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II

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Das dunkle Gefühl in seinem Herzen begleitete Maurizio durch die ganze Nacht. Und da er wusste, dass er so niemals Schlaf finden würde, trieb er sich und seine Männer immer weiter an.

Sie ritten ohne Unterlass und als die Morgendämmerung hereinbrach, hatten sie das östliche Hügelland hinter sich gelassen und ritten in die Ebene ein, in deren nordwestlicher Ecke sich Alimante, die prächtige Hauptstadt des Fürstentums, befand.

Während sie Meile um Meile näherkamen, konnten sie sehen, wie sich die aufgehende Sonne in den Dächern der Stadt spiegelte und sie in ein funkelndes Meer aus tausend Farben verwandelte, das die Männer, obwohl schon etliche Male gesehen, wieder tief beeindruckte, aber auch mit Stolz erfüllte, denn schließlich waren sie alle ein Teil dieses Fürstentums.

Als sie nur noch wenige hundert Meter von der Stadt entfernt waren, gab Maurizio das Zeichen, ihren Ritt zu verlangsamen und er selbst ließ seinen Schimmel locker austraben.

Dabei kam auch sein Geist etwas zur Ruhe und an die Stelle von Nervosität und Unsicherheit rückte die Vorfreude darauf, seine Familie wiederzusehen.

Doch nur einige Augenblicke später konnte er ausmachen, wie das südliche Stadttor geöffnet wurde und ein einzelner Reiter daraus hervorkam, der direkt auf sie zuhielt.

Maurizio blickte mit zunehmender Anspannung auf ihn. Wenig später konnte er ihn erkennen. Es war Moretti, der engste Vertraute des Fürsten und Kommandant seiner Leibgarde. Die Tatsache, dass dieser Mann und dann auch noch allein auf sie zukam, deutete auf eine ernste Angelegenheit hin und Maurizio musste seine Gedanken an seine Familie verdrängen.

Dann hatte Moretti sie erreicht.

Maurizio ließ seinen Trupp anhalten. Er selbst ritt etwa zehn Meter weiter und traf dort auf den Kommandanten der Leibgarde.

Moretti war ein wahrer Bär von einem Mann und mindestens zwei Meter groß. Sein gesamter Körper war austrainiert und übersät mit stahlharten Muskelpaketen. Seinen Brustkorb konnte ein Mann allein nicht umfassen. Dennoch wirkte Moretti nicht ungelenk oder kantig, sondern eher geschmeidig und elegant. Sein weißes Kopfhaar war sehr kurz geschnitten, sein Vollbart, bis auf ein etwas längeres Stück direkt unter dem Kinn, ebenfalls. Seine Haut war olivfarben und glänzte matt im Sonnenlicht. Unzählige Narben waren auf seinem Körper zu erkennen, die sich scharf von seiner dunklen Haut abhoben. Das Gesicht jedoch war ebenmäßig und beinahe makellos, seine Züge wirkten fein und fast schon sinnlich. Aus wachen, eisgrauen Augen sah er zu Maurizio hinüber. Sein Blick war dabei offen, aber ernst.

"Kommandant!" grüßte Maurizio und nickte ihm zu.

"Hauptmann!" erwiderte Moretti mit tiefer Stimme, aber regloser Miene.

"Eure Anwesenheit ist...überraschend!" meinte Maurizio. "Stimmt etwas nicht?"

Moretti schüttelte kaum merklich den Kopf. "Es ist alles bestens!" Seine Miene jedoch blieb weiterhin ernst. "Der Fürst hat mich lediglich beauftragt, dich und deine Männer zu ihm zu bringen!" Dabei deutete er rechts hinter Maurizio.

Als der sich herumdrehte, konnte er in etwa einem Kilometer Entfernung eine Baumgruppe erkennen. Es waren nur wenige Dutzend Exemplare, aber es waren mächtige Eichen mit riesigen Kronen. Maurizio wusste, dass sie einen großen Platz in ihrer Mitte überspannten, in dem seit Jahrhunderten eine kleine, steinerne Kirche stand. Es war die Kapelle der heiligen Katarina, doch bei den Einwohnern von Alimante war sie nur als Kriegskapelle bekannt. Immer dann, wenn dem Fürstentum ein Feind entgegentrat und es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kam, hatten die Fürsten stets in der Nacht vor der Schlacht hier um den Beistand des Herrn gebetet.

