Читать книгу Der 31. September oder die List des Teufels - Werner Kogelnig - Страница 10
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Tina wusste nicht mehr, wo sie war. Lange fuhr sie die Küste entlang, dort, wo die Straße beleuchtet war. Später gab es keine Laternen mehr und sie fuhr durch die Dunkelheit. Die Scheinwerfer umfassten Bäume, kleine Häuser, manchmal die Umrisse von Hügeln und dann das Meer. Irgendwo hielt sie den Wagen an, sie fühlte sich erschöpft und legte den Kopf ans Lenkrad. Einige Minuten schlafen, dachte sie. Nur einige Minuten, um alles zu vergessen. Alles, was war. Jan und alles vorher. Doch es gelang ihr nicht, zu sehr war sie aufgewühlt. Erregt, von innerer Unruhe ergriffen. Sie strich mit beiden Händen ihrem Kleid entlang und wurde sich ihres Körpers bewusst. Sie schaltete das Licht im Inneren des Autos an, nahm aus ihrer Handtasche Lippenstift und Spiegel, zog die Kontur der Lippen nach und verstaute die Dinge wieder. Als sie jedoch starten wollte, blieb ihr fast das Herz stehen. Eine Hand lag auf der ihren. Der Druck war nicht stark, aber bestimmt.
„Wer sind Sie?“ keuchte sie.
„Bleiben Sie ruhig, ich tue Ihnen nichts. Wir kennen uns. Bleiben Sie um Gottes Willen ruhig“, sagte Karl sanft, als sie versuchte, aus dem Auto zu springen. Er hielt sie am Handgelenk fest.
„Wir kennen uns“, sagte er. „Sie sind die Frau des Mannes, der den Toten aus dem Kanal gezogen hat. Nicht wahr?“
„Ja“, schrie sie. „Aber was soll das, warum halten Sie mich fest. Wo kommen Sie überhaupt her. Und was wollen Sie?“
Karl ließ ihre Hand los und setzte sich zu ihr ins Auto. Nun saßen beide schweigend nebeneinander. Die Strahlen des Leuchtturmes von Punta Sabbione kreisten um das Auto. Um sie war Stille. Die beiden Menschen im Auto verharrten in dieser absoluten Ruhe, die so war, als würde das Universum aufhören zu atmen, als würde das Leben erstarren, als wäre um sie nichts. Die Sterne funkelten am Himmel, das nahe Meer mahlte den Sand ans Ufer und die Hand Tinas näherte sich jener Karls, die sie sanft drückte und plötzlich zu weinen begann. Sie legte ihren Kopf auf Karls Schultern und weinte wie ein kleines Mädchen, während Karl sie in seine Arme nahm und über ihre Haare strich.
„Ruhig. Sei ganz ruhig. Ich bin bei dir.“
Dann setzte sich Karl ans Steuer und langsam fuhren sie zurück zu seinem Hotel. Behutsam fuhrte er sie über die Stiege, sie sank ins Bett, schloss die Augen und schlief augenblicklich ein. Im Traum spürte sie das Glück ihrer Jugend und während sie träumte, stand Karl am Fenster und fragte sich, was da nun passiert war und wer sie war, diese Frau, die da in seinem Bett lag.
Er entkleidete sich, legte sich zu ihr, drang in sie, kam nach einigen Stößen zur Erfüllung, legte seine Hand auf ihre Brust, streichelte sie sanft und hörte ihr Atmen, regelmäßig und ruhig.
Er lag noch lange wach, versuchte zu erfassen was da eben geschehen war. Dann stand er auf, zog die Vorhänge zurück, blickte in den vollen Mond, sah sich selbst, sah die Flucht aus Wien, sein Schicksal und das erste Mal in seinem Leben geschahen Dinge, passierte etwas, dessen Ursprung er sich nicht erklären konnte Wie kam er hierher, wie kam diese Frau in sein Bett? Dann schlief er ein.
Als sie erwachte, war sie zuerst erstaunt, dann starr vor Schreck, als sie erfasste, dass ein nackter, fremder Mann neben ihr lag. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, was geschehen war. Sie roch nur diesen Fremden und fühlte die Klebrigkeit zwischen ihren Schenkeln. Durch die Spalten der Vorhänge drangen Sonnenstrahlen, beleuchteten wie Scheinwerfer den herumschwirrenden Staub und warfen wirre Muster auf den Schrankspiegel im Raum. Sie schlug die Decke zurück, versuchte dem Mann neben ihr nicht zu nahe zu kommen und stieg vorsichtig aus dem Bett.
