Читать книгу Der 31. September oder die List des Teufels - Werner Kogelnig - Страница 14

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Zur selben Zeit steuerte Jan das Boot an den Mauern eines alten Palazzos entlang. Über dieses fantastische, unheimliche Erlebnis, das er soeben gehabt hatte, war er sich völlig im Unklaren. Zum wiederholten Male schüttelte er den Kopf, als wollte er aus einem Traum erwachen, den er zu träumen glaubte. Doch der Traum löste sich nicht auf. Und auch die Logik, die dem soeben Erlebten widersprach, bot ihm keine Hilfe an, um wieder in seine gewohnte Realität zurückzukehren.

Diese Gefangenschaft in dem unterirdischen Verlies, dem er soeben entkommen war, gehörte zu etwas Anderem, zu etwas Übergeordneten, das in sein Leben getreten war. Und wie von einer unbestimmten Macht geführt, steuerte er das Boot in einen schmalen Kanal, vorbei an schwarzen mit Touristen beladenen und schaukelnden Gondeln, deren Fährleute ihn mit Schimpfwörtern bedachten, wenn er ihnen, völlig ungeübt mit einem Ruder zu hantieren, gefährlich nah kam. Diese neue Macht, die, je länger er das Boot vorantrieb, von ihm Besitz ergriff, erschien ihm erstaunlicherweise immer weniger fremd. Es war ihm, als wäre seine alte, ihm vertraute Seele, wie Rauch aus seinem Körper entwichen, um einer anderen, fremden, Platz zu machen, ohne dass er das Geheimnis ihres Wesens zu erkennen konnte.

Es war das Gespräch mit diesem Wesen während seiner Gefangenschaft im Verlies. Es war dieses Wesen, das ihm seine Seele einhauchte und das Unergründliche vollzog, das nun in ihm lebte und ihn zum Handeln zwang, ohne, dass er sich irgend eines Sinnes des Geschehens bewusst gewesen wäre. Mit dieser neuen Empfindung, die er nun in sich trug, begann er auch wieder teilzuhaben an dem, was ihn umgab. So nahm er das Treiben auf dem Kanal wahr, das Schaukeln seines Bootes, roch den modrigen Kanal, die alten Gemäuer, hörte den Lärm um sich hemm und sah die Menschen über die kleinen Brückenbögen hasten, um dahinter in die kleinen Gassen zu verschwinden. Wie ein Blitz durchfuhr es ihn, als er plötzlich Tina sah. Hektisch schob Jan das Boot zu einem Steg und ließ es einfach weitertreiben, während er auf die Stufen sprang, sich brutal den Weg durch die Menschentrauben bahnte, in die Gasse einbog, in der Tina verschwunden war und sie schließlich wieder entdeckte. Er war erfüllt mit einer grausam anmutenden Energie, die jenen zu Eigen ist, die das Bewusstsein des Ausgestoßenseins mit dem Verlangen nach Rache zu kompensieren versuchen. Die Verfolgung Tinas führte über Brücken, durch schmale Gassen und über Plätze. Tina nahm mehrmals einen Stadtplan zur Hand, bevor sie weitereilte. Dann plötzlich, er hätte sie ihr Ziel fast übersehen, huschte sie in eine Bar. Er blieb verborgen unter dem Schatten eines Torbogens stehen und konnte durch die Glasfassade ins Innere sehen, wie Tina sich an ein kleines Tischchen setze und nervös um sich blickend, auf jemanden zu warten schien.

Jan spürte seinen Körper nicht. Er hatte lange nichts mehr gegessen und getrunken und sein ganzes Ich war auf das folgende Geschehen konzentriert, das er zu erahnen schien, so als hätte die Zukunft einen schmalen Spalt geöffnet, in dem er schemenhaft sich selbst inmitten einer Schar von Männern in historischen Gewändern sah, die um eine Gestalt versammelt war, deren Anblick ihn erschauern ließ, als er sie zu erkennen glaubte.

Er wischte sich über die Augen um diese extreme Vision zu vertreiben und als er wieder zu Tina hinüberblickte, war sie nicht mehr allein. Karl saß bei ihr und nahm etwas entgegen, das sie ihm reichte. Dann stand sie auf, nahm ihre Handtasche und entfernte sich. Jan verließ sein Versteck, hastete über die Gasse, trat in die Bar, beugte sich über den Tisch, mit der Absicht, die Liste, die Karl in den Händen hielt, an sich zu reißen. Aber wie ein Blitz fuhr ihm Karl mit der Hand ins Gesicht und ließ ihn zurücktaumeln, so, dass er gerade noch auf einen Sessel plumpste und nach Luft schnappte.

„Was zum Teufel wird das?“, keuchte Karl und warf einen Blick zur Kellnerin, die diese Szene mit Besorgnis beobachtete.

„Es ist nichts“, versuchte er sie zu beruhigen, als sie im Begriffe war, sich dem Tisch zu nähern.