Es war eine jahrhundertealte Tradition, doch hatte sie Maurizio noch nie erlebt, denn das Fürstentum lebte nun schon weit über dreißig Jahren in friedlicher Koexistenz mit seinen Nachbarn.

Hat sich daran womöglich während unserer Abwesenheit etwas geändert? fragte er sich insgeheim. Die Tatsache, dass der Fürst dort auf sie wartete, erzeugte eine erneute Unruhe in ihm, doch sprach er Moretti nicht darauf an, sondern gab seinem Trupp Anweisung, dem Kommandanten der Leibgarde zu folgen.

Der Ritt zur Kapelle dauerte einige Minuten, da es Moretti nicht sonderlich eilig zu haben schien. Der Kommandant drehte sich nicht einmal um, doch konnte er sicher sein, dass ihm der gesamte Trupp folgte.

Durch die nahezu komplette Abschirmung durch die mächtigen Eichen konnten sie das kleine Steingebäude erst sehen, als sie quasi schon davorstanden.

Während Moretti anhielt und abstieg, erkannte Maurizio neben dem schneeweißen Hengst des Fürsten, noch ein halbes Dutzend weiterer Pferde. Er wusste sogleich, dass sie den anderen Mitgliedern der Leibgarde gehörten

Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte er sofort. Dabei machte ihn nicht die Existenz der anderen Pferde nervös, sondern die Tatsache, dass ihre Besitzer nirgendwo zu sehen waren.

Moretti wartete stumm, bis alle Männer des Trupps eingetroffen und abgestiegen waren, dann sah er Maurizio wieder mit ernster Miene an, nickte ihm zu und deutete schließlich an, dass ihm alle ins Innere der Kapelle folgen sollten.

Alle? Diese Frage schoss ihm sofort in den Kopf. Dabei befiel ihn wieder dieses düstere Gefühl, das ihn schon den gesamten Rückweg begleitet hatte. Gleichzeitig dachte er an seine Familie und an die Vorfreude, die er dabei verspürt hatte. War das zu früh gewesen?

Wenige Augenblicke später betrat er das Innere der Kapelle. Hier herrschte ein wechselhaftes Dämmerlicht. Die Bäume ließen nur wenige Sonnenstrahlen durch ihr Blätterdach, die aber blitzten fast wie Schwertschneiden auf.

Die Kapelle bestand nur aus einem einzigen, großen Raum ohne versteckte Ecken und Nischen. Gegenüber der Eingangstür befand sich ein grober, steinerner Altar, auf dem eine handgefertigte Decke lag. Eine Vase mit frischen Blumen und ein irdener Kelch standen darauf. In der Mitte lag eine aufgeklappte Bibel.

Hinter dem Altar gab es eine deckenhohe, massive Holzwand, auf der einige Szenen aus der Bibel malerisch dargestellt waren. Die satten Farben und die sehr sorgfältige und gelungene künstlerische Ausgestaltung waren mittlerweile verblasst.

Vielleicht sollten diese Bilder mal wieder erneuert werden, dachte Maurizio, während sein Blick auf die Tür fiel, die nach hinten abgewinkelt in der Holzwand eingearbeitet war und hinter dem Altar einen kleinen abgeschiedenen Raum erzeugten.

Da Maurizio den Fürsten nirgendwo sehen konnte, nahm er an, dass er sich dort drinnen aufhalten musste.

Doch etwas Anderes verstärkte den Kloss in seinem Hals zusätzlich: Es war schon über ein Jahr her, dass Maurizio diese Kapelle mit seiner Familie besucht hatte, doch war er sicher, dass in diesen Raum vor den Altar Sitzbänke gehörten. Jetzt aber war nichts davon zu sehen, der komplette Raum war absolut leer. Wieder dachte er an seine Familie und an die Freude, sie wiederzusehen. War er zu voreilig damit gewesen?

Mittlerweile waren alle Männer von Maurizios Trupp in der Kapelle versammelt.

Als Moretti dies beinahe ausdruckslos registrierte, wandte er sich an Maurizio. "Folge mir!" sagte er. "Du und deine Offiziere!"

