für manche Menschen hilfreich ist, während sie bei anderen keine Verbesserung bringt. Er begann mit seinem Team, Hunderte Aufnahmen von Therapiesitzungen zu studieren. Sie untersuchten jeweils die gesamten Verläufe, von der ersten Sitzung bis zur letzten, mit vielen verschiedenen Therapeuten und Klienten. Dann fragten sie sowohl die Therapeuten als auch die Klienten, ob die Therapie erfolgreich war oder nicht. Zudem verwendeten sie psychologische Tests, um einzustufen, ob eine positive Veränderung eingesetzt hatte oder nicht.

Es gab also zwei Arten von Therapieverläufen: erfolgreiche und nicht erfolgreiche Psychotherapie. Die Forscher verglichen nun die Bänder, um herauszufinden, was den Unterschied zwischen Erfolg und ausbleibendem Erfolg ausmachte. Es bestand die Annahme, dass etwas an dem Verhalten des Therapeuten war, das dafür verantwortlich war, ob die Therapie erfolgreich war oder nicht. Sicherlich, so die erste Annahme, mussten die Therapeuten in der erfolgreichen Gruppe empathischer gewesen sein, vielleicht auch authentischer, wertschätzender oder brillanter. Doch überraschenderweise gab es keine signifikanten Unterschiede im Verhalten der Therapeuten. In beiden Gruppen unterschieden sich die Therapeuten kaum. Sie taten ihr Bestes – und manche Klienten machten Fortschritte, während bei anderen Klienten die Erfolge ausblieben.

FORTSCHRITT DURCH KÖRPERWAHRNEHMUNG

Nun widmeten sich die Forscher den Klienten. Und hier machten sie eine faszinierende und wichtige Entdeckung: Es gab eindeutig einen Unterschied zwischen den erfolgreichen Klienten und den weniger erfolgreichen – ein Unterschied auf einer Ebene, mit der man zuvor nicht gerechnet hatte.

Ab einem gewissen Punkt in der Sitzung begannen die erfolgreichen Therapieklienten, ihr Sprechtempo zu verlangsamen. Mit Worten schienen sie sich plötzlich nicht mehr so gut ausdrücken zu können. Sie fingen an, besonnen nach Worten zu suchen, die ihre Gefühle genau ausdrücken sollten.

»Hmm … wie kann ich das beschreiben?«, war da zu hören, »es fühlt sich genau hier an, als ob … hmm … es ist, es ist nicht genau ein Kratzen, es fühlt sich ein bisschen an wie …« Oft merkten die Klienten an, dass sie gerade in bestimmten, klar definierten Bereichen des Körpers eine Empfindung wahrnehmen konnten. »Gerade spüre ich etwas in meiner Brust.« Oder: »Ich habe gerade dieses Gefühl im Bauch.«

Einerseits also schien es, als hätten diese Patienten größere Probleme gehabt. Doch ausgerechnet diejenigen, die nicht die richtigen Worte fanden, waren im Vorteil, weil sie während der Sitzungen in der Lage gewesen sind, Körperempfindung wahrzunehmen.

Im Kontrast dazu blieben die nicht so erfolgreichen Klienten während der gesamten Sitzung wortgewandt und konnten sich klar ausdrücken. Sie blieben sozusagen »im Kopf« und waren sich des Körpers nicht gewahr. Und sie spürten auch nichts an sich, das zuerst schwer zu beschreiben gewesen wäre. Egal wie sehr sie ihre Probleme auch theoretisch analysierten oder erklärten oder über sie nachdachten oder sie beweinten – ihre Therapie war letztlich nicht erfolgreich, solange die Körperempfindungen nicht miteinbezogen wurden. Unter dieser Einsicht nahm in den 1960er Jahren die Entwicklung der hochwirksamen körperorientierten Psychotherapieverfahren ihren Lauf.2

Zuerst dachte man, dass diese Fähigkeit zum Hineinspüren in den Körper nur in der Psychotherapie hilfreich sein würde. Doch dann entdeckten Gentlin und andere Therapeuten, dass man das Hineinspüren auch für andere Zwecke einsetzen könnte, als eine Art Selbsthilfemethode auch außerhalb der Psychotherapie. Etwa, um Entscheidungen zu treffen, um kreative Projekte gelingen zu lassen. Meine mittlerweile über zwanzigjährige Erfahrung in Klinik, Wissenschaft und Forschung zeigt, dass das Hineinspüren in den Körper uns zudem dabei hilft, die für uns passende Ernährungsweise zu finden.

