Читать книгу Der 31. September oder die List des Teufels - Werner Kogelnig - Страница 7
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Am Ufer angekommen begrüßte Massimo mit schlampigem Handschlag den Doktor, der etwas unschlüssig um den Toten herumstieg, ohne ihn zu berühren.
„Ertrunken“, brummte er. „Ertrunken. Ob Fremdverschulden vorliegt, ist schwer zu sagen. So wie er da liegt, sind keine Gewaltanwendungen erkennbar. In einer Stunde kann ich Ihnen mehr sagen.“
Massimo ging in die Knie. Er durchsuchte die Taschen des Toten, nahm die Brieftasche heraus, öffnete sie und durchsuchte sie, steckte sie dann in einen Plastikbeutel, fügte weitere Dinge hinzu, die er aus den Taschen des Toten nahm und reichte sie seiner Assistentin, einer attraktiven Frau mit dunklen Haaren, die eher in eine Abendgesellschaft gepasst hätte, als hierher. „Wie schafft sie es nur, mit ihren hohen Absätzen da herunter zu kommen“, dachte Massimo und blickte schräg von unten ihre langen Beine hinauf.
„Nichts“, sagte er und blickte den Leichnam nachdenklich an. Dann stand er auf und sog die Luft ein, als müsste er die Masse seines Körpers wieder in einen gefüllten Zustand versetzen.
„Keine Liste?“ fragte das Mädchen.
„Keine.“
Zwei Männer mit weißen Schutzanzügen und Mundschutz warfen eine Plane über den Toten, hievten ihn auf eine Trage und trugen ihn vorsichtig Tritt fassend hinauf über die Mauer. Dort legten sie ihn in einen Metallsarg, schoben ihn in einen grauen Wagen und fuhren davon, hinein in die Nacht.
„Wenn Sie mit ihm fertig sind, rufen Sie mich sofort an, ich bin im Büro.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, ächzte er zurück, über die Steine und die Mauer und zwängte sich auf den Rücksitz des Dienstautos. Seine Assistentin folgte grazil und entnahm, nachdem sie neben Massimo Platz genommen hatte, ihrem Täschchen ein zartes, weißes Tuch, dem eine dezente Duftnote entwich und betupfte damit ihre Nase.
Er öffnete das Fenster und blickte hinaus in die Nacht. Sie fuhren die Straße entlang, die zum Leuchtturm führte, und er wurde vom Scheinwerfer eines Motorrades geblendet. Er hörte das Aufbrummen des Motors und beobachtete nachdenklich sein Verschwinden.
„Eine Honda“, sagte er zu sich selbst.
„Wie bitte?“ Sie blickte ihn fragend an.
„Eine Honda“, wiederholte er, blieb aber ihrem fragenden Blick die Erklärung schuldig.
Die Nacht war kühl. Sie fuhren hinauf nach Punta Sabbione und hielten an der kleinen Anlegestelle, wo sie das Polizeiboot erwartete, das sie durch die Nacht zurückbringen würde, nach Venedig. Während das Boot die Wellen teilte, ließ sich Massimo mit den Kollegen in Mestre verbinden.
„Kontrolliert jede Honda, die irgendwo in eurem Bereich unterwegs ist“, brummte er, ohne sich mit seinem Namen zu melden. Niemand würde auf die Idee kommen, zu fragen, wer denn da eigentlich spricht. Jedermann kannte Massimos Brummen, das, wenn er verärgert war, in ein Knurren überging, aber niemals laut oder heftig wurde.
„Haben Sie irgendwelche näheren Angaben über das Motorrad, oder den Fahrer?“, fragte zögernd der Diensthabende.
„Habe ich nicht. Nein, nichts außer dem Motorengeräusch. Das war eine Honda.“
Trotz des kühlen Fahrtwindes blieb er am Bug, hielt sich an der Reling fest, blickte hinüber, zu den nahenden Lichtem des Lidos und dachte an seine Pensionierung, die unmittelbar bevorstand. Er dachte an das Ende dieses Arbeitslebens, das sein äußeres Leben voll ausgefüllt hatte. Das, was ihm Sorgen machte, war aber, wie er das innere Leben, das geheime, füllen würde.
Als er gefolgt von seiner Assistentin die Stufen zum Polizeipalast hinaufstieg, klingelte sein Mobiltelefon.
„Wir haben einen“, meldete sich Mestre. „Was sollen wir tun?“
„Personalien aufnehmen und faxen.“
„Und dann?“
„Festnehmen?“
„Nein.“
„Er hatte die Liste nicht bei sich“, sagte Massimo, nachdem sie das Büro betreten hatten. Er blickte Maria, seine Assistentin an, als ob sie dafür verantwortlich dafür wäre.
Das Telefon meldete sich, und gleichzeitig kam ein Fax aus dem Gerät.
