Читать книгу Der 31. September oder die List des Teufels - Werner Kogelnig - Страница 15

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Kardinal Enzu erzählt.

„Der Mann, den die beiden Touristen damals aus dem Meer gefischt hatten, und der die Liste mit den hochbrisanten Namen bei sich trug, war ursprünglich ein aus einem polnischen Gefängnis entflohener Sträfling, der wegen Raubmordes zu lebenslanger Haft verurteilt war“, so erzählte Kardinal Enzu viel später seinem Sekretär Sixtus. Das war zu einem Zeitpunkt, als die Ereignisse dieses sich soeben anbahnenden Geschehens, das, wie man sehen wird, das Schicksal dieser Welt und ihr Bestehen – auch wenn es den Menschen wegen der begrenzten Möglichkeiten ihrer Wahrnehmung verborgen blieb – wieder einmal auf des Messers Schneide stehen ließ und dabei alles Menschliche Gefahr lief, endgültig in den Abgrund zu stürzen. „Aus dem Polizeibericht, in den unsere Brüder Einsicht nehmen durften“, sagte Enzu, „ging hervor, dass es ein Sarg war, in dem man ihn durch die Tore trug, dann in einen Leichenwagen schob und hin zum Krematorium brachte. Alle Gefangenen, die im Gefängnis starben, und um die sich keine Hinterbliebenen kümmerten, wurden verbrannt.“

Der Kardinal sprach leise. Die Dämmerung schlich sich in den prächtig ausgestatteten hohen Raum, mit seinem kostbaren Inventar, den alten Stühlen, dem Schreibtisch mit einer glänzenden Schreibfläche, auf der sich nichts befand, als ein Telefon. Das dunkle Bild an der Wand hinter dem Schreibtisch zeigte einen schauderhaft streng blickenden Papst aus vergangenen Zeiten und ging in die Düsternis über, die sich wie ein Tuch über alles im Raum senkte. Und so stand der Kardinal am Fenster, blickte hinüber zum Petersdom, der langsam seine leuchtende Krone anlegte, wie ein prächtiger König, den man zum abendlichen Fest schmückt. Der Kardinal schwieg. Er hing seinen Gedanken nach, die in seinem Kopf Bilder entstehen ließen:

„Starr vor Kälte lag Oleg nun schon seit Stunden in diesem aus groben Brettern zusammengefügten Sarg. Nur durch ein kleines Loch kam ein wenig frische Luft ins Innere. Trotz dieser eisigen Umarmung drang ihm aber der kalte Schweiß aus allen Poren seines Körpers, und immer wieder ließ ihn das Entsetzen erschauern. Der Leichnam, dem der Platz zur letzten Ruhe zugestanden wäre, war im Heizraum des Kellers längst zu Asche verbrannt. Bald werden die Alarmglocken schrillen, wenn sein Verschwinden entdeckt wird und die Wächter wie üblich die Zellen kontrollieren. Aber da wird er schon am Weg zum Krematorium sein. Der Plan, so gestand er sich zu, war genial. Die beiden Mithäftlinge, deren Hilfe er sich bediente, hatte er mit dem Versprechen geködert, dass er sich nach geglückter Flucht um ihre Familien kümmern würde. Er hatte den beiden von dem Vermögen erzählt, das er bei seinem Raub, für den er hier büßte, erbeutet und versteckt hatte.

Da hörte er Stimmen und fühlte sich hochgehoben, davongetragen und irgendwohin, wahrscheinlich auf einen Lastwagen, hinaufgeschoben. Oleg wurde beinahe verrückt bei dem Gedanken, die beiden Helfer könnten die Nägel zu tief in den Sarg geschlagen haben. Aber warum sollten sie das getan haben? Er versuchte seine Nerven zu beruhigen, aber es gelang ihm nicht. Er spürte etwas über sein Gesicht krabbeln, über seine Stirne, seine Nase, durch die er nicht atmen konnte, da er viel zu wenig Luft bekam. Das kleine Wesen bewegte sich auf seine Lippen zu und schlüpfte in seinen halb geöffneten Mund. Panik erfasste ihn. Die Beengtheit des Sarges wurde zu einer erdrückenden Umhüllung, die ihn immer drängender umschloss und ihm die Sinne zu rauben drohte. Das Dunkel war so absolut, dass er das unendliche Nichts empfand, das sonst nur dem Tod selbst zu Eigen ist. Und langsam drängte ein entsetzlicher Schrei aus seinem Inneren hinauf durch die Kehle, doch glich er nur einem Krächzen, das außerhalb des Sarges nicht zu hören war. Schließlich umfing ihn eine Ohnmacht, die mehr einem grausamen Sterben glich, als einem erlösenden Schlaf.

