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II. Prägung des modernen Lebensmittelstrafrechts durch das Europarecht

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Das LFGB, dessen Entwicklung durch das Bestreben bestimmt ist, die europäischen Vorgaben für das Lebensmittelrecht umzusetzen, trat im Jahr 2005 in Kraft.[52] Der europäische Einfluss hat zu einer Implementierung eines starken Verbraucherschutzes geführt. Besondere Bedeutung hatte bei der Schaffung des LFGB die am 28.1.2002 in Kraft getretene und in allen Mitgliedstaaten unmittelbar geltende BasisVO, die sowohl Regeln für den Verkehr mit Lebensmitteln und mit Futtermitteln für Tiere, die der Lebensmittelgewinnung dienen, als auch Mindeststandards für das Lebensmittelrecht in der Europäischen Union vorgibt.[53]

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Diese besondere Prägung des Lebensmittelstrafrechts durch das Unionsrecht führt dazu, dass hier die Unionsgrundrechte volle Geltung beanspruchen. Die Rechtsprechung des EuGH in der Sache Åkerberg-Fransson[54] über die Geltung der Grundrechte der EUGRCh hat hier besondere Bedeutung[55]. Jede Auslegung des Lebensmittelstrafrechts hat streng unionsrechtskonform zu erfolgen.

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Die BasisVO normiert insbesondere in Art. 7 das Vorsorgeprinzip[56] im europäischen Lebensmittelrecht. Dieses Prinzip gilt bei Vorliegen einer wissenschaftlichen Unsicherheit über die gesundheitlichen Auswirkungen eines Lebensmittels. Nach Art. 7 BasisVO können, wenn die Möglichkeit gesundheitsschädlicher Wirkungen durch ein Erzeugnis besteht, bis auf Weiteres Risikomanagementmaßnahmen getroffen werden. Das Vorsorgeprinzip bewirkt über Art. 14 Abs. 4 lit. a BasisVO u.a., dass nicht nur die von einem Lebensmittel oder Futtermittel ausgehenden aktuellen oder nahen und bekannten Gefahren bei der Beurteilung der Sicherheit eines Erzeugnisses Berücksichtigung finden müssen. Vielmehr sind auch die Folgen, die die Verwendung des Erzeugnisses für nachfolgende Generationen haben könnten, in die Abwägung einzubeziehen. Sind negative Auswirkungen auf die Gesundheit zukünftiger Generationen wahrscheinlich, so besteht ein Verkehrsverbot.[57] Diese Bezugnahme auf weitgehend unbekannte und unsichere Risiken einer Handlung bereitet im Strafrecht Schwierigkeiten im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz (näher dazu Rn. 44 ff).

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Der umfassende Verbraucherschutz hat zur Entstehung einer breiten Normenmaterie geführt, die sich auf die Sicherstellung der Verbraucherinformation bezieht und insbesondere die Bezeichnung, Aufmachung, Bewerbung und Etikettierung von Lebensmitteln betrifft.[58] Dieser Bereich wird neben dem Gesundheits- und dem Täuschungsschutz im engeren Sinn als eigenständiger dritter Schutzbereich des Informationsschutzes verstanden,[59] der durch die Vielzahl der europäischen Vorgaben, insbesondere auch durch die Health-Claims-VO,[60] bestimmt ist. Ferner sind Vorgaben für neuartige Lebensmittel, mittels biochemischer oder biotechnischer – nicht gentechnischer – Verfahren hergestellter Lebensmittel, in der Novel-Food-VO[61] hinzugekommen. Hier gelten Anmeldepflichten, und es müssen Prüfungsverfahren durchlaufen werden. Die Verletzung der Vorgaben ist durch die in der Neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten-Verordnung (NLV)[62] mit Sanktionen bedroht.[63]