„Massimo?“
„Ja?“
„Der Tod ihres Mannes ist vor etwa zehn Stunden eingetreten. Keine Gewaltanwendungen erkennbar. Ertrunken. Wahrscheinlich irgendwo von Bord gefallen. Ende.“
„Gut.“
Er legte auf. Maria hatte einen kleinen Spiegel aus der Tasche hervorgekramt und betrachtete prüfend ihr Gesicht. Massimo nahm das Fax aus dem Gerät, überflog die Daten des Motorradfahrers und legte das Blatt in eine Schublade seines Schreibtisches.
„Keine Fremdeinwirkung“, brummte er, „das wissen wir. Aber die Liste fehlt.“
Er griff zum Telefon, und fixierte dabei Maria.
„Muss das sein“, fragte sie.
„Was?“
„Ihn anzurufen, um diese Zeit?“
„Ja. Muss.“
Während er auf die Verbindung wartete, holte er das Fax aus der Schublade und schob es Maria zu.
„Morgen“, brummte er. „Suchen Sie diese Adresse auf. Finden sie einen Vorwand. Geben Sie sich nicht als Polizistin zu erkennen. Irgendeine harmlose Auskunft. Lassen Sie sich etwas einfallen.
„Massimo!“ knarrte es aus dem Hörer. „Ich hoffe für Sie, dass Sie erfolgreich waren. Es ist Mitternacht vorbei.“
Massimo ließ sich Zeit, bevor er antwortete. Das würde ihm fehlen, dachte er. Auch das.
„Massimo!“
„Der Mann ist tot, Presidente. Ertrunken. Wir haben ihn in der Nähe des Leuchtturms gefunden, dort, in Punta Sabbione. Eine rätselhafte Sache. Er wurde weder ausgeraubt noch war Gewalt im Spiel.“ Er zögerte.
„Und?“
„Die Liste fehlte.“
In der kurzen Pause, die nun folgte, die der Präsident benötigte, um das Unfassbare zu begreifen, verspürte Massimo nicht nur diese unendliche Müdigkeit, die ihn in letzter Zeit immer wieder überfiel, doch dieses Mal wurde ihm bewusst, dass er es satt hatte. Er war am Ende. Er wollte nicht mehr. Schluss.
Er war dieses Spieles überdrüssig. Das, was er bisher als Spiel betrachtet hatte, spannend, manchmal aufregend, erfolgreich, aber ebenso mühsam und von ebenso vielen Misserfolgen begleitet, das war kein Spiel mehr. Es war Last geworden, dieser sich immer wiederholende Alltag, ohne die Befriedigung über erfolgreiche Aktionen, ohne Überzeugung, dass das, was er tat, sinnvoll war.
Er dachte immer öfter zurück an diese großen und kleineren Ganoven, die er für kurz oder länger hinter Gittern schickte. Und immer mehr fragte er sich, was das eigentlich für ein Wesen war, das da in seinem Inneren wohnte? Welche harte Seele musste das wohl sein, die kein Mitleid kannte, die nur von Eingeiz und Stolz erfüllt war, der Gerechtigkeit zu dienen? Ein Handlanger, dachte er, nichts als ein williger Diener einer Gesellschaft, die sich seiner und unzähliger seiner Altgenossen bediente, um alles, was ihr geordnetes Leben stören könnte, abzusondern, wegzusperren, abzustempeln. Hätte er nicht unzählige Male die vielen kleine Kriminellen einfach selbst, für sich, begnadigen sollen und laufen lassen? Hätte er nicht schon selbst Richter spielen sollen und Barmherzigkeit üben, dort unten, in den Kanälen wo Arbeitslosigkeit, Armut und die Hoffnungslosigkeit nisteten, bevor die Mühlen des rigiden Gesetzes unbarmherzig zuschlagen würden?
Er seufzte unwillkürlich auf und schüttelte den Kopf.
„Was soll das heißen, die Liste fehlt“, hörte er wieder die Stimme des Präsidenten.“ Sie waren doch am vereinbarten Ort mit dem Geld! Was soll das heißen, die Liste fehlt und der Mann ist tot? Massimo!“, schrie er, „ich muss morgen nach Rom. Mit der Liste! Was ist da geschehen? Das ist eine Katastrophe!“
„Das ist es, das ist es“, sagte Massimo müde.
„Massimo“, begann der Präsident mit veränderter Stimme, sie klang nun leise, fast flüsternd, als hätte er Angst, jemand könnte das Gespräch belauschen. „Sie stecken zu sehr in dieser heiklen Sache. Sie stecken mit drin. Ich werde es nicht erlauben, dass sie jetzt aussteigen. Ihre Pensionierung können sie vorerst vergessen.“
Bevor Massimo noch protestieren konnte, hatte der Präsident aufgelegt.
Er stand von seinem Schreibtisch auf, ging hinüber zu den geöffneten Fenstern des Polizeipalastes, in denen sich im Nachtwind die langen schweren Vorhänge bauschten und blickte hinaus auf den dunklen Kanal. Dann drehte er sich um. Er wirkte alt und kraftlos.
„Ich gehe nach Hause, Maria. Fahren sie morgen nach Mestre. Das ist unsere einzige Spur. Es hängt viel davon ab, was Sie herausbekommen.“