Читать книгу Der 31. September oder die List des Teufels - Werner Kogelnig - Страница 16

Оглавление

11

Kommissar Massimo schien im Anblick des geschäftigen Treibens auf dem Kanal, der unter dem Palast vorbeitrieb, versunken zu sein. Das Bild, des sich ihm auf diesem breiten grünen Wasserband zeigte, war ihm so vertraut, als würde ein Städter von seinem Büro aus auf eine belebte Straße blicken. Da gab es keine romantischen Empfindungen für den Kampf der Gondolieri mit den hüpfenden und schaukelnden Wellen, für das Dröhnen der mit Menschen vollgestopften vaporetti und dem Stottern der Dieselmotoren der Kähne, die, beladen mit Bauschutt, Gemüse, Brettern oder tausenderlei anderen Dingen, ihren Zielen entgegentuckerten. Auch die bröckelnden Fassaden der Paläste und der sich über diese Kulisse wölbende hellblaue Himmel weckte sein Interesse nicht. Sein Blick war nach innen gerichtet und suchte einen Ankerpunkt im Gewirr seiner Gedanken.

Er blickte auf seine Uhr. Noch eine Stunde, dann sollte dieser Österreicher kommen. Er nahm den Pass in die Hand, den man ihm überbrachte und blätterte gedankenverloren darin. Dann verließ er sein Büro, in dem es stickig und heiß war. Er ächzte die Treppe hinab und trat auf den kleinen, nun schon im Schatten liegenden Platz vor dem Kommissariat und ließ sich auf den Sessel einer kleinen Bar fallen, der unter seinem Gewicht zusammenzubrechen drohte. Obwohl eine leichte kühlende Brise über den Platz strich, standen Massimo die Schweißperlen auf der Stirn. Er zündete sich eine Zigarette an und bestellte ein Glas Wem.

Seine Gedanken kehrten zurück an die misslungene Aktion und der Ärger kam wieder. Er war lange genug Polizist, um zu wissen, dass er sich da auf eine höchst riskante Sache eingelassen hatte. Doch was sollte er tun? Das Angebot, kurz vor seiner Pensionierung noch seine zu erwartende niedrige Pension entsprechend aufzubessem, war zu verlockend. Aber nun war etwas schief gelaufen und er wusste, dass diejenigen, die ihn benutzten, ihn ohne Skrupel töten würden. Immer wieder tupfte er sich mit einem Tuch über die Stirn, doch das Unbehagen ließ ihn frösteln, aber gleichzeitig erglühen, weil er wusste, dass kein Entkommen möglich war. Er musste nun auf eigene Faust versuchen, die Liste, die vom Präsidenten und gleichzeitig von den Anderen so dringend ersehnt wurde, aufzutreiben.

Um ihn herum trippelten die Tauben mit ihrem Gurren, und der ständige Strom der Touristen bewegte sich auf dem malten Straßenpflaster, lachend und lärmend dahin, in ihrer schlampigen, geradezu fetzenhaften Urlaubskleidung, ein unendlicher Fluss von Menschenleibern. Dicht gedrängt wird er vorangeschoben, stockt, dann brechen die Dämme und er fließt weiter, unablässig ohne Ende, vom Morgen bis zum Abend. Und dieses Gewirr von Menschenleibern war Teil des Plans, den man sich ausgedacht hatte um den vatikanischen Priester, als Rabbi verkleidet, scheinbar entfliehen zu lassen, und ihn dann in der nächsten Gasse zu schnappen. Dieser Plan war schon von vornherein idiotisch, dachte Massimo. Aber er hatte nicht lange nachgedacht. Es gab zwei Möglichkeiten, die sich ihm boten.

Da war die eine Situation. Ein banaler, dienstlicher, aber absurder Auftrag. Er erinnerte sich: Der erste Anruf, der ihn erreichte, kam vom Polizeipräsidenten persönlich. In alter Dienstbeflissenheit war er, nachdem er den Hörer abgenommen hatte und die befehlende Stimme ertönte, sogar aufgesprungen und hatte salutiert.

