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1. Parteihandlungen
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Die den Prozessablauf gestaltenden oder bestimmenden Handlungen der Beteiligten (s. § 63 u. dazu unten Rn 472 ff) nennt man Parteihandlungen[25]. Sie erfahren ihre besondere Prägung durch die Bedeutung, die ihnen für den Ablauf eines gerichtlichen Verfahrens zukommt. Für sie müssen daher andere Regeln als für materiellrechtliche Rechtsgeschäfte gelten. Vorbehaltlich abweichender gesetzlicher Regelungen sind sie außerhalb der mündlichen Verhandlung grundsätzlich schriftlich vorzunehmen (Lüke, Zivilprozessrecht, 10. Aufl. 2011, Rn 211). Die Unterschiede, die sowohl hinsichtlich der rechtlichen Voraussetzungen wie auch der Rechtsfolgen von Parteihandlungen bestehen, verbieten es grundsätzlich, bei einem Rechtsakt von dessen Doppelnatur als Prozesshandlung und materielles Rechtsgeschäft auszugehen (etwas Anderes gilt nur für den Prozessvergleich, vgl hierzu unten Rn 1190). Der Annahme einer Parteihandlung steht es dabei nicht im Wege, dass ihr – über das Prozessrecht hinaus – zugleich materiellrechtliche Bedeutung zukommen kann.
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Beispiel:
So führt etwa die durch die Erhebung einer verwaltungsprozessualen Klage herbeigeführte Rechtshängigkeit bei Leistungs- und Verpflichtungsklagen zu einem Anspruch auf Prozesszinsen entsprechend § 291 BGB (vgl BVerwGE 14, 1; 25, 71) und zur Hemmung der Verjährung entsprechend § 204 Abs. 1 Nr 1 BGB.
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Im Hinblick auf den engen funktionalen Zusammenhang, der zwischen dem Widerspruchsverfahren als einem vor der Erhebung von Anfechtungs- und Versagungsgegenklage zu absolvierenden Vorverfahren (s. § 68 und dazu unten Rn 691 ff) und dem gerichtlichen Verfahren besteht, sind im Übrigen auch Handlungen im Widerspruchsverfahren jedenfalls dann, wenn ihre Vornahme zugleich Zulässigkeitsvoraussetzungen für gerichtliche Entscheidungen betrifft, als Parteihandlungen zu bewerten[26].
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Beispiel:
So beurteilt sich etwa die Frage, ob die Rücknahme eines Widerspruchs gegen einen belastenden Verwaltungsakt wegen Willensmängeln angefochten werden kann, nicht nach den Vorschriften über die Anfechtung öffentlich-rechtlicher Willenserklärungen Privater, sondern nach den für Prozesshandlungen geltenden Grundsätzen.
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Ebenso wie in den anderen Prozessordnungen finden sich in der VwGO keine näheren Regeln für Parteihandlungen, die sich überwiegend als einseitige Handlungen darstellen. Für sie gelten aber, was die Befugnis zu ihrer Vornahme angeht, die allgemeinen Grundsätze für die Beteiligungsfähigkeit (dazu Rn 476 ff), die Prozessfähigkeit, die Prozessvertretung und die Postulationsfähigkeit (dazu Rn 500 ff). Diesbezügliche Mängel können allerdings zT geheilt werden (so zB die fehlerhafte Vertretung eines Beteiligten durch dessen ausdrückliche oder stillschweigende Genehmigung, vgl § 138 Nr 4).
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Aus der Natur der Parteihandlungen als den Prozess gestaltende und bestimmende Handlungen folgt, dass sie im Interesse der Rechtssicherheit grundsätzlich bedingungsfeindlich sind. Dementsprechend kann die Wirksamkeit einer Prozesshandlung nicht von einem außerprozessualen Ereignis abhängig gemacht werden. Als zulässig wird es hingegen angesehen, wenn die Wirksamkeit einer Prozesshandlung von einer innerprozessualen Bedingung, dh „von der erfolgreichen Vornahme oder der Erfolglosigkeit einer von derselben oder einer anderen Partei unbedingt vollzogenen Parteihandlung“, abhängig gemacht wird[27].
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Die Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses bei einem Gericht muss jedoch immer unbedingt erfolgen. Deshalb ist etwa die bedingte Erhebung einer Klage (oder auch Einlegung eines Rechtsmittels) unzulässig, und zwar auch dann, wenn sie von einer innerprozessualen Bedingung abhängig gemacht wird.
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Beispiel:
Die Erhebung einer Klage ist unzulässig, wenn sie unter der Bedingung erfolgt, dass der Beklagte die geltend gemachte Forderung nicht dem Gericht gegenüber anerkennt.
