Читать книгу Der 31. September oder die List des Teufels - Werner Kogelnig - Страница 23

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Jan war, nachdem er Karl so brutal niedergeschlagen hatte, in diesem alten Palast verschwunden. Er hatte sich mühsam durch einen Spalt zwischen den Holzplanken hindurchgezwängt, die den Eingang zu dem gefährlich bröckelnden alten Gebäude versperrten und stand nun in einer ehemals prunkvollen, nun modrigen und baufälligen Eingangshalle. Überall lagen Haufen von Bauschutt herum, von der Decke baumelte ein riesiger, staubbedeckter Metalluster mit leeren Messingfassungen, und die beiden Stiegen, die links und rechts zu den Gesellschaftsräumen hinaufführten, waren durch quer gestellte Bretter versperrt. Durch die mit einer dicken Staubschicht bedeckten Fenster drang nur wenig Licht ins Innere und verschmolz mit dem Grau des verfallenen Raumes zu einer nebelhaften verwunschenen Atmosphäre.

Jan verharrte einen Moment und horchte auf das Summen früherer Zeiten, das wie ein verschollener Gesang aus den Tiefen längst vergangener, rauschender Feste an seine Ohren drang. Maskierte Gestalten in bunten wehenden Gewändern schwebten um ihn herum und durch ihn hindurch, bis plötzlich draußen vor dem alten Palast ein Böllerschuss krachte, der jeweils zur Mittagszeit die Tauben von den Dächern vertrieb und die ganze spukhafte Gesellschaft sich auflöste und verschwand.

Jan war nun von absoluter Stille umgeben. Er erinnerte sich an das kellerartige Gewölbe, einem Verlies gleich, in dem er angekettet und hilflos mit dieser Stimme eines Unsichtbaren sprach, dessen Wesen nun das seine war. Nicht ganz! Es war in ihn gedrungen und beherrschte ihn. Es unterdrückte sein Selbst, es befahl und er musste gehorchen. Aber es war nicht nur so, dass ihn dieses fremde Wesen nur durch seine undefinierbare Stärke beherrschen würde. Er selbst war es genauso, der verführt vom Versprechen auf Macht und Reichtum sein früheres Menschsein leugnete. Fast. Denn im hintersten Winkel seines Herzens verbarg sich ein unzerstörbarer Kern eines Widerstandes, in dem das Samenkorn von innerster Reue schlummerte. Aber es war noch lange nicht so weit.

„Dieser Palast wird der Ihre sein.“

Obwohl diese Worte sauft an Jans Ohr drangen, fuhr ihm der Schrecken in die Glieder. Er drehte sich um und sah wie ein Mann, der wie aus dem Nichts gekommen war, vor ihm im Raum stand und ihm lächelnd die Hand entgegenstreckte. Jan ergriff sie und spülte die Eiseskälte, die von ihr ausging.

„Was sagen Sie da?“ fragte er und blickte in den Ruinen umher, als suchte er den Sinn der Worte zu begreifen. „Wer sind Sie denn? Was machen Sie hier?“

„Nennen Sie mich Paolo. Und was ich hier mache, fragen Sie?“ Nun, ich habe auf Sie gewartet.“

Als ihn Jan fragend ansah, deutete Paolo hin zu der brüchigen Treppe, die nach oben führte. „Gehen wir hinauf. Dort ist es bequemer. Wir haben einiges zu reden. Kommen Sie nur.“

Er stieg vorsichtig, die Absperrbretter umgehend, die Stufen voran. Jan folgte ihm, neugierig darauf, was ihn da oben erwarten würde.