Maurizio war nicht wirklich überrascht, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass der Fürst jetzt hier in diesen fast schon überfüllten Raum treten würde, um mit ihnen zu reden. Dass aber nicht nur Maurizio, sondern auch seine vier Offiziere, Moretti folgen sollten, irritierte ihn.

Doch er hatte keine Zeit für weitere Überlegungen, denn schon hatte Moretti die Tür seitlich des Altars erreicht und öffnete sie. Maurizio deutete dem Rest des Trupps an, hier zu warten, dann trat er mit seinen vier Offizieren an Moretti vorbei, der reglos dastand und ausdruckslos in die Kapelle zurückschaute. Erst, als die fünf Personen an ihm vorbei waren, gestattete er sich eine Regung. Deutlich sah man, wie sich sein Blick noch einmal verdunkelte und seine Kiefer aufeinander mahlten. Dann kräuselte er die Lippen, als habe er auf eine Zitrone gebissen.

Schließlich wandte er sich ab, folgte den Männern in das Innere des kleinen Zimmers und schloss die Tür hinter sich.

Der Raum besaß keine Fenster, dafür aber eine gläserne Kuppel, deren Scheiben zwar verschmutzt waren, aber dennoch für einigermaßen ausreichendes Licht sorgten, dass der einzige Anwesende am anderen Ende zu erkennen war.

Fürst Kuja stand ihnen abgewandt, mit gesenktem Kopf und mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor einem alten, massiven Holztisch, auf dem etliche Utensilien für durchzuführende Messen lagen, die allesamt deutlich verstaubt waren. Er trug eine dunkle Reiterhose, sowie ein leichtes, weißes Leinenhemd. Ein dünnes Wams aus dunkelblauem, edlem Stoff hing über einer Stuhllehne neben dem Tisch, ebenso wie der Gürtel mit dem Säbel des Fürsten.

"Exzellenz?" sagte Moretti.

Für einen Augenblick schien es, als würde der Kommandant keine Reaktion erhalten, als der Fürst doch plötzlich seinen Kopf anhob. "Moretti?"

"Ich bringe euch Maurizio und seine Offiziere, wie ihr befohlen habt!"

Fürst Kuja drehte seinen Kopf ein wenig und ein knappes Nicken war zu sehen. Daraufhin trat Moretti zwei Schritte zurück.

Direkt vor die Ausgangstür, erkannte Maurizio, doch dann hörte er deutlich einen langen, tiefen Atemzug des Fürsten, kurz bevor der sich zu ihnen herumdrehte.

Fürst Kuja war ein stattlicher Herrscher.

Nur wenig jünger, als Maurizio selbst, war er stets ein durchtrainierter, schlanker und auch kampferprobter Mann gewesen. Sein Mut und sein Pflichtbewusstsein hatten ihm den Respekt der Truppen eingebracht, seine Großherzigkeit und Besonnenheit die Liebe seines Volkes.

Mehr noch: Seine Vermählung mit Mariella, der Tochter eines Kaufmanns und somit eine Frau aus dem gemeinen Volk, besonders aber die Tatsache, dass es eine echte Liebeseirat war, hatte die Menschen tief berührt und sie noch enger an das Herrscherhaus geschweißt. Der erste Spross dieser Liebe, Zwillinge, um genau zu sein, würden bald das Licht der Welt erblicken.

Obwohl Kujas Herrschaft als Fürst kaum ein Jahr andauerte, hatte er das gesamte Volk hinter sich und seiner Familie und es gab eigentlich nicht den geringsten Zweifel, dass er das Land in eine weiterhin glorreiche, friedliche und für alle glückliche Zukunft führen würde.

Auch Maurizio liebte seinen Fürsten - mehr noch zwar seine Fürstin, die seiner eigenen Ehefrau sehr ähnlich war - und war stolz, hier leben zu dürfen. Stets hatte er Kujas Vater und jetzt auch ihm treu gedient. Natürlich hatte er nicht vor, auf Dauer der Mann für besondere Aufgaben zu bleiben, da diese ihm, wie der aktuelle Fall zeigte, zunehmend Seelenschmerz verursachten. Doch mit der Entlohnung, die man ihm versprochen hatte, hatte er ohnehin ausgesorgt und er nahm sich fest vor, alsbald einen Nachfolger auszubilden.