„Was ist in dich gefahren?“ Karl versuchte leise zu sprechen. „Das Interesse der Polizei an dieser Liste ist schon merkwürdig genug. Und nun deine Aktion. Was soll das?“ Dabei blickte er Jan in die Augen und erschrak über das, was er in ihnen sah. Sie glichen dunklen Höhlen, in deren Inneren ein gelbes Feuer glomm und diese Höhlen starrten auf das Papier in seinen Händen.

„Gib mir die Liste“, sagte Jan plötzlich leise, ohne sich zu rühren.

„Was ist denn nur mit diesem Papier? Sag mir doch endlich warum es dich so interessiert! Da stimmt doch etwas nicht. Vor ein paar Stunden filzte mich die Polizei, ohne einen Durchsuchungsbefehl vorzuweisen, und ohne Begründung.“.

Es entstand eine kurze Pause, in der sich die beiden Männer wieder in die Augen sahen. Karl schien es, als würde ihm Jan gar nicht zuhören und er fühlte sich immer unbehaglicher.

„Und nun“, fuhr er fort, „kommst du daher und benimmist dich, wie von einem Dämon besessen. Erklär mir, was es mit dem Papier auf sich hat. Ist es Goldes wert? Welches Geheimnis birgt es? Sag es mir. Dann können wir beraten, was wir gemeinsam damit tun können. Und außerdem, woher hast du überhaupt Informationen? Ich werde die Liste so lange nicht aus der Hand geben, bis ich weiß, was damit los ist.“

Während Karl sprach, bewegte Jan seine Hand langsam zum Pergament hin, schnappte plötzlich zu, und nun zerrten beide Männer daran, bis es mit einem Ratsch in zwei Teile riss. Im selben Augenblick jedoch, als die Männer verdutzt auf ihre beiden Pergamenthälften blickten, begannen diese wie ins Feuer geworfen rot zu glühen, leuchteten mit einer bläulichen Stichflamme kurz auf und fielen als Asche auf das Marmortischchen nieder.

Tina, die gerade zurückgekommen war und sich unbemerkt den Männern näherte, stieß einen kurzen Schrei aus und hielt sich die Hände vors Gesicht. Während Karl und Jan mit ihren Fingerspitzen noch immer an der nicht mehr vorhandene Liste zerrten, blickten sich die beiden in die Augen und erkannten jeweils in ihrem Gegenüber erbarmungslosen Hass und Feindschaft. Eine Feindschaft, die so tief erschien, wie alle Abgründe dieser Menschheit im Laufe ihrer Geschichte nur hervorgebracht haben konnte. Hier saßen sich nicht nur die beiden Männer gegenüber. Alles Gute und Böse traf sich im glühenden Strahlen ihrer Blicke. Das waren nicht mehr zwei Menschen, die sich gegenübersaßen. Das waren zwei Abgesandte aus Himmel und Hölle. Aber so, wie das Absolute im Raum existierte und alle Menschen in einer zeitlosen Staue verharrten, genauso verschwand es wieder, wie von Teufelshand verwischt, und als wäre er aus einem Schlaf erwacht, nahm Jan die Wirklichkeit wahr, streckte den Zeigefinger demonstrativ gegen Karl hin und schrie triumphierend:

„Der Papst ist Petrus!“

Dann sprang er auf, packte die völlig überraschte Tina am Handgelenk, riss sie mit sich, hinaus durch die Tür der Bar und verschwand mit ihr im Gewühl der Gassen, so, als hätten sich die beiden in Luft aufgelöst.

Karl spürte noch den Zeigefinger Jans auf seiner Brust und hörte die Worte in seinem Bewusstsein verhallen, als er, immer noch in Reglosigkeit verharrend, das verdammte Pergament wieder vor sich auf dem Tisch liegen sah, so als wäre nichts geschehen. Doch das obere Drittel des Papiers fehlte. Einer der Namen, der erste war verschwunden, jener, den Jan triumphierend nannte. Aber so sehr er überlegte, was das für ein Name war, er konnte sich nicht mehr erinnern. Zögernd nahm er das Pergament zur Hand und las die Namen, die ihn bis jetzt kaum interessiert hatten, nun aber, nach diesem unglaublichen Erlebten, auch für ihn Bedeutung erlangten. Jetzt erst sah er, dass es die Namen der zwölf Apostel waren, in einer Spalte untereinander angeführt, und neben jedem dieser Namen stand, durch einen Pfeil verbunden ein weiterer. Sie alle waren Jan ein Begriff. Es handelte sich um bedeutende lebende Persönlichkeiten dieser Welt.

Dann wie erwachend, wurde ihm erst so richtig bewusst, was soeben mit Tina geschah. Er warf einen Schein auf den Tisch und rannte hinaus auf die Gasse, verwirrt und ziellos, weil er keine Ahnung hatte, wohin er sich wenden sollte.

Der 31. September oder die List des Teufels

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