Als die beiden Männer über gebrochene Ziegel, Schutthäufen und verstreut herumliegendes Maurerwerkzeug in einen mit Marmorblöcken eingefassten und durch eine schwere Stahltüre abgetrennten Saal traten, war Jan vom Anblick, der sich ihm bot, völlig überrascht und überwältigt. Wie eine prunkvolle Filmkulisse erstrahlte ein fürstlich ausgestatteter Raum im klaren Licht, das durch die hohen gotischen Fenster floss, die sich auf den in der Sonne glitzernden Wellen des Canale Grande spiegelten. Jan war sprachlos. Paolo forderte ihn lächelnd auf, sich auf einen der gepolsterten und dunkelrot tapezierten Stühle zu setzen und dann selbst, ihm gegenüber, Platz nahm. Er breitete die Arme aus und wiederholte:

„Dieser Palast wird der Ihre sein. Nun? Hier oben sieht es schon besser aus als unten in der Halle. Aber hier muss vorsichtig restauriert werden. Das erfordert Zeit und Geduld.“ Paolo hielt inne und fügte hinzu, wobei sein Lächeln breiter wurde: „Auf alle Fälle viel besser, als im Keller, in dem man Sie unglücklicherweise für kurze Zeit festgehalten hatte.“

„Unglücklicherweise?“

„Ja. Man hätte einen angenehmeren Ort wählen können. Aber das Ungewöhnliche liebt nun einmal auch ungewöhnliche Orte. Bei Tageslicht glaubt der Mensch nicht an Geister. Im Dunkel der Nacht aber, umgeben von einsamer Stille, fährt ihm der Zweifel unter die Haut. Es gibt keinen Menschen, müsste er nachts durch einen finsteren Wald gehen, der nicht an die Möglichkeit des Unmöglichen glauben würde. An Hexen, Teufel, an die wilde Jagd und an all das, was von der Vernunft verneint wird.“

„Sie sagten, sie hätten hier auf mich gewartet? Wozu?“ Jan war ungeduldig geworden. Er verstand nicht recht worauf dieser Mami hinauswollte.

„Sie sind ungeduldig“, fuhr Paolo unbeirrt fort. „Aber es ist wichtig für Sie, zu verstehen, was mit Ihnen passierte, wie es geschah und wozu. Ich sagte schon, die dunklen Mächte scheuen das Licht. Sie haben auch keine Möglichkeit, sich eines menschlichen Wesens zu bemächtigen, wenn dieses im hellen Tageslicht den Gesetzen einer anerzogenen Vernunft gehorcht. Um ihm seinen Willen aufzuzwingen, ihm seine Seele einzuverleiben, bedarf es jener Momente, in denen in den Tiefen des menschlichen Seins die natürliche ursprüngliche Furcht vor dem Unbewussten, dem Verborgenen erwacht. dann ist das, was im Menschen der Ewigkeit zugehört, bereit, sich zu öffnen und wie ein Samen das Fremde in sich aufzunehmen.“ Paolo schwieg einen Augenblick, um Jan Zeit zu geben, über das Gehörte nachzudenken. Und Jan erinnerte sich an die Angst, die er spürte, als er gefesselt auf dem Tisch lag und diese Stimme zu ihm sprach. Er durchlebte von neuem das ungeheure Empfinden, als ihm, ohne dass er sich wehren konnte, dieses Insekt in den Mund kroch und er es würgend schlucken musste, um nicht zu ersticken.

„Nun also bist du Judas“, fuhr Paolo fort und duzte Jan plötzlich. „Seine Seele hat sich in dir offenbart. Es gibt für dich keine Möglichkeit mehr, das zu ändern. Oft noch wird dein altes Selbst versucht sein, zurückzukehren, die fremde Macht in dir auszuspeien. Aber glaube mir, es wird vergebens sein.“

Das aber hatte Jan schon erfahren. Er hatte es gespürt. Aber, dachte er, was sollte ihn dabei stören? Die Kraft und die Macht, die in ihm war, war berauschend, so als hätte er Drogen genommen. Aus seinem alten, banalen, kleinlichen Leben war er in ein neues Universum eingetreten und ahnte dabei die Ungeheuerlichkeit, dessen Teil er nun war. Paolo waren die Gedanken Jans nicht entgangen. Er war zufrieden.

„Der Palast wird mir gehören?“ Jan sah Paolo forschend an. „Wie ist das gemeint? Wie wird das weitergehen? Welchem Zweck dient das alles?“

„Der Palast und vieles mehr. Ungeheurer Reichtum und Macht erwartet uns alle. Herrschaft über diese Welt, über alle Seelen. Und du“, Paolo erhob sich und ging auf Jan zu, „und du bist der Schlüssel zur neu entstehenden Ordnung dieses Universums.“

„Ich? Warum ich?“ Jan sah Paolo verständnislos an.