Als er Fürst Kuja jetzt aber von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, erschrak er beinahe.

Er konnte sich nicht entsinnen, seinen Herrscher jemals so erschöpft, ja fast ausgezehrt, und so ernst, sogar düster, blicken gesehen zu haben.

Irgendetwas stimmte ganz gewaltig nicht, dessen war sich Maurizio jetzt absolut sicher.

"Wurde mein Befehl ausgeführt?" Kujas Worte waren leise gesprochen und klangen rau. Von der sonst so klaren und kräftigen Stimme war nichts zu hören. Sein Blick dabei war unstet, nervös und er selbst wirkte fahrig. Normalerweise war Fürst Kuja dafür bekannt, seinen Gesprächspartner mit seinen tiefbraunen Augen gnadenlos zu fixieren. Heute war davon nichts zu bemerken.

"Ja, mein Fürst!" erwiderte Maurizio wahrheitsgemäß. "Euer Befehl wurde vollständig und erfolgreich ausgeführt!"

Kuja nickte schwach mit düsterer Miene. Dann atmete er hörbar ein und aus. "Wir sind euch allen zu großem Dank verpflichtet!" erklärte er. "Ich weiß, dass dies keine leichte Aufgabe war!" Plötzlich richtete er doch den Blick auf die fünf Männer vor ihm, sodass zwei von ihnen sichtlich erschraken. "Aber sie war notwendig! Absolut...notwendig!" Fast glaubte Maurizio die alte Stärke in seinem Blick wiederzuerkennen, doch dann glitten die Augen erneut zur Seite. "Wir alle leben schon seit so langer Zeit in Frieden mit unseren Nachbarn, dass man glauben könnte, es gäbe keine Gefahr mehr für unser Land!" Sein Blick wurde sogar noch finsterer, nahm beinahe einen verächtlichen Ausdruck an. "Aber dem ist nicht so!"

Was? Maurizio war überrascht, auch wenn er sich das äußerlich kaum anmerken ließ. Wovon redet er?

"Ich habe es gesehen!" Wieder starrte Kuja die Männer unvermittelt an. "Ein dunkler Schatten lauert im Osten. Bösartiger, grausamer und mächtiger, als alles, was je nach uns gegriffen hat! Ich habe es gesehen!" Er nickte mehrmals bedächtig. "Und mir ist klargeworden, dass wir alles tun müssen, um diesem Feind keine Möglichkeit zu geben, in unser Land einzufallen. Niemals!"

Maurizio glaubte zu hören, dass Kujas Stimme bei den letzten Worten zitterte. Gibt es Krieg? Hat er sich dazu entschlossen, den Feind anzugreifen, bevor der es tut?

"Deshalb haben Arturo und seine Männer ihren Teil dazu beigetragen, genau das zu verhindern!" Wieder atmete der Fürst hörbar durch. "Doch das allein reicht nicht! Um uns dauerhaft vor diesem Feind zu schützen, ist es wichtig, dass keiner weiß, wo er sich versteckt hält, damit niemand je in Versuchung kommt, ihm den Weg in diese...!" Er stoppte unvermittelt ab und schürzte die Lippen. "...in unser Land zu ebnen!" fuhr er dann fort und sein Blick wurde unendlich traurig.

Maurizio war erneut verwirrt. Also kein Krieg? Aber, was dann?

"Und genau deshalb durften sie niemals zu uns zurückkehren!" Er senkte den Kopf, machte ein paar Schritte auf die linke Wand zu und blieb dann mit dem Rücken zu ihnen stehen. "Sie haben unserem Land einen großen Dienst erwiesen und werden, auch wenn es jetzt vielleicht noch nicht so aussieht, als Helden in unsere Geschichtsbücher eingehen. Ihr Tod war unumgänglich, doch könnt ihr sicher sein, dass ihre Familien für ihre glorreiche Tat gebührend entlohnt werden und noch auf Generationen hinaus ausgesorgt haben!" Seine Stimme wurde bei den letzten Sätzen lauter und schien ihre Festigkeit und Kraft zurück zu gewinnen. Gleichzeitig hob er den Kopf an und fast glaubte Mauritius das Leuchten in den für ihn verborgenen Augen seines Fürsten sehen zu können, wenngleich sich die Dunkelheit in seinem Inneren immer schneller ausbreitete, weil sich dort eine grausame Vorahnung breitmachte.