„Kommissar Massimo?“

„Herr Präsident?“

„Hören Sie gut zu, was ich ihnen zu sagen habe, und gleichzeitig rate ich Ihnen, mit niemandem, ich wiederhole, niemandem ein Sterbenswörtchen von diesem Gespräch zu erzählen. Sie hätten die Konsequenzen zu tragen, bis hin zur Entlassung aus dem Polizeidienst. Bei dem, was zu tun ist, dürfen Sie nur einen Assistenten beiziehen, niemand anderen sonst. Verstanden?“

„Ja!“

„Gut. Nun passen Sie auf. Am Dienstag dem 30. September, das ist Morgen, wird ein jüdischer Rabbi zwischen 18 und 19 Uhr an der Haltestelle Academia aus einem Vaporetto steigen. Er wird eine schwarze Mappe bei sich tragen und sich nach dem Aussteigen kurz verbeugen. Dann wird er sich zur Calle degli Amanti wenden und ihren Assistenten vor der Auslage des Modegeschäftes Jelena erwarten. Ihr Assistent wird ihm einen vorbereiteten Geldkoffer geben und aus seinen Händen die Mappe übernehmen. Der Rabbi wird im Getümmel untertauchen, während ihr Assistent, ohne sich weiter um ihn zu kümmern, zu Ihnen eilt um Ihnen die Mappe auszuhändigen. Sie haben die Übergabe des Geldes aus sicherer Entfernung zu überwachen und ihren Mann zu instruieren, keinesfalls die Mappe zu öffnen. Auch Sie, ich warne Sie, geht der Inhalt nichts an. Sie haben die Mappe in einen Aktenkoffer zu verschließen und mit der Maschine, die um 20 Uhr vom Flughafen Venedig startet, persönlich nach Rom zu fliegen. Das Ticket ist auf ihren Namen reserviert. Die Flughafenpolizei ist informiert. Am Flughafen in Rom erwarte ich Sie persönlich um den Koffer entgegenzunehmen. Haben Sie das alles verstanden?“

„Ja, Präsident. Aber wo ist das Geld? Wie wird es bereitgestellt?“

„Hören Sie. Sie begeben sich kurz vor 18 Uhr in die Filiale der Bank Credit Aurore zum Schalter zwei. Der Mann dahinter gibt Ihnen den Koffer, wenn Sie ihm ihren Ausweis gezeigt haben. Der Inhalt des Koffers braucht Sie nicht zu interessieren. Auf dem Kofferdeckel ist ein Metallplättchen angebracht. Sie legen Ihren Daumen darauf und identifizieren sich so mit Ihrem Fingerabdruck. Den haben wir Ihrem Personalakt entnommen. Stimmen die beiden Abdrücke nicht überein, so löst die Automatik Alarm aus. Und noch etwas: Vermeiden Sie um Gottes Willen alles, was die Presse alarmieren könnte. Noch einmal: ich verlange absolutes Stillschweigen. Gut, ich beende das Gespräch. Ich verlasse mich auf Sie.“

Kurz darauf kam dieser zweite Anruf, kaum dass er sich von seinem Erstaunen über den absurden Auftrag Gedanken machen konnte. Den Sicherheitsrückruf in Rom, den er soeben tätigen wollte, um zu verhindern, einem Jux aufgesessen zu sein, ließ er vorerst bleiben.

„Kommissar Massimo?“

„Ja?“

„Sie haben soeben einen Anruf erhalten, der Ihnen außer Unannehmlichkeiten keine Lorbeeren, geschweige denn einen Pensionszuschuss einbringen wird. Wir hätten aber einen Vorschlag, wie sie Ihren Lebensabend etwas luxuriöser gestalten könnten. In zehn Minuten wird am Steg vor dem Kommissariat ein Taxi vorfahren. Wenn Sie alleine am Steg stehen und sich winkend bemerkbar machen, wird es anhalten und man wird Sie einladen, einzusteigen. Ich erwarte Sie in der Kabine. mehr Name ist Paolo.“

So wie vorhin wurde auch dieses Gespräch abrupt beendet und der völlig verdutzte Kommissar starrte auf das Telefon, unfällig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Das, was soeben in sein Ohr drang, war ohne Bezug zu seinem gewöhnlichen Alltag, zu seiner üblichen Arbeit. Weder wurde er jemals vom Polizeipräsidenten persönlich aus Rom angerufen, noch hatte sich in irgendeiner Angelegenheit eine scheinbar kriminelle Organisation an ihn gewandt.

Sollte er hinuntergehen, zum Steg, um festzustellen, ob das angekündigte Taxi tatsächlich erscheinen wird? Sollte er dann einsteigen? Sich vielleicht lächerlich machen, falls sich das alles doch als dummer Spaß entpuppen sollte, angesichts seiner bevorstehenden Pensionierung? Obwohl, da gab es keine persönlichen Beziehungen zu seinen Kollegen und Untergebenen. Er war nicht sonderlich beliebt. Das wusste er.

Er verwarf den Gedanken, jemanden aus dem Büro ins Gebet zu nehmen. War der Anruf aus Rom echt, dann war es auch der zweite. Er unterdrückte den Gedanken an die Gefahr in die er sich begeben könnte, ließ alle Vorsicht außer acht, steckte seine Pistole ins Schulterhalfter, nahm seinen Hut vom Haken und eilte die Treppe des alten Palazzos hinab, um an der Kanalseite zum Anlegesteg zu gelangen. Das Polizeiboot das dort vertäut war, tümpelte im grünen Wasser und eine Gondel mit knipsenden japanischen Touristen schaukelte vorbei.