„Guten Morgen“, sagte Karl und richtete sich auf.
Langsam drehte sie den Kopf in seine Richtung, verwirrt und beschämt, bis ihr bewusst wurde, dass sie nackt am Bettrand saß. Sie riss die Decke an sich und wickelt sie um ihren Körper. Dann stand sie schnell auf, lief ins Bad und verriegelte die Tür. Schwer atmend leimte sie sich dagegen und stand ihrem Spiegelbild gegenüber.
Karl öffnete das Fenster, sog die frische Morgenluft ein und wunderte sich, kein Kopfweh zu verspüren, sich ausgeschlafen zu fühlen, und vielmehr noch wunderte er sich über seine gute Laune. Nicht nur darüber, sondern auch über ein neues Gefühl, eines, das er längst als verloren glaubte. Ein wohliges Gefühl kroch ihm von den Lenden bis ans Herz, ein Gefühl der Freude, gepaart mit Sehnsucht und Trauer zugleich. Aber nicht schmerzlich, sondern tröstlich im Innersten seiner tot geglaubten Seele.
Als sich die Badezimmertür zaghaft öffnete, und sich die beiden in die Augen blickten, schien die Welt zu verharren. Tina kam langsam auf ihn zu, blieb vor ihm stehen, er nahm sie in die Anne und küsste sie, als wäre er ein Don Juan und hätte die letzten Jahrzehnte nichts anderes getan, als Frauen zu verführen.
„Wie konnte das geschehen“, fragte sie leise.
„Ich weiß es nicht, was da passiert ist. Aber da ist Schicksal im Spiel.“
„Weswegen?“
„Etwas ist passiert und setzt sich fort. Ich hatte nicht die geringste Absicht, als ich von mir selbst floh, eine Frau zu verführen, geschweige denn, dass es mir gelänge.“ Beide lächelten.
„Und nun?“
„Nun glaube ich mich irgendwo zu befinden, irgendwo in diesem Niemandsland, im Traum selbst, weg vom Gefängnis des Ichs, losgelöst, eigenartig fremd, berauscht, ohne Angst.“
Tina ging zum Fenster und blickte hinaus.
„Ich weiß nicht, was es ist, aber etwas uns Unbekanntes, hat uns zusammengeführt. Lass uns darüber sprechen. Wer bist du?“
„Ich bin Karl. Das genügt vorerst. Ich bin geflüchtet. Vor mir selbst, vor meinem Beruf. Aus Wien. Eine Flucht, die immer gleich endet. Mit der Heimreise. Eine Flucht, die keine ist. Eher angstvolles Davonstehlen, immer mit der Hoffnung im Gepäck, das Seil, mit dem man wurzelhaft verbunden ist, würde einen zurückschleudem, in die Sicherheit, in seine eigene Feigheit, in sein eigenes Unvermögen.“ Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich wollte nur einige Tage verschwinden, ausspannen, nichts hören und sehen.“
Karl ging zum Fenster, stellte sich hinter sie und legte seine Arme um ihre Schultern. Sie schwiegen. Die Berge im Norden waren so nah, dass man glaubte, sie greifen zu können, während die Stille um sie beinahe unwirklich war, hier, wo im Sommer Lärmen und das Geklapper der Pantoffeln auf den Steinfußböden ein Schlafen um diese Zeit unmöglich machten.
Tina drehte sich langsam um, nahm seinen Kopf in ihre Hände, küsste ihn zart und fragte mit leiser Stimme:
„Willst du nichts von mir wissen?“
„Nein“, sagte er. „Nicht jetzt.“
Beide verfolgten mit den Augen das Polizeiauto, das sich langsam und suchend dem Hotel näherte und am Parkplatz unter ihrem Zimmer zum Stehen kam.
„Die wollen zu mir“, sagte Karl leise. „Woher wissen die, wo ich wohne?“
„Die sind dir in der Nacht gefolgt.“
„Schnell!“ Er drückte Tina die Liste in die Hand. „Das Hotel hat eine hintere Tür. Schau, dass du da unbemerkt hinauskommst. Wir treffen uns in der Bar Leo in der Calle d’Oro Warte dort auf mich! Rasch.“ Er schob die völlig verstörte Frau zur Tür hinaus, hörte, wie sie stolpernd die Stiege hinunter hastete und durch die hintere Eingangstür des Hotels verschwand.