Wieder atmete Kuja hörbar ein und schließlich aus. "Der Befehl, den ich euch gegeben habe, war deshalb auch nicht frevelhaft, sondern am Ende eine heldenhafte Tat, mit der ihr großen Schaden vor uns allen bewahrt habt. Dennoch aber...!" Seine Stimme wurde wieder leiser und rauer, ebenso senkte er wieder den Kopf. "...bleibt die Tatsache, dass niemand je davon erfahren darf!"

Nachdem Fürst Kuja ausgesprochen hatte, herrschte für einen Moment Stille im Raum. Er dauerte gerade lang genug, dass aus Maurizios Vorahnung eiskalte Gewissheit wurde, die sein Herz wie mit einer mächtigen Klaue umschloss, als urplötzlich Geräusche aus dem Hauptraum der Kapelle zu hören waren.

Abgehakt, mechanisch, hart, dazu kurzes ersticktes Aufstöhnen, einzelne überraschte Schreie, schmerzhaftes Stöhnen, dumpfe Geräusche von Körpern, die zu Boden stürzten.

Das alles aber dauerte nur wenige Augenblicke, dann verebbten sie wieder so schnell, wie sie aufgekommen waren.

Ihre Ursache und ihre Wirkung aber waren allen Anwesenden hier nur allzu bekannt.

"Was...?" stieß einer der Offiziere neben Maurizio hervor.

"...zum Teufel ist hier los?" vervollständigte ein anderer die Frage und wollte gerade sein Schwert zücken, als er bereits in die gegen seine Kehle gerichtete Scheide von Morettis Waffe blickte.

"Fürst Kuja?" rief ein dritter Offizier, trat einen Schritt auf ihn zu, ohne jedoch das Schwert zu ziehen, verharrte dann aber in seiner Bewegung und starrte sein Gegenüber fassungslos an.

Kuja wandte sich daraufhin wieder zu ihnen um. Sein Blick war zutiefst erschüttert, seine Augen glänzten tränenfeucht. "Es tut mir leid! Aber es ist notwendig!" Er suchte die Blicke der Männer vor ihm. "Alles, was ich sagen kann, ist, dass für euch das Gleiche gilt wie für die anderen. Ihr werdet als Helden in die Geschichte eingehen und eure Familien für Generationen versorgt sein!"

"Aber...!" Das war der letzte der Offiziere, der bisher still geblieben war. In seinen Augen konnte Maurizio zunehmende Verzweiflung, aber auch bittere Erkenntnis sehen. "...was geschieht mit uns?"

Kuja atmete ein, drückte seinen Brustkorb nach vor und jetzt klang seine Stimme kraftvoll und klar. "Ihr seid Offiziere. Ich überlasse euch die Wahl, wie ihr sterben wollt!"

"Was?" platzte der letzte Offizier hervor und riss zeitgleich sein Schwert aus der Scheide. "Niemals!" Er wirbelte herum zu Moretti, doch der hatte längst schon entsprechend reagiert. Mit zwei blitzschnellen Schritten war er bei ihm, blockte die Attacke des Offiziers ab und konterte seinerseits mit einer ruckartigen Finte. Der Mann war tot, noch bevor er zu Boden stürzte.

Diese Aktion aber war wie der Knall einer Explosion, denn augenblicklich hatten auch die anderen drei Offiziere ihre Schwerter gezogen. Aber anstatt gemeinsam vorzugehen, sorgte ihre Mischung aus Angst, Hass und Verzweiflung dafür, dass jeder das tat, was er für das Beste hielt. Nur einer, nämlich der, dem er die Klinge bereits an die Kehle gehalten hatte, stellte sich Moretti entgegen, der zweite wollte aus dem Raum in die Kapelle flüchten, der dritte hielt es für den richtigen Weg, den Fürsten zu attackieren.

