Читать книгу Der 31. September oder die List des Teufels - Werner Kogelnig - Страница 18

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Als würde er sich in einer Zwischenwelt befinden, als wäre alles Imagination innerhalb eines äußeren Rahmens, so empfand Karl seine Gegenwart. Er bemühte sich, aus diesen Rahmen herauszutreten, um zurückzukehren in sein Leben, zu seiner Familie, seinen Kindern, in seiner Welt. Aber so sehr er auch versuchte, das Unbekannte, das ihn umgab, wie ein fremdes Gewand abzulegen, so sehr spürte er die Macht, die ihn von all dem entfernte, was er bisher war.

Was werden sie in Wien von ihm denken? Was unternehmen, um ihn zu finden? Sie werden eine Vermisstenanzeige aufgeben, vielleicht nachfahren, ihn hier suchen? Dann zwang ihn aber das Andere, das ihn immer mehr zu beherrschen begann, so als hätte es seine Besorgnis erkannt, in seine Tasche zu greifen, um sein Handy, das ohnehin längst abgeschaltet war, in hohem Bogen in den Kanal zu werfen. Und als wäre dieser Vorgang ein Akt der Befreiung gewesen, vergaß er das kurze Aufscheinen seiner früheren Welt, und das Bild Tinas tauchte in seinen Gedanken auf, und auch die Brutalität, mit der Jan sie mit sich gerissen hatte, um mit ihr in der Menge zu verschwinden.

Er sah auf die Uhr. Es war fünf. Eine Stunde blieb ihm noch. Dann sollte er beim Kommissar sein. Er wusste nun, dass sich alles um dieses Pergament drehte. Um die Namen, die es enthielt. Es gab nun zwei Gründe das Papier nicht aus der Hand zu geben. Der erste war, dass alles, was seit der Angelgeschichte geschah, mit dieser Liste zusammenhing. Sie schien für gewisse Gruppen außerordentlich bedeutsam zu sein und daher wertvoll. Der andere Grund hing mit diesem anderen Wesen in seinem Inneren zusammen, das ihn immer mehr beherrschte und seine Handlungen bestimmte.

Er setzte sich auf die Treppe einer Brücke, die einen kleinen Kanal überspannte, nahm das Pergament zur Hand und las. Auf der linken Seite waren untereinander die Apostel angeführt und daneben, jeweils zu einem Apostel gehörend, die Namen bedeutender lebender Persönlichkeiten. Er entschloss sich, das Pergament vor seiner Begegnung mit dem Kommissar in ein Schließfach am Bahnhof zu hinterlegen. Man würde ihn vielleicht wieder durchsuchen. Um sicherzugehen wollte er sich die Namen einprägen um sie im Gedächtnis zu behalten. So las er wie ein Schüler eine Zeile, schloss die Augen und versuchte dann, die Namen auswendig zu wiederholen. Vergebens. Er probierte es noch einmal. Umsonst. Was war das? Hatte er den Verstand verloren? Neben ihm, in einem Abfallkorb steckte eine alte weggelegte Zeitung. Er nahm sie heraus, schlug sie auf, las die in einem Artikel vorkommenden Namen, schloss die Augen und wiederholte sie ohne Mühe aus dem Gedächtnis. So wiederholte er den Vorgang mit der Liste. Las die Namen, schloss die Augen. Weg. Vergessen. Was ist das für eine Höllengeschichte, dachte er, stand auf und hastete, nun unter Zeitdruck, durch die engen Gassen und über die zahllosen Brücken zur Station. Dort schob er das Papier in ein Schließfach, wählte einen Code, bestätigte ihn und verschloss das Fach. dann wiederholte er die Schließnummer. Fabelhaft. Die Namen aber waren aus seinem Gedächtnis verschwunden, so als hätte er sie nie gelesen. Da schoss ihm aber etwas durch den Kopf: Ein Name, den Jan in der Bar triumphierend nannte: Petrus ist Papst! Wie ein Blitz durchfuhr ihn die Erkenntnis. Was war das für eine für eine hochbrisante Sache! Was steckte dahinter? Waren die Menschen hinter den Namen auf der Liste vielleicht bedroht?

Nun erst winde ihm bewusst, wie unfassbar und fantastisch der Augenblick war, als er sah, wie sich das Papier selbst entzündet hatte, wie es dann verbrannte und schließlich wieder seine alte Form erhielt! Als er sich dieses unglaublichen Geschehens erinnerte, bekam die Tatsache, dass es unmöglich war, sich die Namen zu merken, die auf der Liste standen, eine neue Bedeutung. Er war sich nun sicher, dass dieses unheimliche Geschehen in umnittelbarem Zusammenhang mit der Veränderung seiner selbst stand. Etwas Rätselhaftes war geschehen, aber er hatte keine Ahnung, was es war. Doch er fühlte, dass er im Begriffe war, eine unsichtbare Schleuse zu durchschreiten: Von liier nach drüben.

