Читать книгу Der 31. September oder die List des Teufels - Werner Kogelnig - Страница 6

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Venedig

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Der neben ihm hatte mehr Anglerglück. In seinem Eimer tummelten sich mehrere kleine, ovale, flache Fischchen. Auch merkte man den Fachmann. Doch das störte ihn nicht. Er hatte wenig Hoffnung, aber auch kaum die Absicht, Fische zu fangen. Es wäre ihm auch gar nicht recht gewesen, einen von der Angel nehmen zu müssen, um ihn zu töten. Als er jedoch – vor der Abreise aus Wien – seine Campingsachen aus dem Keller holte, fiel ihm die alte Angel seiner Kinder entgegen und er beschloss sie mitzunehmen. Es war weniger wegen des Fischens, doch geschah es in letzter Zeit, dass er Dinge, die scheinbar endgültig weggeräumt und reif für den Müll waren, hervorkramte und wie unter Zwang versuchte, sie wieder zu verwenden, so als würde er die Endgültigkeit der Vergangenheit mit einer Wiederbelebung der Dinge rückgängig machen können. Und während er fischte, tauchten Erinnerungen auf und es war ihm, als wären die Kinder neben ihm, und ihre Mutter würde auf der Mauer liegen und sich sonnen. So steckte er die Angel mit dem Griff zwischen die Steine, suchte sich einen bequemen Sitz daneben und blickte über die blauglitzernde Hafeneinfahrt über die Lagune hinweg, hinüber zum anderen Leuchtturm und dem Steinwall, weiter zum Lido, und er erinnerte sich an die Zeit, als im Sommer das Spielcasino noch dort untergebracht war, vor vielen Jahren. Die Freunde, mit denen er dort das letzte Geld verspielte, lebten schon lange in einem anderen Land, aus dem er weggezogen war und die ihm manchmal fehlten.

Plötzlich stand jemand neben ihm, blickte auf seinen kleinen, roten Schwimmer und fragte ihn:

„Welchen Köder benutzen Sie?“

Er griff zur Angel, rollte die Schnur auf, drehte an der Kurbel und ließ den Schwimmer und den leeren Haken erscheinen. Beide lachten.

„Da wird natürlich nichts daraus“, sagte der andere.

„Ich verwende Krabben. Wollen Sie´s versuchen?“

„Nein. Danke. Angeln ist nicht mein Geschäft.“

„Warum tun Sie´s dann?“

„Die Zeit vergeht.“

Der andere nickte, und Karl steckte den Haken in den Kork am Griff und schob die Angel auf die Kaimauer.

Ein großes weißes Schiff fuhr aus der Lagune, und man konnte die Menschen sehen, die nach der Begegnung mit Venedig einen letzten Blick zurückwarfen, bis das Schiff tief in die Adria eintauchte und schließlich am Horizont verschwand.

„Nun ja, ich tu es ja auch, damit die Zeit vergeht. Nur in der Sonne zu liegen, wie meine Frau da drüben“, er deutet mit dem Kopf zur Mauer, „das halte ich nicht aus. Die paar Fische, die ich fange, schenke ich dem Koch in unserem Hotel, der freut sich darüber. Früher“, sagte er, „früher war das ganz anders. Aber das ist lange vorbei.“

„Was?“

„Ich konnte stundenlang am Strand liegen, zwischendurch ins Wasser. Das machte Spaß! Wir waren alle lustig, fröhlich, immer zusammen, die Frauen, die Freunde. Die Abende rochen nach Holzkohle, Bier und so. Das ist alles vorbei.“

„Warum?“

„Die Kinder sind weg. Sind beide in den USA. Die Freunde haben sich verlaufen. Wir zwei sind übrig geblieben.“

Karl blickte hinüber zur Mauer. Die Frau lag regungslos in der Sonne, braungebrannt, schlank, reizvoll. Wie alt mochte sie sein? Wieder glitt ein weißes Schiff aus der Lagune, lautlos im Glitzern des Kanals. Der Mann war mit seiner Angel beschäftigt, holte den Haken ein, zerteilte mit einem Stein eine Krabbe, gab ein Stück davon auf den Haken, warf mit gekonntem Schwung aus, steckte die Angel zwischen die Steine und kehrte dann zu Karl zurück, der, mit halb geöffneten Augen, den Hut tief ins Gesicht gezogen, sehnsuchtsvoll dem Weg des Schiffes folgte, dabei tief die wanne Luft einatmete und sie genoss.