Im selben Moment polternden vier Carabinieri durch den Haupteingang in die Halle, wandten sich an den erschrockenen Mann hinter der Rezeption und Karl, der auf den Flur geschlichen war, hörte wie sie sich nach dem Besitzer des roten Toyotas – seinem Wagen – erkundigten. Er hastete zurück in sein Zimmer. Das sind Idioten, sagte er sich. Kommen zu viert und finden es nicht der Mühe wert, den Hintereingang im Auge zu behalten. Aber da war plötzlich Angst. Wieso kannten sie sein Auto? Wie konnten sie ihn finden. Natürlich. Die Fahrt an die Kaimauer in der Nacht und der Inspektor. Täter kehren immer zum Tatort zurück. So oder so ähnlich. Sie kamen die Treppe herauf, einer pochte kurz an die Tür seines Zimmers, und ohne eine Antwort abzuwarten, drangen drei von ihnen in den Raum, der vierte postierte sich vor die Tür. Dann kam einer, wahrscheinlich der Capo auf ihn zu und stellte ohne zu grüßen die Frage:
„Sprechen sie Italienisch?“
Und als Karl nickte, sagte er, „dann ziehen Sie Ihre Kleider aus.“
Karl begann Hemd und Hose auszuziehen und sah dabei, wie der dritte Mann das Zimmer durchstöberte. Er unterließ es, gegen diese überfallartige und sicher illegale Aktion zu protestieren. Ihm war bewusst, dass es die Liste war, die sie suchten. Jedes Kleidungsstück, das er ablegte wurde peinlichst gefilzt, bis er schließlich nackt im Raum stand. Dann wurden ihm die Kleider wieder zugeworfen, und er zog sich an, während er zusah, wie die Männer in seinem Koffer wühlten, seine Papiere durchblätterten und achtlos auf den Boden warfen, die Möbel inspizierten und im Badezimmer umhertasteten. Schließlich gab man die Suche auf. Karls Pass, den man bei der Durchsuchung seiner Kleider in die Hände bekam, verschwand kommentarlos in der Tasche eines Polizisten.
„Heute Abend um 19 Uhr haben Sie sich im Kommissariat Palazzo Orsini in Venedig einzufinden.“
Mit dieser barschen Anweisung verließen die drei Männer das Zimmer, trampelten die Marmorstufen hinab und verschwanden, ohne den Mann hinter der Rezeption zu beachten, aus dem Hotel.
Verwirrt blieb Karl zurück. Die Angst, die er anfangs empfunden hatte, war einem Gefühl von Ratlosigkeit gewichen. Der Auftritt dieser vier Männer, die ihn, offenbar ohne jede Legitimation, durchsuchten, ihr kaltes Gehabe und der rasche Ablauf des Vorganges erschien ihm so, als hätten ihn Roboter heimgesucht.
Er legte sich aufs Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und rätselte darüber nach, wieso er geahnt hatte, dass man ihn durchsuchen würde. Es war die Liste mit den Namen, die sie wollten. Was war daran, fragte er sich, und warum gebe ich sie ihnen nicht? Was ist das für ein Geheimnis? Warum verhaften sie mich nicht? Das wäre doch so einfach. Ich sollte doch am Abend im Kommissariat von diesem Angelerlebnis erzählen. Dass ich mit einem Mord zu tun hätte, das glauben die doch auch nicht, sonst wäre ich längst verhaftet. Es geht ihnen nur um die Liste und anscheinend darum, Aufsehen zu vermeiden. Er fühlte sich plötzlich erleichtert. Und doch: Irgendetwas um ihn hatte sich verändert. Irgendetwas hat in seinem Inneren Platz genommen, etwas, das er noch nicht erklären konnte. Da war etwas im Entstehen, eine Kraft, die er nicht kannte und die unabhängig von seinem alten Ich dabei war, von ihm Besitz zu ergreifen. Da war schon diese Liebesnacht, die ohne sein eigenes, gewolltes Handeln geschah. Als hätte ihn eine geheime Macht mit dieser Frau zusammengeführt. Da war auch diese Gleichgültigkeit gegenüber seiner Familie, deren Existenz ihm plötzlich so fern erschien, als würde sich die Erinnerung wie ein Nebel auflösen, um dahinter eine neue, unbekannte Welt zu finden.
Dann aber sprang er vom Bett, schlüpfte in seine Sandalen, hastete die Stufen hinab, an dem Dame an der Rezeption vorbei, die sich aufgeregt mit dem Patron unterhielt, lief zur Straße und schaffte es gerade noch, in den abfahrenden Bus zu springen, der ihn zum Traghetto nach Venedig bringen würde.