Man geht immer wieder von der Vorstellung aus, dass Verbesserungen im Essverhalten vor allem durch Einsicht und Verständnis passieren. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass rein rational vermittelte Ernährungsempfehlungen Menschen mit einem Ernährungs- oder Gewichtsproblem bei der Lösung ihrer Probleme nur begrenzt helfen können. Oft gelingt es den Betroffenen damit nicht, ihre Lebens- und Ernährungsweise dauerhaft zu verbessern.

DIE GESETZE VON »BOTTOM-UP« UND »TOP-DOWN«

Dauerhafte Veränderungen, so erkannte das Team um Gentlin, werden nicht durch nüchterne Erkenntnisse oder rational vorgetragene Ernährungstipps ausgelöst.

Sie passieren nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben: Unsere Ratio kann uns nichts aufzwingen, wir sind lernfähiger, wenn unsere körperlichen Empfindungen achtsam wahrgenommen werden und uns somit »zu Kopf steigen«. Körper und Geist müssen im Austausch miteinander sein, psychologisch gesprochen geht es um die Wechselbeziehung zwischen Top-down- und Bottom-up-Verarbeitung. Als fühlende Wesen haben wir die Fähigkeit zu einer lebendigen Balance von Instinkt und Vernunft.3

WIE DIE SI-METHODE ENTSTANDEN IST

In den ersten Jahren, in denen ich die SI-Methode zu entwickeln begann, war ich zunächst damit beschäftigt, Erfahrungen an mir selbst zu machen und diese so genau wie nur möglich auszuwerten.

Obwohl ich täglich reichlich Obst und Gemüse aß, durchlebte ich bis dahin über Jahre hinweg regelmäßige Fressorgien mit stark verarbeiteter Kost. Beutelweise Gummibärchen, Kaubonbons und gleich mehrere Tafeln Schokolade auf einmal waren für mich keine Seltenheit, sondern ganz besonders an Tagen mit hoher Stressbelastung beinahe schon an der Tagesordnung. Von heute aus betrachtet verwundert es mich nicht, wie oft mir Probleme mit dem Immunsystem zu schaffen machten: häufige Infekte der Atemwege, Entzündungen der Nasennebenhöhlen, sogenannte Erkältungen und eine schwere Akne, der, so schien es mir damals, mit nichts beizukommen war.

Zudem war ich oft innerlich unruhig und unkonzentriert. Da ich jedoch körperlich durch tägliches Training in einem ausgezeichneten Fitnesszustand war, wurde ich trotz der vielen Kalorien nicht dick. Doch meine innere Unruhe und die Probleme mit meinem Immunsystem waren eindeutige Zeichen, dass sich etwas ändern musste.

Obwohl ich studierter Ernährungswissenschaftler und professioneller Ernährungsberater war, hatte ich kein einziges wirklich wirksames Werkzeug zur Verfügung, um diese stets wiederkehrenden, zum Teil drastischen Ernährungsfehltritte auch nur einzuschränken, geschweige denn, sie mir abzugewöhnen.

Indem ich damit begann, meine Körperwahrnehmung beim Essen zu trainieren, merkte ich, wie sich dadurch vieles in meinem Leben zum Besseren veränderte. Ich merkte, wie ich in meinem eigenen Ernährungsverhalten immer klarer und selbstbewusster wurde und wie mir Verhaltensänderungen beim Essen auf einmal mit einer Leichtigkeit gelangen, wie sie mir zuvor, auch unter noch so großen Anstrengungen und Entbehrungen, nicht möglich gewesen waren.

Zugleich musste ich feststellen, dass, wie in all den Jahren zuvor bei mir selbst, auch meine Patienten und Klienten ihren Essattacken mit zu viel vom falschen Essen machtlos ausgeliefert waren. Die tägliche Arbeit mit den gewohnten Dos und Don’ts, mit Empfehlungen, welche Nahrung »gut« und welche »schlecht« ist, war in vielen Fällen wirkungslos.