Er fühlte sich wohl. Die morgendliche Depression war einer angenehmen Wehmut gewichen, die nicht schmerzte, sondern tröstlich war. Die Wirklichkeit war entschwunden. Es war ein Zustand, den er liebte. Ein leichtes Ziehen streifte sein Herz, er fühlte es angenehm, da es die Vergangenheit war, die ihn berührte. Es war die Vergänglichkeit, die dieses Ziehen auslöste, es war der Gedanke und auch das Erschrecken, dass das alles war, dass alles geschah, ohne dass er, als alles geschah, es begriff. Erst jetzt formte sich ein Bild, in dem die einzelnen Teile ihren Platz fanden, und wenn er die Augen schloss, war alles ganz nahe und vorhanden, nichts war verloren.

Er stand auf, zerlegte die Angel in zwei Teile, stieg über die Mauer und verstaute das Gerät im Kofferraum seines Autos, das neben der staubigen Straße stand, die zum Leuchtturm führte.

Obwohl der Sommer vorbei war und die Nächte schon merklich kühl wurden, war es jetzt, am frühen Nachmittag, noch sehr heiß, und die Luft über der Lagune flimmerte. Die Farbe des Himmels hatte sich verändert. Die trübe stahlblaue Farbe des Sommers war einem freundlichen, am Abend azurblauen Himmel gewichen. Die Schwüle wurde von einem angenehmen wannen Wind abgelöst, und im Norden ragte greifbar nahe das Gebirge auf, so als brauchte es nur einen kleinen Spaziergang um es zu erreichen.

Plötzlich bog sich die Angel des anderen, und aufgeregt lief er hin und kurbelte hektisch an der Rolle. Die Angel bog sich bis an ihre Möglichkeit aber trotz der Anstrengung des Fischers erschien kein Fisch. Karl war aufgeregt, er hastete neugierig hinunter zum Kanal. Der Mann ließ die Angel laufen, er wollte den Fisch ermüden. Dann zog er wieder an, die Schnur war gespannt, kein Spielraum war mehr da. Und dann tauchte etwas auf. Aber es war kein Fisch. Entsetzt starrten beide Männer auf das, was vor ihnen erschien. Ein menschlicher Körper hing am Angelhaken, hüpfte auf der Oberfläche des Wassers, Beine und Arme winkten, als wäre der Körper lebendig, als würde er fröhlich schwimmen.

Von der Mauer kam die Frau, mit weit aufgerissenen Augen, eine Hand vor dem Mund. Kurz trafen sich ihre Augen mit jenen Karls und etwas geschah, irgendetwas, so als würde das Weltall kurz anhalten zu kreisen, für den Bruchteil einer Sekunde, für einen Augenblick.

„Mein Gott! Was ist das“, stieß sie entsetzt hervor.

„Eine Leiche“, antwortete Karl ruhig. „Eine Wasserleiche.“

Wortlos stiegen alle drei die Steine hinunter und die beiden Männer zogen den schweren Körper mit großer Mühe auf einen Steinquader. So standen sie um den Leichnam, unfähig etwas zu tun. Dann, nach einer Pause, beugte sich Karl hinab und zog mit zwei Fingern die Brieftasche des Toten aus der Gesäßtasche, öffnete sie und entnahm ihr einige Papiere und eine Visitenkarte. Er tat dies automatisch, ohne zu wissen warum, ohne es eigentlich selbst zu bemerken.