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Die nächsten wesentlichen Schritte[64] in der Modernisierung des Lebensmittelstrafrechts bildeten zum einen das Gesetz zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften vom 29.6.2009 (1. ÄndG),[65] mit dem in einer Vielzahl von Vorschriften, die Verkehrsverbote betreffen, das Merkmal des gewerbsmäßigen Handelns gestrichen wurde. Zum anderen wurde in Reaktion auf den deutschen Dioxinskandal im Januar 2011 eine Gesetzesinitiative u.a. zur Änderung der Straf- und Bußgeldvorschriften des LFGB auf den Weg gebracht.[66] Diese Initiative führte zum Zweiten Gesetz zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften (2. ÄndG),[67] das am 4.8.2011 in Kraft getreten ist. Am 8.9.2011 wurde das LFGB dann in einer konsolidierten Neufassung verkündet.[68] Dieses Gesetz hat zum einen eine Aktualisierung der Bezugnahmen der lebensmittelstrafrechtlichen Vorschriften auf das Unionsrecht mit sich gebracht. In einigen Bereichen, so z.B. für die Verwendung von Lebens- und Futtermittelzusatzstoffen oder von Aromen, wurden auch die Verkehrs- und Verwendungsverbote ausgedehnt und die Strafvorschriften diesen Änderungen angepasst (vgl. etwa § 58 Abs. 2a LFGB). An anderer Stelle kam es zur Hochstufung von bislang bußgeldbewehrten Pflichtverletzungen zu Straftaten (§ 59 Abs. 2 Nr. 1b und c LFGB). Die Strafvorschrift des § 59 Abs. 1 Nr. 21 i.V.m. § 13 Abs. 1 Nr. 3 LFGB wurde zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft. Sodann wurden in § 59 Abs. 4 LFGB erstmals Qualifikationstatbestände – das Erlangen von Vermögensvorteilen großen Ausmaßes durch Handeln aus grobem Eigennutz für sich oder einen anderen und die beharrliche Wiederholung der Tathandlung – eingeführt. Weiterhin wurde der Bußgeldrahmen in § 60 Abs. 5 LFGB erhöht (zur zeitlichen Geltung von Straf- und Bußgeldvorschriften Rn. 69 ff.). An diesen Änderungen wurden durch Art. 3 des Gesetzes zur Änderung des Düngegesetzes, des Saatgutverkehrsgesetzes und des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches vom 15.3.2012[69] noch einige Korrekturen vorgenommen.

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Als weitere Reaktion auf das „Dioxin-Geschehen des Jahres 2010/Anfang des Jahres 2011“ und den EHEC-Skandal[70] im Mai 2011 wurden durch Art. 11–13 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften vom 22.5.2013[71] (3. ÄndG) die Straf- und Bußgeldvorschriften des Lebensmittelstrafrechts wiederum ergänzt. Das Gesetz diente zunächst der Sanktionsbewehrung der Verordnung (EU) 11/2011 über Materialien und Gegenstände aus Kunststoff, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen (PIM)[72]. Regelungsgegenstand sind insofern also insbesondere in Lebensmittelverpackungen verwendete Kunststoffe. Zudem wurde durch dieses Gesetz eine mit Kriminalstrafe bewehrte Vermögenshaftpflichtversicherungspflicht für Futtermittelunternehmer eingeführt, die bestimmte Ausstoßmengen überschreiten. Das LFGB ist zum 3.6.2013 in seiner Neufassung bekannt gemacht worden.[73] Mit Wirkung zum 1.7.2017[74] wurden die Strafvorschriften zur Sanktionierung des Verbots aus § 18 LFGB (§ 58 Abs. 1 Nr. 9, 10 LFGB), des Verfütterns von bestimmten tierischen Fetten an Wiederkäuer, aufgehoben, weil auch § 18 LFGB gestrichen wurde. Das Gesetz zur Neuordnung des Rechts zum Schutz vor der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlung[75] brachte jedoch neue Strafvorschriften zum vorbeugenden Gesundheitsschutz vor radioaktiv belasteten Lebens- und Futtermitteln in Umsetzung des europäischen Atomrechts (§ 59 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3a und Nr. 8 LFGB).

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Ab dem 13.12.2014 gilt in den Mitgliedstaaten die EU-Verordnung 1169/2011, die sog. Lebensmittel-Informationsverordnung (LMIV), als unmittelbar geltendes Recht. Diese Verordnung beinhaltet Vorgaben zur besseren Lesbarkeit und klaren Kennzeichnung von Lebensmitteln. Die wichtigste Änderung im Kontext des Lebensmittelstrafrechts bezieht sich auf § 11 Abs 1 LFGB. Durch das Art. 3 Nr. 6 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes[76], das u.a. der Integration der LMIV in das LFGB dient, wurden die detaillierten Vorschriften über irreführende Aufmachung und Werbung für Lebensmittel in § 11 Abs. 1 LFGB durch Verweise auf Art. 7 und 36 LMIV ersetzt. Damit änderte sich der Anwendungsbereich des § 58 Abs. 1 Nr. 7 LFGB und § 60 Abs. 2 Nr. 1 LFGB wurde aufgehoben, weil die Vorschrift obsolet geworden ist (vgl. Rn. 396). Angesichts dieser Entwicklung ist die kodifikatorische Gesamtverantwortung für die Ausgestaltung des Lebensmittelrechts weitestgehend auf den Unionsgesetzgeber übergegangen. Entsprechend sind alle wichtigen Grundsätze des Lebensmittelrechts mittlerweile europäisch normiert, nicht selten in unmittelbar geltenden Verordnungen, und die nationalen Gesetze haben nur noch lückenfüllende Funktion: sie stellen eigentlich kein Gesetzbuch für das Lebensmittelrecht dar. Damit stellt sich aber für die Ausgestaltung des Lebensmittelstrafrechts in den Mitgliedstaaten der EU die Frage, wie dem Wandel des Lebensmittelrechts hin zu einem europäischen Risikoverwaltungs- und Verbraucherschutzrecht Rechnung getragen werden kann und sollte.[77]

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