Karl eilte die breite Treppe aus der Bahnhofshalle hinab, lief den Kanal entlang, bis zur nächsten Anlegestelle. Dort hatte er Glück, dass gerade die schnelle Linie zum Markusplatz hielt und sprang in das überfüllte Boot.

Er wusste, wo sich das Kommissariat befand. Oft schon war er während seiner Streifzüge durch Venedig an diesem schönen alten Palazzo hinter der Anlegestelle der Lagunenschiffe, die von Punta-Sabbione, Torcello, Burano oder Murano kamen, vorbeiflaniert, um von dort zum Arsenale weiterzuschlendem, dem Viertel der Stadt, das noch viel ursprünglicher und entdeckungswürdiger ist, als die überlaufenen, von Modeboutiquen überquellenden Touristenzentren.

Er wandte sich am Eingangstor zum Kommissariat an einen wachhabenden Carabinieri, nannte seinen Namen und sagte ihm, er wäre vorgeladen. Gelangweilt wurde er gemustert und dann mit einer lässigen Handbewegung ins Innere geschickt. Er erschrak, als er sich plötzlich am Arm ergriffen fühlte und den Kommissar erkannte, dem er vor zwei Tagen am Kai über den Weg lief.

„Kommen Sie“, sagte dieser und führte ihn, immer noch am Arm haltend in ein Büro, das so aussah, wie alle anderen Büros von Kommissaren, überall auf der Welt. „Nehmen Sie Platz!“, forderte Massimo Karl auf und ließ sich selbst auf einen für ihn viel zu kleinen Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken. Die beiden Männer sahen sich an und schwiegen, bis der Kommissar zur Sache kam.

„Ich habe Sie herbestellt, um Ihnen – vielleicht – ihren Pass zurückzugeben.“

„Aha“, sagte Karl.

„Der Tote ist ertrunken. Keine Gewaltanwendung. Kein Mord. Ein Unglücksfall.“

„Aha.“

„Das heißt aber nicht, dass ich Sie entlassen werde, bevor Sie mir nicht genau geschildert haben, was Sie mit dem Toten zu tun hatten. Ich habe Ihnen von Anfang an die Geschichte mit der Schlaflosigkeit nicht geglaubt.“

„Daher der Überfall? Daher die drei Carabinieri in meinem Hotelzimmer? Die Durchsuchung?“

Massimo blickte ihn überrascht an. „Überfall?“

„Kam der nicht von Ihrer Seite?“ Massimo schüttelte den Kopf. „Nein,“ die Durchsuchung ja. Der Überfall nicht. Erzählen Sie!“

Bevor Karl aber begann, von dem Überfall vor seinem Hotel zu berichten, überlegte er sich, wie aufrichtig er dem Kommissar gegenüber sein durfte. Leugnen? Nichts mit einem Leichenfund zu tun zu haben? Den Ahnungslosen spielen? Oder die Wahrheit sagen?

„Nun?“ Massimo ahnte sehr wohl die Überlegungen Karls, und er hatte ihm Zeit dafür gelassen. Als aber Karl vom Überfall berichtete, war er überrascht über das sichtbar echte Erstaunen des Kommissars. Was war das nun wieder? dachte Karl. Gab es außer Jan und der Polizei noch eine Gruppe, noch jemanden, der hinter dem Papier her war?

„Kommen wir zurück zu Ihrer Aussage in der Nacht am Kai. Sie erzählten, an Schlaflosigkeit zu leiden. Es wäre nur ein Spaziergang. Dass ich ihnen das nicht glaube, haben Sie schon an der Durchsuchung in Ihrem Hotel gemerkt. Und nun sprechen Sie noch von einem Überfall. Wurden Sie verletzt?“

„Ja. Ich war ohnmächtig. Man hatte mich hinaufgetragen und da kam auch ein Arzt.“

„Wurde Ihr Zimmer durchsucht?“

„Ja.“

„Gut. Kommen wir zurück zu dieser Nacht. Unsere Annahme, dass Sie nichts mit einem Mord zu tun haben, habe ich Ihnen schon gesagt. Aber Sie waren bei der Leiche. Wie habe Sie diese gefunden. Haben Sie diese aus dem Wasser geborgen? Was war da. Waren Sie alleine, oder war da noch jemand? Erzählen Sie!“