„Fassen sie doch nichts an! Sind Sie verrückt? Lassen Sie alles wie es ist. Wir bekommen nur Schwierigkeiten, verdammt noch einmal!“

„Beruhigen Sie sich doch“, sagte Karl, „Beruhigen Sie sich. Das ist alles halb so schlimm. Was geht uns die ganze Sache an. Rufen wir die Polizei, erklären wir, wie wir ihn gefunden haben, und die Sache ist für uns erledigt.“ Karl sprang die Steine hinauf, hastete über die Mauer zum Auto und holte sein Mobiltelefon. Die beiden, die unten beim Toten waren, blickten zu ihm herauf.

„Ich habe keine Ahnung welche Nummer ich wählen soll“, rief er.

Die unten blickten sich an und kamen herauf. Der Fremde hatte zuerst den Haken vom Leichnam gelöst, vorsichtig, um sich nicht zu verletzen.

„Am besten“, sagte er, oben angekommen, „wir lassen ihn einfach hier liegen. Was glauben Sie, in was für ein Schlamassel wir geraten können, wenn wir jetzt die Polizei rufen. Die italienische Polizei! Können Sie sich vorstellen, was da rauskommen kann? Das kann nur zu Unannehmlichkeiten führen. Für Sie und für uns! Verschwinden wir!“ Er nahm seine Angel und zog seine Frau hinüber zu seinem Auto.

Karl blickte ihnen nach. Er war ratlos. Er betrachtete den Leichnam. Wie lange mochte er schon tot sein? Noch sah er aus, als schliefe er. War er ermordet worden? Die Augen waren geschlossen. Oder war es ein Unglücksfall? Auch er kletterte wieder hinauf zum Auto und blickte um sich. Die Straße war leer. Es war das erste Mal, dass er einen Toten so nahe und unter solchen Umständen sah. Aber, und das fand er eigenartig, es berührte ihn nicht. Er fühlte weder Entsetzen noch Abscheu noch Grauen. Es war ihm gleichgültig. Warum nur, fragte er sich, als er zu seinem Hotel fuhr, warum nur ist mir dieser Tod so gleichgültig? Im Rückspiegel sah er, wie die Sonne hinter Venedig in der Lagune unter einer blutroten Wolke verschwand, um dann noch einmal in goldener Pracht aufzuleuchten. Wieder dachte er an den Toten, der da auf den Steinen lag und plötzlich, eigenartig, spürte er Trauer und er war froh darüber, sie zu spüren. Denn immer mehr hatte er das Gefühl, alles was zuletzt geschah, würde einem anderen geschehen und nicht ihm selbst. Die Abreise aus Wien, die lange Fahrt, der Keller und die Angel, das laienhafte Fischen und der makabre Fang, der sich aus dieser Folge ergab. Was geschah denn wirklich, fragte er sich, und was geschieht mit mir?

In seinem Hotel ließ er sich aufs Bett fallen und schlief sofort ein. Im Traum sah er die Leiche, heraufgezogen, liegengelassen. Irgendwann in der Nacht wachte er auf, von Dunkelheit umgeben und hastete die Stufen hinab in die Bar, die noch geöffnet war. Er bestellte eine Grappa, trank sie in einem Zug leer, ging zum Auto und fuhr zurück zum Ufer. Alles war taghell ausgeleuchtet, und eine Anzahl von Polizeiautos stand blinkend herum. Die Polizisten drängten sich geschäftig um den Toten. Dann richtete sich ein Scheinwerfer auf ihn. Er blieb stehen, hielt die Hände vors Gesicht und hörte den Polizisten sagen:

„Was machen Sie liier? Um diese Zeit?“

„Nichts. Ich gehe spazieren. Ich konnte nicht schlafen.“

Der Polizist verlangte seine Papiere, machte sich Notizen und befahl ihm wieder zurückzufahren.