Währenddessen rumpelte der Kastenwagen mit dem einfachen Brettersarg durch den Morgennebel zum Krematorium. Dort hoben zwei Männer den Sarg hinab, trugen ihn in eine Halle und stellten ihn auf eine Bahre. Durch die Veränderung in der Bewegung erwachte Oleg aus seiner Ohnmacht, und blitzartig wurde er sich seiner Lage bewusst. Er hielt den Atem an, horchte angestrengt, und, als keine Stimmen und keine Geräusche zu ihm drangen, drückte er mit verzweifelter Anstrengung und mit aller Kraft, die ihm noch möglich war, gegen den Deckel des Sarges, und er konnte einen Schrei der Erleichterung nicht unterdrücken, als dieser sich löste und mit Gepolter zu Boden fiel. Langsam löste er sich aus der Starre seiner Glieder, stemmte sich ächzend aus der Kiste und kam steif auf beiden Beinen zu stehen. Doch er verharrte nur einen kurzen Moment in dieser Haltung, denn als er Stimmen hörte, die sich der Halle näherten, verschwand er durch die offene Türe und huschte hinaus auf die Straße, um dort im eisigen Morgennebel zu entschwinden.“

Im Arbeitsraum des Kardinals war es Finster geworden. Das Bildnis des Papstes an der Wand über dem Schreibtisch war im Tor der Nacht verschwunden, und draußen vor dem Fenster strahlte der Dom im gelblichen Glanz. Der Sekretär saß, den Kopf gesenkt, dösend auf seinem Stuhl und schrak auf, als der Kardinal, der ihm noch immer den Rücken zuwandte, fortfuhr:

„Kein Sterblicher kann wissen, was in diesem Sarg, während der Ohnmacht Olegs wirklich geschah. Nirgendwo hat es das unsterbliche Böse leichter, sich einer Menschenseele zu bemächtigen, als an diesem unheimlichen Ort, an dem ihm ein Mensch völlig hilflos und in entsetzlicher Panik ausgeliefert ist. Das Insekt, das ihm über das Gesicht huschte, in Olegs Mund verschwand und sich in seine Seele fraß, während das Opfer in finstererer Ohnmacht verharrte, war, wie wir heute wissen, Judas Ischariot. Jener Judas, der unsterblich dem Bösen verfallen war, weil er sich anmaßte, zu glauben, seine eigene Absicht und sein eigenes Wollen wären losgelöst von Gottes Willen möglich.“

Wieder folgte ein kurzes Schweigen, ehe der Kardinal sein Selbstgespräch weiterführte. Den Sekretär hatte er vergessen. Wie oft schon hatte er Sixtus diese unwahrscheinlichen, unglaublichen und doch wahren Ereignisse erzählt, die sich damals zutrugen und deren Hintergründe so fantastisch anmuteten, dass es bis jetzt vermieden wurde, Aufzeichnungen und Protokolle darüber auf Datenträger zu speichern.

Die Geschehnisse waren nur in konventioneller Art handschriftlich aufgezeichnet worden und existierten, so wie in früheren Zeiten, verborgen in den tiefsten Archiven des Vatikans. Das Interesse an diesen vergangenen Geschehen und die Unruhe, die den Kardinal bewegten, waren jedoch ungebrochen. Wurde er zu Beginn und während seines Aufstieges zu den höchsten Kirchenwürden, in manchen Augenblicken, deren er sich noch heute schämte, von Zweifehl an der Unfehlbarkeit des katholischen Glaubens geplagt, so wurden diese mit der unwiderlegbaren Erkenntnis von der Unsterblichkeit der Apostel hinweggefegt. So wie diese nach der Auferstehung Jesu hinausgingen, um seine Idee in die Welt hinauszutragen, so wandelten und wandern ihre Seelen nach ihrem leiblichen Tod immer wieder weiter. Sie waren und sind jene Kräfte, die dafür verantwortlich sind, dass sich das Schicksal der Welt immer wieder zum Guten wendet. Dafür dass der göttliche Funke die Kräfte des absoluten Nichts davon abhält, die Welt zu verschlingen.