Maurizio aber...tat nichts. Reglos stand er da, nur seine Augen verfolgten das Geschehen vor ihm. So konnte er sehen, dass Moretti auch mit dem zweiten gegen ihn gerichteten Angriff nur wenige Probleme hatte und es innerhalb weniger Sekunden einen weiteren toten Offizier gab. Der Mann, der aus dem Raum flüchten wollte, riss die Tür auf und ihm wäre womöglich sogar sein Vorhaben gelungen, doch angesichts der Leichen, die den Boden vor ihm bedeckten, erstarrte er fassungslos in seiner Bewegung. So wurden zwei der sechs Mitglieder der Leibgarde des Fürsten, die wohl gerade dabei waren, zu kontrollieren, ob es noch Überlebende gab, auf ihn aufmerksam und stellten sich ihm gemeinsam in den Weg. Der Offizier lieferte ihnen einen mutigen, aber auch verzweifelten Kampf, doch am Ende stand auch für ihn der Tod.

Dem dritten Offizier gelang es tatsächlich, den Fürsten zu attackieren. Mit einer schnellen Bewegung stellte er sich in seinen Rücken und hielt ihm die Schwertschneide an die Kehle. Dabei war jedoch deutlich zu erkennen, dass diese Aktion nur erfolgreich war, weil Kuja keinerlei Widerstand leistete. Moretti, der diesen Umstand natürlich registriert hatte, war nicht schnell genug und konnte erst zu ihnen herumwirbeln, als es für eine direkte Attacke schon zu spät war. Dadurch wähnte sich der Offizier im Vorteil, doch war Moretti weitaus stärker, als er sich das je hätte träumen lassen. Die linke Hand des Kommandanten zuckte unbemerkt an seinen Gürtel und pflückte dort ein kleines Messer aus seiner Halterung. Moretti riss es in die Höhe und schleuderte es in Richtung rechter Schulter des Fürsten. Der Offizier war so sehr auf Morettis Schwertarm fixiert, dass er diese Attacke erst im letzten Moment erkannte. Da er größer war, als der Fürst, hätte ihn das Messer wohl erwischt, doch gelang es ihm, sich mit einer kurzen, ruckartigen Bewegung aus der Gefahrenzone zu bringen. Als er sah, dass der Wurf ins Leere ging, grinste der Offizier. "Vergiss es!" rief er. "Und jetzt aus dem Weg!"

Moretti schien jedoch nur einen Wimpernschlag verunsichert, dann betätigte er mit dem Daumen den Auslöser in seiner linken Hand. Denn was der Offizier nicht bemerkt hatte: Das Messer, das Moretti ihm entgegengeschleudert hatte, bestand nur aus einer Klinge. Der Griff war in seiner Hand verblieben und mit einem Auslöser versehen. Als die Klinge ihn verfehlt hatte, glaubte der Offizier, sie würde in die Wand hinter ihn fahren, doch dem war nicht so, denn einem Bumerang gleich, verlangsamte sich ihr Flug innerhalb eines Lidschlags und in dem Moment, da sie zurückschnellte, sorgte Moretti mit dem Auslöser in seiner Hand dafür, dass sie in sechs gleichgroße Einzelteile zerfiel, die dann mit einer rasanten Beschleunigung auf ihr Opfer zuhielten und mit großer Wucht in seinen Rücken und seinen Kopf eindrangen. Der Mann konnte lediglich noch erstickt aufstöhnen, dann flackerten seine Augen, jegliche Kraft wich aus seinem Körper und er sackte leblos hinter dem Fürsten zu Boden.

All dies sah Maurizio vor sich ablaufen und doch konnte er sich nicht bewegen. Stocksteif und reglos starrte er auf die Kämpfe vor ihm, während sich sein Gehirn auf einer wilden und grausamen Achterbahnfahrt befand.

Er hatte sich nicht getäuscht, seine düsteren Vorahnungen sich als wahr erwiesen, waren sogar noch schlimmer, als er es je befürchten konnte.

Heute war nicht der Tag, an dem er nach der Erledigung einer besonderen Aufgabe zurück zu seiner Familie kommen würde, um dort seine Seelenqualen zu lindern, heute war der Tag, an dem er seine Familie niemals wiedersah, weil er sterben würde.

Und Maurizio wusste, dass er weder weglaufen, noch den Fürsten von seinem Vorhaben abbringen, noch um Gnade für sich flehen konnte.