„Weil du der einzige bist, dem es gelingt, die Namen auf dem Pergament zu enträtseln. Du bist nun Judas und als einer der zwölf Apostel kennst du das tiefste Geheimnis jener Botschaft, die ER damals unter die Menschen brachte. Die Apostel wurden auserwählt, diese Botschaft zu verbreiten, und durch das ihr innewohnende Geheimnis die Menschen immer wieder vor der Herrschaft des Bösen zu bewahren. Auch die Seele des Judas wandert, so wie die zehn anderen Seelen der Jünger von Körper zu Körper, von Epoche zu Epoche. Aber ebenso hat Judas versucht, diese Ordnung zu zerstören. Immer wieder hat seine verlorene Seele versucht, zurückzukehren in die gemeinschaftliche Liebe. Doch stets war diese zur Schau getragene Reue durch die Verlockungen des Goldes, das ihm der Teufel unter die Nase hielt, vergebens gewesen. Aus Reue ist nun Verlangen nach Rache geworden. Deine Stunde ist gekommen, Judas.“

„Was muss ich tun?“

„Wir verlassen nun den Palast und machen eine Reise. Du wirst bald erfahren, wohin es gehen wird. Komm, es eilt nun.“

Sie stiegen vorsichtig die Stufen hinab, durch die Absperrung hindurch und stiegen in das Boot, das sie nach Mestre brachte.

Während der Fahrt mit dem Boot und anschließend in der verdunkelten Limousine sprachen die beiden Männer ausführlich miteinander. Es war inzwischen Nacht geworden. Im Inneren des Luxuswagens war nur leises Summen zu vernehmen, und die entgegenkommenden Autos tasteten mit ihren Scheinwerfer über die Gesichter.

Aufmerksam hatte Paolo dem Bericht gelauscht, den ihm Jan von den Ereignissen der letzten Stunden lieferte. Sollte dieser Österreicher tatsächlich tot sein? Erschlagen von diesem Tölpel, dachte Paolo. Wie sollten sie dann zu der Liste kommen? Aber er beruhigte sich. Der wird nicht tot sein. Die werden sich schon was einfallen lassen, um den Mann am Leben zu erhalten. Für die Seelen war es unbedingt notwendig, das Pergament wieder an seinem Platz zu wissen. Im Grab Petri.

Nun galt es, diesen neuen Judas in seine Aufgaben einzuweihen. Er sollte noch nicht alles wissen. Die Gefahr eines Rückschlags war gegeben. Judas verkörperte nicht das reine Böse. Das Böse, das in ihm wohnt, ist menschlicher Natur. Er ist an den Verrat gebunden, aus Geldgier und aus Schwäche. Wir werden sehen, dachte Paolo.

„Sobald wir Mestre erreicht haben, werde ich dich in eine Wohnung fuhren. Dort liegt eine junge, hübsche Dame gefesselt auf einem Bett. Sie ist Polizistin und wurde von ihrem Chef auf den Weg geschickt, Nachforschungen über den Tod des Mamies durchzuführen, den ihr aus dem Meer gefischt habt.“

„Und?“

„Du hast drei Tage Zeit, sie in deine Gewalt zu bringen. Brich ihren Willen. Sie muss wie eine dressierte Hündin gehorchen.“

Jan starrte Paolo an. Er war so baff, dass es ihm die Sprache verschlug. Als ihn Paolo so verdutzt sah, lachte er und meinte:

„Mach dir keine Sorgen. Du wirst bald merken, wie leicht dir in Zukunft solche unmöglich scheinende Dinge gelingen werden. Die Seele des Judas hat auf ihrem Weg in diese Epoche auch lange und vergnüglich in Don Juan gelebt, bevor er zum Teufel ging. Dir wohnt nämlich etwas Besonderes inne. Etwas ungemein Wesentliches für unsere zukünftige Arbeit. Es ist die ganz besondere Eigenheit, die dir wie ein Büchsenöffner Menschenherzen, Türen und Tore öffnen wird.“ Paolo unterbrach die Belehrung und blickte hinaus auf die Straße, auf die vorbeihuschenden Häuser, als würde er auf jemanden oder auf etwas lauschen da draußen in der finsteren Nacht. Jan der aufmerksam zugehört hatte wurde ungeduldig.