„Was ist passiert?“

„Warum fragen Sie?“

„Weil hier soviel Polizei ist, da muss doch etwas passiert sein.“

„Fahren Sie zurück. Rasch.“

Karl stieg in sein Auto, erleichtert, dass er so davonkam, wendete und fuhr zurück ins Hotel. Dort setze er sich an die noch geöffnete Bar, bestellte ein großes Bier und eine doppelte Grappa. Er trank das Bier in zwei Zügen aus und stürzte die Grappa hinunter. Das Mädchen beobachtete ihn und schüttelte den Kopf. Natürlich, dachte er, ich bin in Italien. Da sieht man so etwas nicht alle Tage. Schon gar nicht in einem seriösen Hotel. Er sah sich um. Ein Paar saß in einer Ecke und trank Wein.

„Noch einmal das Gleiche!“

Das Mädchen blickte auf die Uhr, seufzte, schenkte dann aber das Bier ein und stellte die Grappa dazu.

„Probleme?“ fragte sie.

Sie war hübsch. Zu jung für mich, dachte er und blickte ihr in die Augen.

„Wie kommen Sie darauf?“

„Sie sind so blass.“

„Blass?“

„Ja, käseweiß. Sie sprechen aber ausgezeichnet Italienisch.“

„Ich bin Professor für italienische Sprache. In Österreich.“ Dann deutete er auf die leeren Gläser. Das Mädchen zuckte mit den Achseln und schenkte noch einmal das gleiche ein.

Als er erwachte, lag er abgedeckt auf seinem zerwühlten Bett. Er hatte schlecht geschlafen. Der Morgen war kühl. Er vertrug keinen Alkohol am Abend, schon gar keinen Schnaps. Schlimme Träume hatten ihn geplagt, und Karl versuchte sich an sie zu erinnern. Doch die Träume waren verschwunden, wie Vampire beim ersten Hahnenschrei. Sein Hinterkopf schmerzte, und seine Kehle war ausgetrocknet. Er öffnete die Minibar und entnahm ihr eine Flasche Bier. Gierig trank er das eiskalte Getränk und fühlte sich augenblicklich wohler.

Der Himmel war weißgrau über den Pappeln, die bis zu seinem Fenster reichten, und es wehte ein sanfter, lauer Wind. Er ließ die Blätter der Bäume leise rascheln. Das Fenster ging zu den mit Efeu überdachten Parkplätzen hinaus und weiter zu den Weingärten. Dazwischen leuchteten überreife Tomaten und Kürbisse. Auch Bohnen rankten sich an langen Holzstangen, und am Horizont lag das Meer still und grau im Morgen. Wenn man es wusste, konnte man die schwarzen Streifen am Übergang zwischen See und Himmel als Öltanker ausmachen und Karl erinnerte sich, wie eigenartig es war, als er mit den Kindern hier die Sommer verbrachte, die Kriegsschiffe zu beobachten, die Italien während des Jugoslawienkrieges beschützten.

Er trank das Bier aus und ging ins Badezimmer. Hier auf das Tischchen hatte er gestern den Inhalt seiner Hosentasche hingelegt, und er erinnerte sich an die Visitenkarte und an das zusammengefaltete Blatt, das neben dem Kleingeld, dem Autoschlüssel und anderem Kleinkram lag. Er hatte sich gestern nicht mehr weiter darum gekümmert. Das Papier, das so wie Pergament war, enthielt, untereinander angeordnet, eine Reihe von Namen, ohne Adresse oder weiteren Text. Karl warf die Karte und das Blatt achselzuckend wieder auf das Tischchen zurück, nahm aber nicht wahr, dass beides über die glatte Fläche glitt und so am Boden blieb.

Er schlüpfte in seine Sandalen und verließ das Zimmer. Er lief die Treppen hinab, durch den muffigen Korridor und wollte soeben die Tür zum Park öffnen, als er noch kurz einen Schatten wahmahm, den dumpfen Schlag aber kaum mehr spülte. Keinen Schmerz, nur Dunkelheit und Ohnmacht.

Der 31. September oder die List des Teufels

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