Neben großer Verzweiflung, spürte er tiefste Trauer darüber in sich, dass er sich nicht einmal von seiner Familie verabschieden durfte, und diese einfach verhinderte, dass er sich bewegen konnte.

Dann schlug der tote Körper des vierten und letzten Offiziers hinter dem Fürsten zu Boden und mit dem Blick auf das Schlachtfeld in der Kapelle, in der seine Kameraden hingerichtet worden waren, wusste Maurizio, dass auch seine Zeit gekommen war.

Moretti bewegte sich schnell und nahezu lautlos. Noch bevor sein letztes Opfer zu Boden klatschte, stand er bereits schräg hinter Maurizio, jederzeit bereit, einen Angriff abzuwehren.

Fürst Kuja, der die ganze Zeit über mit leerem, tränenfeuchtem Blick dagestanden hatte, richtete seine Augen nunmehr auf Maurizio. Sein Gegenüber konnte dort Trauer und Schmerz, aber auch echte Verzweiflung erkennen.

"Schwört, dass es meiner Familie gutgehen wird!" Maurizios Stimme war klar und kraftvoll, was ihn selbst überraschte.

Der Fürst nickte und legte seine rechte Hand auf sein Herz. "Ja, ich schwöre es! So habe ich es verfügt!"

Etwas an der Wortwahl des Fürsten irritierte ihn, doch wusste er in diesem Moment nicht zu sagen, was. "Eine letzte Bitte habe ich noch!"

Kuja nickte. "Natürlich!"

"Sagt mir, von welcher Gefahr ihr gesprochen habt!"

Der Fürst sah ihn einen Moment ausdruckslos an, dann nahm sein Antlitz einen gequälten Ausdruck an und Maurizio war sicher, dass er ihm diese Bitte schuldig bleiben würde. Unvermittelt aber machte Kuja zwei schnelle Schritte auf ihn zu und stand jetzt direkt vor ihm. Er schob seinen Kopf nach vorn, bis sich sein Mund dicht neben Maurizios linkem Ohr befand und dann flüsterte er ihm die Antwort auf seine Frage ins Ohr.

Maurizio spürte mit jedem Wort, wie sich sein Pulsschlag erhöhte, denn was der Fürst ihm da erzählte, war unfassbarer, als alles, was er sich je hätte vorstellen können. Seine Augen weiteten sich in schierer Panik und sein Atem stockte ihm ein ums andere Mal. Und als Kuja geendet hatte, war Maurizio klar, dass der Fürst nicht anders hätte handeln können, als er es getan hatte. Niemand, wirklich niemand, durfte je von der Existenz dieses grauenhaften Feindes erfahren. Dazu mussten alle Opfer gebracht werden, die dafür nötig waren, auch sein Eigenes. Als der Fürst seinen Kopf wieder zurückzog, musste Maurizio schwer schlucken. Er spürte kalten Schweiß auf seiner Stirn. "Gott vergib uns!" sagte er, dann ließ er sich auf die Knie fallen.

"Daran müssen wir fest glauben!" erwiderte der Fürst und nickte Moretti unmerklich zu. Der Kommandant der Leibwache machte daraufhin einen kleinen Schritt seitwärts, sodass er sich jetzt direkt hinter Maurizio befand und hob gleichzeitig seinen Schwertarm an.

"Aber in einem habt ihr gelogen, nicht wahr?" fragte Maurizio.

Während der Fürst ihn traurig ansah, legte Moretti seine linke Hand auf Maurizios linke Schulter.

"Wir werden keine Helden sein...!"

Moretti schob die Schwertspitze in Maurizios Nacken direkt vor die Verbindung zwischen dem siebten Hals- und den ersten Brustwirbeln und hielt die Klinge waagerecht.

Kuja schüttelte den Kopf. "Nein...!" Sein Blick wurde unendlich traurig. "...werden wir nicht!"

Als Maurizio die Antwort hörte, schloss er seine Augen, sein gesamter Körper entspannte sich und seine Gedanken waren bei seiner Familie.

Dann spürte er, wie Morettis Hand auf seiner Schulter zudrückte.

Einen Lidschlag später zuckte die Schwertscheide vor und zurück und Maurizio war tot.