„Wie denn, was meinst du damit. Sprich doch weiter.“ Auch er duzte nun Paolo.

„Ach, ja!“ Paolo wandte seinen Blick wieder ins Innere. „Dir wohnt eine Kraft inne, die es dir ermöglichen wird, deinen jeweiligen Betrachter in deinem Aussehen so zu erscheinen, wie du es willst. Es kann sogar geschehen, dass jeder einzelne von mehreren Menschen, mit denen du gleichzeitig sprichst, dich verschieden sehen, ohne davon zu wissen.“

„Klingt das nicht sehr fantastisch?“

„Es klingt so. Ist es aber nicht. Auch im täglichen Umgang der Menschen miteinander sehen wir alle den Einzelnen mit völlig verschiedenen Augen. Wenn zwei Menschen einander betrachten, dann entstehen zwei verschiedene Bilder von ihm. Nicht der äußere Schein von Etwas ist die Wirklichkeit. Das, was unsere Einbildungskraft aus diesem Schein macht, ist sie. Es ist nichts als eine hypnotische Fälligkeit, die dir nun zu Eigen ist. Nicht mehr der Betrachter formt sich ein Bild von dir. Du selbst bist es, der das Unbewusste in ihm zwingt, dich so zu sehen, wie du es willst.“

„Und das geschiehst von selbst? Ohne dass ich etwas dazu tun muss?“

„Ja. Alles ist Illusion. Denk jetzt nicht darüber nach. Du wirst es bemerken, wenn es soweit ist.“

Sie waren vor dem Haus, in dem Maria gefesselt auf einem Bett lag, angelangt, und der Wagen hielt.

„Ich verlasse dich jetzt. Geh an die Arbeit. Es ist dir alles erlaubt, dein Ziel zu erreichen. Schick den Mann fort, der oben auf sie aufpasst.“ Paolo griff in seine Tasche und holte ein dickes Bündel Banknoten hervor und reichte es Jan. „Hier“, das wird vorerst reichen. In drei Tagen hörst du von mir.“ Er griff über Jan hinweg und öffnete auf seiner Seite die Wagentür. Mit einer Handbewegung forderte er ihn auf, auszusteigen. „Erste Etage, Tür fünf.“

Der schwere schwarze Wagen war verschwunden und Jan, der jetzt Judas war stand unschlüssig auf der Straße. Das war wohl ein irrer Auftrag, dachte Jan. Das sind Dinge, die doch nicht ernst zu nehmen sind. Da muss es doch ein Eiwachen geben, einen Ausgang aus diesem Traum. Der schickt mich in eine Wohnung zu einer gefesselten Frau, noch dazu eine Polizistin und ich soll sie irgendwie gefügig machen. Wie eine Hündin, sagte er. Jan griff sich an den Kopf und dachte wieder daran, liier einfach abzuhauen, zu verschwinden. Er fühlte das Geld in der Tasche. Es war eine Menge. Aber kaum hatte er das Bündel Scheine berührt, schienen die Gedanken an einen Ausstieg aus diesem Szenario wie weggeblasen, und gleichzeitig spülte er eine unheimliche Energie, einen gewaltigen Tatendrang, der ihn die Treppe hinaufstürzen und ohne Anzuklopfen die Türe aufreißen ließ, um in einen verdunkelten Raum zu taumeln.