Wo sind sie nun, die Seelen der Apostel? fragte sich der Kardinal. In welchen Körpern wohnen sie nun, nachdem sie durch unfassbare Ereignisse ihre Anonymität verlassen hatten, und die Welt dadurch in die schlimmste Gefahr geriet?

Die Frage aber nach dem Aufenthalt jener Seele, dem gefährlichen Bindeglied zwischen den Bewahrern des göttlichen Funkens und der Macht des Bösen, Judas nämlich, dem es immer wieder gelingt, am Tisch zum gemeinsamen Abendmahl Platz zu nehmen, beschäftigte den Kardinal am meisten. Wo war Judas nun? Wann würde er von neuem in Versuchung geraten, seinen verräterischen Weg wieder aufzunehmen?

So floss die Erinnerung des Kardinals wieder zurück zu Oleg und folgte in Gedanken seiner Spur, die hinaus aus dem Krematorium in die von dichtem Nebel bedeckte Stadt führte.

„Oleg fror erbärmlich“, erzählte er weiter. „Hunger und Durst quälten ihn und ließen ihn auf der Straße taumeln, einem Betrunkenen gleich. Darüber hinaus hatte er keine Ahnung, was er nun anfangen sollte. Die Planung der Flucht beruhte nur auf ein Entkommen aus dem Gefängnis, und die Konzentration auf dieses Ziel ließ das Nachher außer Acht. Oleg kannte weder den Ort, in dem er sich nun befand, noch die Umgebung. Er leimte sich in eine Mauernische und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Aber wie ordnen? Was gab es zu ordnen? Er befand sich in einem luftleeren Raum, losgelöst von allen Beziehungen. Doch gerade in solchen Momenten, in denen die Welt stehenzubleiben scheint und der Mensch glaubt, es gäbe keine Hoffnung mehr, dann irrt er. Ein Auto mit schwachen suchenden Scheinwerfern tastete sich die Straße herauf und kam neben ihm zum Stehen. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herab, streckte seinen Kopf heraus und musterte Oleg eine Weile, bevor er ihn ansprach:

„Ich weiß nicht mehr, wo es weitergeht. Bei diesem Nebel sieht man keine Straßenschilder. Ich sollte nach Povlitz. Wissen Sie, wo das liegt?“

Wieder musterte er Oleg und war schon im Begriff auf eine Antwort zu verzichten und weiterzufahren, als Oleg die Beifahrertür aufriss, sich auf den Sitz fallen ließ und befahl:

„Fahren Sie! Fahren Sie einfach los. Geradeaus. Immer geradeaus!“

Dabei umfasste er mit der linken Hand das Genick des Fahrers und drückte es so heftig, dass dieser in Panik ergriffen aufs Gas stieg und durch die Stadt raste, die zu dieser frühen Stunde noch menschenleer war.

Entsetzt schielte der Fahrer hinüber zu seinem Peiniger und erkannte mit Bestürzung dessen Sträflingsgewand. Krampfhaft hielt er das Lenkrad fest und sucht mit starrem Blick den Weg durch den Nebel zu finden.

Oleg, der immer noch den Nacken des Mannes umfasst hielt, erkannte an seiner Kleidung den Geistlichen und hätte beinahe gelacht, als er daran dachte, dass er soeben einem Sarg und dem Krematorium entkommen war. Es war ein Priester, der ihn hier in eine mögliche Freiheit brachte, anstatt dass er in einem glühenden Ofen zur Hölle fahren würde. Er zog seine Hand zurück. Ein Zittern der Erleichterung ging durch den Körper des Priesters und Oleg hörte, wie er keuchend die angehaltene Luft ausstieß.