Da tuckerte langsam ein Taxi um die Ecke des Palazzos vom Canal Grande her und näherte sich dem Steg. Dort stand nun Massimo, hob leicht eine Hand und wartete. Fast lautlos fuhr das Boot an die Haltestelle heran und hielt vor dem Kommissar. Massimo überlegte kurz, als ihn der elegant gekleidete Mann im Inneren des Bootes mit einem Nicken und einer Handbewegung aufforderte, einzusteigen. Dann gab er sich einen Ruck und stieg ins Boot, das unter seinem Gewicht zu schwanken begann, als wäre es auf hoher See. Grußlos ließ er sich auf einen viel zu engen Sitz nieder und wartete auf das, was sich ergeben würde.

Das Boot löste sich vom Steg, wendete und glitt hinaus auf den Canal Grande, fuhr diesen entlang, durch die Rialto Brücke hindurch und bewegte sich auf die glitzernde Wasserfläche, die zwischen der Giudecca und dem Lido hegt. Dort drosselte der Matrose am Steuer den Motor und ließ das Boot in sanfter, langsamer Fahrt treiben. Die beiden Männer im Inneren hatten bis jetzt kein Wort gesprochen. Zwar hatte Massimo versucht, durch eine fragende Geste zu erfahren, wohin die Fahrt gehen sollte, doch sein Gegenüber schüttelte nur beruhigend den Kopf und legte einen Finger auf seine Lippen. Nun erst, als sie in der Lagune sanft schaukelnd dem Lärm der Stadt entflohen waren und sich die Augen fast schmerzhaft vom Glitzern der hüpfenden Wellen in der Abendsonne abwandten, nun erst begann der Mann zu sprechen.

„Kommissar Massimo, ich bin Paolo. Ich habe mit Ihnen telefoniert“, sagte er mit sanfter freundlicher Stimme und Massimo fühlte sich in einen jener Filme versetzt, die er so liebte.

Es waren diese mächtigen Familien, die Zeit seines Lebens seine Fantasien beflügelten und denen er so gerne angehört hätte. Wie gerne wäre er, so wie er es viele Male im Kino erlebte, einer jener Polizisten gewesen, die unter dem Schutz eines mächtigen Paten selbst mächtiger gewesen waren, als alle seine Vorgesetzten und alle jene, die sich ständig anmaßten, ihr Recht als das einzig wahre und wirkliche zu sehen. So war er Zeit seines Lebens im Inneren seines Heizens ein Mitglied der anderen Seite gewesen, jener Seite, die er aber bekämpfen musste, die nach außen seine Feinde zu sein hatten. Im Grunde genommen war er ein Wesen, dessen innerer, bösartiger Kern von einer gewaltigen Fleischmasse umhüllt war. Und nun fühlte er, in der Absurdität dieser Situation, in der er sich soeben befand, dass es zu einer Eruption besonderer Art kommen könnte. Sein Inneres begann zu zittern.

„Es freut mich, Kommissar dass Sie meiner Bitte gefolgt sind.“

Er bot Massimo mit einer Geste an, sich aus einem Zigarettenetui zu bedienen, und als er zugriff, gab er ihm Feuer.

„Es braucht Sie nicht zu interessieren, warum wir den Anruf aus Rom kannten. Stellen Sie aber bitte keine Fragen zu dem, was ich ihnen vorzuschlagen habe. Es geht, um es kurz zu machen, um eine kleine Gefälligkeit, die es Ihnen erlauben würde, Ihren Lebensabend so angenehm wie möglich zu gestalten.“

Massimo, der nicht wagte, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen, schien in die Betrachtung seiner Zigarette versunken zu sein.

„Und das“, fuhr dieser Paolo fort, „für eine lächerliche Gegenleistung. Völlig ohne Risiko für Sie.“

Es entstand eine Pause und der Kommissar zwang sich, den anderen anzusehen. Der lächelte ihm zu.