Moretti ließ ihn los und sein Körper fiel seitlich zu Boden. "Ich kümmere mich um meine Männer!" sagte der Kommandant mit tiefer Stimme und als der Fürst ihm zunickte, wandte er sich ab, ging in die Kapelle und schloss die Tür hinter sich.

Kuja verharrte noch einen Augenblick mit dem Blick auf Maurizios Leiche, dann drehte er sich um und ging zurück zu dem alten Holztisch. Mit geschlossenen Augen atmete er mehrmals tief durch, während er von draußen dumpfe Kampfgeräusche hören konnte, sowie gedämpftes Stöhnen und erstickte Schreie. Als er seine Augen wieder öffnete, griff er mit behänden Fingern in seinen Umhang und holte zwei unscheinbare, kleine, gläserne Phiolen daraus hervor. Beide waren mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt. Kuja hielt sie vor seine Augen und betrachtete sie im Halbdunkel des Zimmers beinahe andächtig und ehrfürchtig.

Dann wurde die Tür hinter ihm aufgestoßen und Moretti kam herein.

Der Kommandant taumelte, sein Gesicht war schweißüberströmt, sein Körper mit Blut bedeckt. Seinen linken Arm hielt er fest an seine Seite gepresst, deutlich war eine tiefe Stichwunde in der linken Schulter zu erkennen.

Kujas Blick wurde finster. "Es waren gute Männer!" sagte er.

Moretti stöhnte. "Die Besten!" Als er seinen Fürsten ansah, hielt der ihm eine der beiden Phiolen hin. Der Kommandant nahm sie an sich. "Ich hoffe, dass unser Opfer nicht umsonst war!?" sagte er mit trauriger Stimme, dann krümmte er sich, weil ihm seine Verletzung offensichtlich große Schmerzen bereitete. Moretti stöhnte und atmete schwer, doch nach zwei Sekunden richtete er sich wieder auf.

Kuja hielt die zweite Phiole in der Hand. Er sah den Kommandanten in einer Mischung aus Verzweiflung und Entschlossenheit an. "Unser beider Tod wird alles Wissen über diese fremde Macht auslöschen. Darauf müssen wir vertrauen!" Er hob die Phiole an, als wolle er seinem Gegenüber zuprosten.

"Es war mir eine Ehre, euch zu dienen!" sagte Moretti.

"Dann lasst es uns vollenden!" Kuja hob die Phiole an seine Lippen, kippte sich den Inhalt in den Mund und schluckte ihn hinunter. Dann blickte er starr auf den Kommandanten.

Dieser aber zögerte ebenfalls nicht und tat es seinem Herrn gleich.

Für einige Augenblicke herrschte Totenstille im Raum, in denen sich der Fürst und sein Kommandant beinahe erwartungsvoll anstarrten.

Dann zuckte Morettis Körper plötzlich hart in sich zusammen, während der Soldat aufstöhnen musste.

Fast zeitgleich stöhnte auch Kuja, sein Gesicht verzerrte sich in Schmerz und seine Hände zuckten vor seinen Bauch.

Einen Lidschlag später schrie Moretti kurz auf, seine gesunde rechte Hand zuckte hinauf zu seiner Kehle, er begann zu röcheln.

Kuja versuchte Atem zu holen, doch es klang quälend und auch er röchelte schwer.

Nun begann Moretti zu würgen, weil es ihm nicht mehr gelang, Luft in seine Lungen zu bekommen. Seine Augen wurden immer größer, sein Körper begann zu zittern.

Der Fürst wankte, stieß rücklings gegen den Tisch, seine Beine gaben unter ihm nach. Mit einem letzten verzweifelten Atemzug, der ihm nicht gelang, sank er vollständig zu Boden, wo er reglos liegen blieb.

Dem Kommandanten erging es kaum anders. Er sackte ruckartig auf seine Knie, seine Hände krampften um seine Kehle, doch auch ihm wurde der lebensrettende Sauerstoff verwehrt. Nur einen Augenblick, nachdem Kujas Kampf endete, kippte sein Oberkörper nach hinten und er schlug reglos zu Boden.

Dann schien sich Totenstille ausbreiten zu wollen und diesem bizarren, furchtbaren Szenario ein Ende zu bereiten.

Doch nur beinahe...


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