Oft wünschten sich meine Patienten nichts sehnlicher, als endlich ihr Gewicht zu reduzieren oder ihre Essattacken in den Griff zu bekommen. Durch die meist durchaus logisch erscheinenden offiziellen Empfehlungen und Diättipps gelangen ihnen meist nur kurzfristige, kleine Erfolge. Mittel- und langfristig jedoch machten es diese dogmatischen, pauschalen Empfehlungen oft nur noch schlimmer. Oft schon Monate nach der vermeintlichen Besserung brach das alte Verhalten wieder durch, und der allseits bekannte Jo-Jo-Effekt katapultierte meine Patienten nur umso schlimmer in ihre alten Gewichtsprobleme zurück.

Und so begann ich im nächsten Schritt zuerst im ganz Kleinen damit, einfache Übungen zur Körperwahrnehmung in meine Patientenschulungen und in Einzelsitzungen einzubeziehen. Zuerst verwendete ich sogenannte Basisübungen, mit denen wir unser Körpergefühl von Kopf bis Fuß ganz allgemein verbessern können. Mit der Zeit entwickelten sich daraus solche Übungen, mit denen wir ganz speziell die Selbstwahrnehmung rund ums Essen und Trinken trainieren konnten: die Ernährungsübungen.

Mithilfe dieser Übungen gelang es Menschen teilweise zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder, rechtzeitig ihren eigenen Sättigungspunkt zu spüren. Anderen war es erstmalig wieder möglich, anhand ihrer Sinne schon vor dem Essen genau zu erfassen, welche Nahrung für sie gerade bedarfsgerecht war und welche eher schädigend wirken würde. Und viele konnten sogar den richtigen Zeitpunkt fürs Essen zum ersten Mal nach Jahren wieder für sich spüren. Sie waren wieder in der Lage, mit Leichtigkeit, Frische und einer tief gefühlten Sicherheit so zu essen, dass es wirklich zu ihnen passte. Etliche von ihnen konnten so – nach Jahren der Verunsicherung durch letztlich wirkungslose Diäten und Trends – endlich ihr individuelles Wohlfühlgewicht erreichen und auch andere gesundheitliche Probleme günstig beeinflussen.

In all den Jahren des behutsamen Ausprobierens, sowohl in meiner Klinik als auch in meiner Arbeit in der wissenschaftlichen Forschung, gewann ich im ständigen Austausch mit meinen Klienten einen immer klareren Eindruck von dem, was Menschen auf ihrem individuellen Weg zu einem passenden Ernährungsverhalten weiterbringen kann.

So entstand über die Jahre die Somatische-Intelligenz-Methode. Sie ist erstaunlich einfach in ihrer Anwendung und effektiv in ihrer Wirkung. Sie besteht aus speziellen Bewegungs-, Meditations- und Wahrnehmungstechniken, die dazu dienen, Körperimpulse rund ums Essen und Verdauen bewusst werden zu lassen (mehr hierzu ab >). Vervollständigt wird die SI-Methode durch Basiswissen zu den oftmals genetischen Ursachen von individuell stark abweichenden Ernährungsbedürfnissen sowie einer praktischen Lebensmittelkunde, die sich an direkten Sinneswahrnehmungen wie Geruch, Schleimhautreaktionen und Sättigungssignalen orientiert.

Methoden, die in der Therapie, in der Beratung und im Training gezielt auch das Wahrnehmen von Körperempfindungen integrieren, sind mittlerweile als Embodiment oder auch als körpertherapeutische Verfahren bekannt. Aufgrund ihrer hohen Wirksamkeit erfreuen sie sich bei Klienten und Therapeuten zunehmender Beliebtheit.

Somatische Intelligenz ist eine Möglichkeit, den Embodimentansatz auch in den Umgang mit Essen und Trinken zu integrieren.

Mit der Veröffentlichung meines Buches Somatische Intelligenz wurde die Methode bekannter, und ich wurde zuerst deutschland-, dann europa- und mittlerweile weltweit eingeladen, Vorträge, Workshops und Weiterbildungen zu der Methode zu halten und durchzuführen. So entwickelte sich die Methode im ständigen Austausch mit meinen Kollegen weiter.

Dein innerer Ernährungsberater

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