Der Mann, der Maria bewachte, erschrak, und sprang überrascht auf, obwohl ihn Paolo am Telefon vorgewarnt hatte. Maria, die wach auf dem Bett lag, starrte dem hereinstürzenden Jan mit aufgerissenen Augen an, in denen die nackte Angst zu lesen war. Da erst wurde er sich seines ungestümen Polterns bewusst und legte eine Hand beruhigend auf die Schulter des Mamies. „Sie können jetzt gehen“, sagte er nur und wartete bis dieser kopfschüttelnd den Raum verließ und die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

Jan nahm den Platz des verschwundenen Wächters ein, betrachtete neugierig Maria, die ihn stumm anstarrte und sagte dann in die Stille hinein: „Ich werde Ihnen den Knebel aus dem Mund nehmen. Sollten Sie schreien, stecke ich Ihnen eine tote Ratte in den Mund. Nun? Werden Sie ruhig sein?“

Maria nickte. Jan ging zu ihr hin und löste den Knoten des Tuches. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Die beiden sahen sie sich in die Augen und Maria sagte: „Ich muss dringend.“

Das war nun das Problem, dachte Jan. Wenn ich ihr die Fesseln löse, ist der Teufel los. Die ist Polizistin. Die sind nicht so olme. Die keimen jede Menge Tricks und sind im Nahkampf geschult. Er blickte um sich und sah den Rest des Strickes, mit dem man die Frau gefesselt hatte. Er nahm ihn zu sich und formte eine Schlinge, die er ihr um den Hals legte und zog sie zu, bis sie keuchte. Sofort lockerte er die Schlinge wieder. Dann schnitt er ihr die Fesseln durch, führte sie wie einen Hund an der Leine hin zur Toilette, ließ sie hinein, die Tür einen Spalt offen und wartete, das Ende der Leine in den Händen. „Machen Sie keinen Unsinn, oder ich ziehe die Schlinge fest“, sagte er und versuchte die Geräusche zu überhören, die aus der Kammer drangen.

Natürlich versuchte Maria drinnen, den Strick zu lösen, doch das spürte Jan am anderen Ende und zog sofort daran.

„Aufhören“, japste sie. „Hören Sie auf.“

„Dann machen Sie keinen Unsinn!“ Und nach einer Pause: „Nehmen Sie die Schlinge ab.“

Maria blickte Jan erstaunt an, sah aber dann die Pistole in seiner Hand. Sie schlüpfte aus der Schlinge und stand unschlüssig im Raum.

„Setzen Sie sich.“

So saßen sie sich gegenüber. Maria steif und geschockt auf der Bettkante und Jan auf dem einzigen Stuhl im Zimmer. Er hatte die Waffe auf sein Knie gelegt. Er holte eine Packung Zigaretten hervor, zündete sich eine davon an und warf ihr die Packung und das Feuerzeug zu. Sie beachtete die Geste nicht. Unentwegt sah sie Jan ins Gesicht, als könnte sie so das Rätsel ihrer Lage lösen.

„Wer sind Sie?“

Jan erinnerte sich an das, was Paolo ihm gesagt hatte. Welches seiner Gesichter soll er ihr zeigen? Mit welchem würde er am sichersten und schnellsten an sein Ziel gelangen? Sie sollte ihm wie eine Hündin gehorchen, hatte er zynisch gesagt. Er würde es mit einem Bluff versuchen.

„Du kennst mich nicht mehr?“ fragte er vorsichtig.

„Nein!“ sagte sie, betrachtete aber doch neugierig sein Gesicht.

„Sieh mir in die Augen“, flüsterte Jan und nickte den Stuhl näher an sie heran. Maria kannte den Mann nicht. Sie war sich sicher, ihn noch nie in Wirklichkeit gesehen zu haben. Und doch, als sie, ohne es zu wollen, ihre Augen in die seinen senkte, entstand dieses Bild des Mamies in ihr, der in ihren Träumen stets an ihrer Seite schlief, dessen Gesicht sie in einsamen Stunden zärtlich liebkoste, und das sie bei all den Männern, denen sie bis jetzt in ihrem jungen Leben begegnet war, gesucht, aber noch nie gefunden hatte. Erschrocken schloss sie die Augen. Doch das Bild, es blieb.

Jan ahnte, was geschehen war. Er triumphierte. Paolo hatte die Wahrheit gesagt. Wie nun weiter? Das Bild war vorhanden. Er durfte nichts überstürzen. Paolo hatte ihm nicht gesagt, wie er sich verhalten sollte. Das Bild allein genügte sicher nicht. Er kannte diese Frau nicht, er wusste nichts von ihr. Wie sollte er sie behandeln?