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Dem Wesen der Prozesshandlung entspricht es auch, dass eine wirksame Parteihandlung – vorbehaltlich spezialgesetzlicher Regelungen (zB im Zivilprozess für das Geständnis gem. § 290 ZPO) – nicht widerrufbar ist[28]. Anders gilt aber dann, wenn hierdurch Interessen anderer Verfahrensbeteiligter nicht beeinträchtigt werden (Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, 30. Aufl. 2011, § 30, Rn 29). Grundsätzlich nicht (auch nicht analog) anwendbar auf Parteihandlungen sind die §§ 119 ff BGB, die die Anfechtung wegen Willensmängeln regeln[29]. Wird allerdings die Parteihandlung durch eine strafbare Handlung veranlasst und läge deshalb ein Restitutionsgrund gem. § 173 iVm § 580 Nr 4 ZPO vor, muss die Möglichkeit offen stehen, sich von ihr durch Widerruf zu lösen[30]. Ein zulässigerweise eingelegtes Rechtsmittel ist ferner widerrufbar, wenn die Rücknahme durch eine fehlerhaft erteilte richterliche Belehrung veranlasst wurde[31]. Eingelegte förmliche Rechtsbehelfe können, soweit dies nicht bereits ausdrücklich vorgesehen ist (s. Klagerücknahme gem. § 92), grundsätzlich bis zur Entscheidung über sie zurückgenommen werden.
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Für die Auslegung von Parteihandlungen gelten die Grundsätze der §§ 133, 157 BGB entsprechend[32]. Maßgeblich ist nicht die vom Kläger gewählte Formulierung (s. auch § 88), sondern der erkennbar mit der Parteihandlung verfolgte Zweck; im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes sind dabei Parteihandlungen eines Bürgers im Zweifel so auszulegen, dass sie diesem ein Maximum an Rechtsschutz gewähren.
Beispiel:
Die Behörde nimmt einen Subventionsbescheid gem. § 48 VwVfG zurück und fordert in einem Rückerstattungsbescheid den Subventionsempfänger gem. § 49a Abs. 1 VwVfG zur Rückzahlung der gewährten Subvention auf. Eine „Anfechtung der Rückerstattung“ ist hier im Zweifel so zu interpretieren, dass damit nicht lediglich der Erstattungsbescheid, sondern auch der Rücknahmebescheid angefochten wird (BVerwG, NVwZ-RR 1992, 423).
Soweit der mit einer Parteihandlung verfolgte Zweck nicht in der von ihrem Urheber vorgesehenen Weise, sondern nur auf anderem Wege zu erreichen ist, kommt ihre Umdeutung analog § 140 BGB in Frage. Bei ihr geht es nicht um die Ermittlung des erklärten tatsächlichen Willens des Klägers, sondern um dessen hypothetischen Willen.
Beispiele:
Der Kläger beantragt, die Verwaltung zur Rücknahme eines ihn belastenden, nicht bestandskräftigen Verwaltungsakts zu verurteilen, obwohl nur ein Antrag auf gerichtliche Aufhebung statthaft ist (s. Rn 292). Sein Antrag ist hier in einen Antrag auf gerichtliche Aufhebung umzudeuten. – Der Beamte klagt auf gerichtliche Aufhebung der behördlichen Umsetzung, obwohl nur eine Klage auf Rückgängigmachung der Umsetzung statthaft ist. Als erhoben gilt hier eine allgemeine Leistungsklage (s. Rn 238 und BVerwGE 60, 144, 149). Im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes kann in einem solchen Fall ein auf § 80 Abs. 5 gestützter Antrag auf Anordnung bzw Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 umgedeutet werden (BayVGH, NVwZ 2000, 222 und BayVBl. 2003, 212, 213 f). – Der Bürger klagt nach Ablauf der Anfechtungsfristen auf die Aufhebung eines nichtigen Verwaltungsakts. Seine Anfechtungsklage ist bei tatsächlich gegebener Nichtigkeit in eine Nichtigkeitsfeststellungsklage gem. § 43 Abs. 1 Alt. 2 umzudeuten (s. auch Rn 762). – Begehrt der Kläger eine Leistung, die ohne Aufhebung eines Verwaltungsakts nicht eingefordert werden kann, ist seine Klage dahingehend umzudeuten, dass nicht nur auf die Leistung, sondern auch auf die Aufhebung des Verwaltungsakts geklagt wird (BVerfG, NVwZ 2016, 238, 241; Hufen, JuS 2016, 574).
Die Grenzen zwischen Auslegung und Umdeutung von Prozesshandlungen sind dabei in Konsequenz des § 88 fließend. In einem Prozess wird das Gericht bei unklarem Antrag auf dessen Erläuterung und ggf auf die Stellung eines sachdienlichen Antrags hinwirken (§ 86 Abs. 3).
Zur Möglichkeit, Parteihandlungen im Wege der elektronischen Kommunikation durchzuführen, s. §§ 55a, 55c und unten Rn 85 und Rn 705.
§ 1 Einführung › IV. Prozesshandlungen › 2. Prozesshandlungen des Gerichts