„Fahren Sie hinaus aus der Stadt dann sehen wir weiter“, sagte Oleg. „Ich möchte wissen, wer Sie sind, wo Sie hinwollen und wozu.“

Der Priester versuchte, nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, sein Denken, das in wilde Unordnung geraten war, unter Kontrolle zu bekommen. Es war ihm nicht klar, was der Mann wollte. Sollte er lügen? Die Wahrheit sagen? Er wusste, dass sein Leben in äußerster Gefahr war und überlegte fieberhaft, wie er dieser Bedrohung entkommen konnte. Die Tür aufstoßen und hinaus springen? Als hätte Oleg diese Gedanken erraten, umklammerte er wieder das Genick des Priesters.

„Nun?“

„Ich komme aus Warschau“, sagte der Priester und entschloss sich die Wahrheit zu sagen. Es ging weniger um das, dachte er, was er sagen, sondern wie er es tun würde, um dieser gefährlichen Situation zu entkommen.

„Ich bin auf dem Weg nach Premisyl um dort die Diözese als Seelsorger zu übernehmen, die unbesetzt ist. Der Pfarrer dort ist verstorben.“

Neugierig und nachdenklich sah Oleg den Geistlichen von der Seite an. Er sah seine schwarze Kleidung, betrachtete aufmerksam sein Gesicht, das unter einem grauen, wuchernden Bart verborgen war, und sah auch die Brille, deren runde Gläser von einem einfachen Drahtgestell umrahmt wurden.

Der Priester fühlte diesen neugierigen Blick, der auf ihn gerichtet war und erriet die Gedanken des Betrachters.

„Hören Sie“, stieß er in Panik hervor. „Ich weiß nicht, wer Sie sind, was Sie wollen. Vielleicht brauchen Sie Geld, Kleider, einen Wagen. Nehmen Sie alles. Ich bitte Sie. Nehmen Sie was Sie wollen, aber lassen Sie mich einfach aussteigen. Bitte. Ich flehe Sie an. Hier gibt es weit und breit keinen Menschen auf der Straße, kein Haus! Bis ich Hilfe holen kann, sind Sie längst über alle Berge!“

Aber Oleg hörte das Flehen kaum. Er blickte auf die Straße, die zu beiden Seiten von Bäumen gesäumt wurde, und ahnte die Öde und Einsamkeit der Gegend, durch die sie jetzt fuhren. Er löste die Hand vom Nacken des Pfarrers und forderte ihn auf, den Wagen anzuhalten. Dann blickte er den Priester freundlich an und deutete zur Tür.

„Steigen Sie aus, Hochwürden.“

Wie gelähmt blieb der Geistliche sitzen und starrte den Sträfling mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. Dann aber ging ein Ruck durch seinen Körper, er wandte sich hastig von Oleg ab und griff an die Wagentüre um sie zu öffnen. In diesem Augenblick traf ihn ein mit animalischer Wucht geführter Schlag ins Genick. Es war kein menschlicher Schlag. Es war, als hätte der Teufel selbst mit seinem Pferdefuß den Tritt getan. Und das war auch das Bild, das der Pfarrer mit in die Ewigkeit nahm: Das hässliche und triumphierende Gesicht des Höllenfürsten.“

Der Sekretär, wusste vom Aufstieg dieses Sträflings zum Sekretär eines hohen kirchlichen Würdenträger Polens, der es zu einem einflussreichen Amt innerhalb des Vatikans gebracht hatte. Aber immer wieder vergaß Sixtus aus unerklärlichen Gründen das, was ihm da erzählt wurde. So erschauerte er bei den letzten Worten des Kardinals, die in der Düsternis des Raumes schwebten, bis sich Enzu vom Fenster abwandte und müde zu ihm sagte:

„Es wäre angebracht, das Dunkel um uns zu vertreiben. Machen Sie doch Licht.“

Der Sekretär erhob sich, knipste das Licht an, und der prunkvolle Luster erstrahlte. Dann sah er den Kardinal fragend an. Der lächelte verständnisvoll über die Neugierde seines Gegenübers und meinte: „Es ist schon spät, Sixtus. Wir werden anderswo erwartet. Ich werde morgen weitererzählen. Kommen Sie.“

Der 31. September oder die List des Teufels

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