Maria öffnete die Augen, sah in dieses sympathische, freundlich lächelnde Gesicht und fühlte sich eigenartig beruhigt. Dieses Lächeln, das ihr so sanft entgegenstrahlte, war so Vertrauen erweckend, so anziehend, dass sie einen Moment vergaß, wo sie sich befand und was geschehen war.

„Nein“, sagt sie wieder und stockte. „Nein, ich glaube nicht, dass ich dir schon irgendwo begegnet bin. Und doch…“

„Und doch?“

„Und doch scheinst du mir vertraut, als würde ich dich schon lange kennen.“ Sie hielt sich mit einer Hand den Mund zu. Sie war selbst erschrocken über das, was sie da sagte und auch, dass ihr das du so leicht und selbstverständlich über die Lippen kam. „Was ist das für ein Zauber, der da geschieht?

„Es ist kein Zauber.“ Jan wollte den Anschein eines Wunders vermeiden. Er erhob sich und ließ den Revolver in seine Tasche gleiten, so, als gäbe es keine Gefahr mehr. Und doch war er höllisch auf der Hut. Ganz traute er all dem nicht. Das ist ja ein Ding, sinnierte er. Diese Möglichkeit, seiner Umwelt jederzeit einen gewissen äußeren Schein aufzuzwingen birgt unheimliche Macht in sich. Das muss eine besondere Art von Hypnose sein. Eine, die sich die Seele des Judas während seiner Wanderung durch die Jahrhunderte angeeignet hatte, um zu überleben. Der Betrug und der Verrat verlangen die Schauspielkunst: Sich anders zu geben und zu zeigen, als man selbst im Inneren ist. Und zwar so, dass die Verstellung glaubwürdig ist.

„Nein, das ist kein Zauber. Vielleicht bin ich dir einfach sympathisch. Das wäre schön. Aber nichts anderes.“ Er blickte sie wieder lächelnd an. „So sympathisch, so wie du es mir bist. Damit wird für uns alles leichter werden“, fügte er mit ernster Mine dazu.

„Was – alles – leichter?“

„Nun, darüber wollen wir uns nun in aller Ruhe unterhalten.“ Jan deutete zur offenen Tür, die zu einer kleinen Küche führte. „Wollen wir?“

„Ich bin längst am Verhungern.“ Maria wusste, dass sie nun die Möglichkeit hatte, zu fliehen. Aber da war plötzlich die Neugierde, zu erfahren, was es mit dieser ganzen verrückten Geschichte auf sich hatte, und sie ließ es bleiben. Außerdem spürte sie, wie von diesem Mann eine undefinierbare Kraft ausging. Eine Anziehung, die ihren Willen in einer gewissen Weise zu lähmen schien. Sie folgte ihm in die Küche und roch, als sie neben ihm stand, den Geruch nach Schweiß, Tabak und Leder, der ihr doch im Allgemeinen äußerst zuwider war. Sie musste unwillkürlich an ihren Chef, Massimo denken, vor dessen Ausdünstungen sie stets die Nase rümpfte. Und nun? Der da roch so ähnlich. Sie war verblüfft zu erleben, wie sie erschauerte, als sich ihre Körper berührten und sie diese Berührung wie eine Liebkosung empfand.

„Dosen, Dosen, Dosen“, sagte Jan und rumorte in einem Schrank herum. „Nichts als Dosen. Kein Brot, keine Wurst, kein Käse. Keine gekühlten Getränke.“

Maria blickte aus dem kleinen Fenster der Küche. „Da drüben“, machte sie Jan vorsichtig aufmerksam, „da ist eine Pizzeria. Wie wäre es damit?“

Jan blickte Maria nachdenklich an. Die Möglichkeit einer Flucht wäre ungemein groß. Sie könnte um Hilfe schreien. Andererseits aber, so dachte er, wäre ein gemütliches Abendessen ein geeigneter Rahmen, um die Verführung im Sinne Paolos gelingen zu lassen. Ein Gefühl sagte ihm, dass ihre Neugierde nach dem Sinn und dem Zweck dieser Freiheitsberaubung stärker war, als der Gedanke an Flucht. Auch spürte er das Interesse, das sie an ihm bekundete. Er bemerkte sehr wohl das Erschauern ihres Körpers vorhin, und die Seele des Judas, die jetzt in Jan wohnte, war viel zu erfahren, um nicht gewisse Regungen menschlicher Herzen deuten zu können.