Massimo fuchtelte mit dem Pass vor Karls Nase herum, und der hatte sich entschlossen, zu reden, alles zu sagen. Nur über das Papier wollte er schweigen. Doch als er begann zu beschreiben, wie er selbst, Jan und Tina den Leichnam aus dem Wasser zogen, sprang Massimo von seinem Stuhl auf und beugte sich mit seiner ganzen Masse über den Schreibtisch, so dass Karl seinen schlechten Atem roch. Massimo fragte ihn aufgeregt, wer diese beiden anderen wären, dieser Mann und diese Frau. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und stand nun direkt vor Karl, der ihn überrascht von unten her, hinauf ins Gesicht starrte. „Wer sind die beiden! Die Frau und der Mann?“

„Ich kenne sie nicht. Wir haben uns beim Angeln kennen gelernt. Nach dem Fund der Leiche haben wir uns getrennt. Wir wollten keinesfalls in einen Mordfall hineingezogen werden. Als Ausländer. Sie verstehen doch.“

„Die beiden anderen Personen sind Österreicher, so wie Sie?“

„Nein, Deutsche. Mehr weiß ich nicht. Ich habe sie nachher nie wieder gesehen.“ Karl verschwieg die Begegnung mit Tina und auch das Treffen in der Bar. Er war jedoch äußerst erstaunt, dass er nicht beschattet wurde. Unverständlich. Vor allem als er mit Tina in seinem Hotel war.

Auch der Kommissar, der sich nun wieder gesetzt hatte, verfluchte sich selbst wie ein Anfänger darauf vergessen zu haben, den Mann zu überwachen. Nun musste er die beiden anderen Ausländer finden. Und zwar so schnell wie möglich.

„Nachdem die Leiche aus dem Wasser war, was taten Sie dann genau. Sie durchsuchen? Haben Sie etwas berührt? Etwas an sich genommen? Irgendwelche Papiere vielleicht?“ Der Kommissar leimte sich im Stuhl zurück und blickte Karl mit seinen Fischaugen drängend an.

„Berührt habe ich ihn natürlich. Wir haben den Toten ja herausgezogen. Aber was ich dann getan habe, weiß ich nicht mehr. Wir waren ja alle drei geschockt. Man zieht ja nicht alle Tage eine Leiche aus dem Wasser. Nicht wahr?“

„Haben Sie nicht seine Taschen durchsucht und dabei etwas gefunden und an sich genommen?“

Karl überlegte. Da gab es wahrscheinlich Fingerabdrücke auf der Brieftasche. Er musste aufpassen um nicht in eine Falle zu tappen.

„Wenn ich mich recht erinnere, nahm ich die Brieftasche aus seinem Rock. Eine automatische Handlung. Wahrscheinlich um nachzusehen, wer das war. Aber wie ich schon sagte. Ich war verwirrt. Als der, der ihn geangelt hatte – die Frau nannte ihn Jan – hysterisch winde und herumschrie, nichts anzurühren und schleunigst zu verschwinden, da habe ich die Brieftasche zurückgesteckt, ohne sie zu öffnen“

„Die Brieftasche war beim Toten. Das geht in Ordnung. Aber ich frage Sie noch einmal. Haben Sie, oder jemand anderer, irgendwelche Papiere an sich genommen?“

„Ich nicht. Aber was dieser Jan getan hat, oder die Frau, das weiß ich nicht. Nach seinem Geschrei habe ich mich umgedreht und habe meine Sachen geholt. Vielleicht hat der Mann etwas entnommen. Was weiß ich. Ich habe nichts gesehen.“

Es entstand eine Pause. Massimo sah Karl aufmerksam an. Dann fragte er: „Haben Sie etwas dagegen, wenn wir Sie liier und jetzt noch einmal durchsuchen?“

Karl stöhnte. „Schon wieder. Können Sie davon nicht genug kriegen?“

„Also?“

„Meinetwegen.“ Karl stand auf und streckte demonstrativ die Arme in die Höhe.

„Nehmen Sie die Hände wieder herunter und setzen Sie sich. Hören Sie: Ich behalte bis Morgen ihren Pass. Sie kehren in Ihr Hotel zurück und bleiben dort, bis sich Dinen einen meiner Männer schicke. Entweder um sie zu einem weiteren Gespräch zu holen oder nur, um Ihnen den Pass zurück zu geben.“ Massimo warf das Dokument in die Schublade seines Schreibtisches und deutete zur Tür. „Arrivederci“

Karl machte nicht einmal den Versuch eines Protestes. Er stand auf, stieg die Treppe hinab, hinaus in einen lauen Abend und bog in eine Gasse ein, die über mehrere kleine Brücken hinweg, an der Glasbläserei vorbei zum Markusplatz führte. Natürlich blieb ihm der Mann nicht verborgen, der ihm folgte.

Der 31. September oder die List des Teufels

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