„Sie haben aus Rom den Auftrag erhalten, einem gewissen Mann einen Koffer mit Geldinhalt zu überreichen, um eine Mappe in Empfang zu nehmen. Dann sollten sie diesen Mann, der in der Verkleidung eines Rabbi auftritt, einfach entkommen lassen. Ohne Tricks oder anschließende Verfolgung. Ist das so?“

„So ist das“, bestätigte Massimo und wollte diesen Paolo schon fragen, wie er zu diesen Informationen gekommen war. Aber ja, dachte er. Das Telefon wurde überwacht. Und gleichzeitig wunderte er sich über die Naivität des Präsidenten. Das war doch stümperhaft. Einerseits gibt es keinen schriftlichen Befehl zu der angeordneten Aktion, andererseits war das Abhören eines Telefons eine Kleinigkeit. War da etwas mehr dahinter, etwas Anderes, etwas für ihn Gefährliches? War das vielleicht ein abgekartetes Spiel, und er selbst, der kleine Kommissar eine Figur, die man einem Gegner als Köder auslegt? Aber nun war er mitten drin in diesem Spiel, und aus der anfänglichen Unsicherheit winde Neugierde. Plötzlich gelang es ihm auch, diesem Paolo ins Gesicht zu blicken, das bemerkte der, und seine Augen leuchteten spöttisch auf.

„Gut“, sagte Paolo dann. „Der Auftrag, den Sie zu erfüllen haben, verlangt, dass Sie die Übergabe des Geldkoffers durch einen Assistenten und das Entgegennehmen der Mappe zu überwachen haben. Dabei sollten Sie, wie ich schon sagte, in keiner Weise eine Verfolgung des Überbringers der Mappe in die Wege leiten. Ist es so?“

Noch immer blickte Massimo seinem Gegenüber in die Augen und wunderte sich über sein eigenes Verhalten, das ihm sonst nicht zu Eigen war, da er zu jenen Menschen gehörte, denen es immöglich war, einem Augenkontakt standzuhalten. Es schien, als würden die Augen seines Gegenübers in die seinen versinken und durch sie hindurch in sein Inneres fließen.

„Ja“, sagte er, „so ist das“.

Massimo hatte das Gefühl, in sich selbst gefangen zu sein. Er wusste nicht mehr, wie er sich, vor dieser Begegnung, sein Verhalten vorgestellt hatte. Nun war er willenlos. Er fühlte, wie er in eine dunkle Machenschaft gezogen wurde, wie sich das erste Mal in seinem Beamtendasein eine Welt öffnete, die jene, die ihn bis jetzt umschlossen hielt, aufzubrechen drohte. Und es war, als würde sich seine Seele aus ihrem engen Gefängnis befreien, um von der seines Gegenübers aufgesogen zu werden, als würde er in ein anderes und dunkles Universum dringen.

Diese Ahnung, die er im Bruchteil einer Sekunde durchlebte, wurde aber vom Wind, der über die Wellen der Lagune strich, davongetragen, wie ein Blatt im Wind, und wie man aus einem dunklen Schlaf erwacht, umfasste ihn wieder die alte, banale und bekannte Wirklichkeit. Nur, dass er nun viel neugieriger war, zu erfahren, wie das Spiel, in dem er sich befand, weitergehen würde.

„Gut“, fuhr der andere fort. „Soweit also gut. Nun aber ändern wir das Programm etwas ab. Sie werden sehen, wie einfach sich ihre Rolle dabei gestalten wird. Alles soll so verlaufen, wie es Ihr Präsident angeordnet hat. Mit einer kleinen Änderung. Kurz vor dem Austausch von Koffer und Mappe rufen Sie, nein, schreien Sie: Vorsicht, das ist eine Falle! Haben Sie verstanden?“

Verblüfft öffnete Massimo seinen Mund.

„Ach was“, entfuhr es ihm.

„Ja Kommissar. Mehr ist nicht zu tun. Das genügt. Dann werden Sie sehen, was passieren wird: Der Mann gerät in Panik und verzichtet auf den Austausch. Er wird sich umdrehen und in der Menge verschwinden. Mit seiner Mappe, wohlgemerkt, mit der Mappe.“

„Und dann?“

„Am Ende der Gasse, dort, wo sie in einen Durchlass mündet, warten zwei unserer Männer und nehmen ihm die Mappe ab. Das wäre alles.“

„Einfach zu rufen: Das ist eine Falle! Damit der Betreffende davonläuft? Das ist alles?“

„Das ist alles.“

„Und wieviel?“

„Wir dachten an zweihunderttausend. In bar.“

„In bar?“

„Bar.“

Massimo nickte mit dem Kopf.

„Wann bekomme ich das und wie?“

„Sie erhalten nach der Aktion wieder einen Anruf. Darauf müssen Sie sich verlassen.“

„Gut“, sagte Massimo. „Bringen Sie mich zurück.“

Aber anstatt am Kommissariat legte das Boot an der Haltestelle Arsenale an, und Paolo bedeutete Massimo auszusteigen. „Alles andere wäre zu riskant“, sagte er noch mit einem Lächeln. Missmutig musste der Kommissar daher auf ein vaporetto warten, um zurückzufahren.

Der 31. September oder die List des Teufels

Подняться наверх