„Eine großartige Idee. Kommen Sie. Gehen wir hinüber.“

Maria blickte um sich und sah ihre Schuhe am Boden liegen, zog sie an und zupfte vor einem Spiegel an ihren Haaren herum. Jan nahm sie am Arm und führte sie in das kleine, fast noch menschenleere Lokal.

Sie sprachen anfangs nicht viel. Sie bestellten, und Maria verschlang ihre Spaghetti so, dass Jan befürchtete, sie würde augenblicklich ersticken. Dann aber, nachdem die Teller abgeräumt waren und sie vor einem weiteren Glas Wein saßen, war es Maria, die Jan eiwartungsvoll anblickte.

„Nun?“, fragte sie und Jan beschloss, mit der Tür ins Haus zu fallen.

„Morgen werden wir beide nach Rom reisen.“

Irgendwie passt das alles zusammen, dachte Maria. Das, was bisher geschah, war so verrückt, dass die einfache Aussage dieses Mannes – wir fahren nach Rom – fast schon normal klang. Und um dieses Spiel mitzuspielen, sagte sie einfach: „Gut. Nach Rom.“

Jan ignorierte den ironischen Ton. Er blickte ihr in die Augen. Wie ein Strahl drang die Seele des Judas in ihr Inneres und setzte sich wie ein lähmendes Gift in ihrem Herzen fest. Trotzdem war es ihr möglich, klar zu denken. Sie wusste, was ihr passierte. Aber es war ihr nicht mehr möglich, dieses Wissen in eine vernünftige, abwehrende Tat umzusetzen, einfach aufzustehen und davonzulaufen, zu fliehen aus diesem absurden Geschehen. Sie blieb sitzen und hörte zu, was Jan sagte.

„Höre Maria. Auch ich selbst kann dir noch nicht konkret sagen, welche Aufgabe uns in Rom erwarten wird. Es sind ungeheure Mächte, die uns dazu benutzen, ihre Ziele zu erreichen. Vielleicht könnte es uns gelingen, das, was in uns gedrungen ist, herauszulösen und zu zertreten, unserem sterblichen Menschsein treu zu bleiben. Dieser Versuch wäre, wenn überhaupt möglich, eine Lösung. Sie hieße: einfach zu sterben. Willst du das?“

Maria hörte zu und dachte wieder daran, einfach aufzustehen um davonzulaufen. Massimo alarmieren. Das war doch alles Unsinn. Ein von Verrückten geplanter Wahnsinn. Aber Jan legte seine Hand auf die ihre und sie fühlte den Strom, der wie Feuer in ihren Körper drang. Kraftlos ließ sie alle Gedanken an eine Flucht fallen.

„Wir werden unglaublich reich sein. Vergiss deine alte Welt. Vergiss die Mühseligkeit deines gewöhnlichen Daseins als Polizistin. Das, woran wir beteiligt sein werden, wird alle deine Vorstellungen übersteigen. Dem Leben wird Luxus sein. An meiner Seite. Ich selbst werde diese neue Macht verkörpern, in einer unfassbaren neuen Welt.“

Wahnsinnig. Er ist wahnsinnig, dachte Maria, als er sie an sich zog, hinauf in die Wohnung führte und sie dort in die Arme nahm. Das war keine menschliche Umarmung, die sie erlebte, das war ein Feuersturm der um sie wütete, und auf dem Höhepunkt ihrer Lust starrten ihre weit geöffneten Augen in ein keuchendes Gesicht über ihr, das einem infernalischen Ungeheuer glich.

Der 31. September oder die List des Teufels

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