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e) Rückverweisungs- oder Öffnungsklauseln

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Im Lebensmittelstrafrecht finden sich in § 62 Abs. 1 LFGB sog. Öffnungs- oder Rückverweisungsklauseln, auf die in §§ 58 Abs. 3, 59 Abs. 3 und § 60 Abs. 4 LFGB Bezug genommen wird. Rückverweisungsklauseln dienen dem Zweck, nationale Gesetzesverfahren zum Nachvollzug von Änderungen des europäischen Rechts zu vermeiden und leerlaufende Verweise auf unmittelbar geltende Rechtsakte der Europäischen Union zu verhindern, indem der Verordnungsgeber (das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft [BMEL]) zur selbstständigen Festlegung sanktionsbewehrter Ge- und Verbote und damit zur Schließung von Sanktionslücken ermächtigt wird.

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Diese Rückverweisungsvorschriften sollen anwendbar sein, soweit die neue gemeinschafts- oder unionsrechtliche Vorschrift und die in Bezug genommenen nationalen Ge- und Verbote den gleichen Regelungsgehalt aufweisen und das gleiche Unrecht erfassen. Dies soll keine Wortlautidentität voraussetzen, sondern lediglich Unrechtskontinuität, so dass der relevante Sachverhalt sowohl unter der früheren als auch unter der neuen Rechtslage dem Verbot unterfällt. Dies soll auch bei mehrfacher Änderung des Unionsrechts gelten, nicht aber, wenn ein „unionsrechtlicher Überhang“[119] besteht.[120]

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Das Lebensmittelstrafrecht enthält zwei Arten von Rückverweisungen: Zum einen kann in der Rechtsverordnung auf solche Verbote aus unmittelbar geltenden Rechtsakten der EG bzw. EU verwiesen werden, die mit den in Strafvorschriften des LFGB in Bezug genommenen formalgesetzlichen Ge- und Verboten inhaltlich identisch sind (vgl. etwa § 58 Abs. 3 Nr. 1 LFGB). Hier wird dem Verordnungsgeber die Entscheidung zugewiesen, ob er ein europarechtliches Verbot, das regelmäßig bereits Gegenstand lebensmittelstrafrechtlicher Sanktionen aufgrund nationalen Verbots sein wird, in Bezug nehmen will.

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Zum anderen (so § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB) kann in der Rechtsverordnung nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB auf ein Verbot in einem unmittelbar geltenden Rechtsakt der EG oder EU verwiesen und die Verletzung sanktioniert werden, wenn das darin enthaltene Ge- oder Verbot inhaltlich einer Regelung entspricht, zu der bestimmte, in der Rückverweisungsklausel bezeichnete Vorschriften ermächtigen. Hier wird nicht auf eine aus dem EU/EG-Rechtsakt entstammende Verhaltensnorm Bezug genommen, die auch Gegenstand eines formalgesetzlichen Ge- oder Verbots sein muss. Vielmehr reicht es aus, dass die Verwaltung selbst nach einer in der Rückverweisungsklausel genannten Vorschrift ermächtigt ist, die Verhaltensnorm des nationalen Rechts zu schaffen.[121] Die Klausel verweist damit nur auf materielles Recht zurück.

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Nach einer verbreiteten Ansicht[122] sollen solche Rückverweisungsklauseln aufgrund der praktischen Notwendigkeit, dem Gesetzgeber „das atemlose Nacheilen“ zu ersparen und die nach Art. 17 Abs. 2 UAbs. 3 BasisVO gebotene zeitnahe und effektive Straf- und Bußgeldbewehrung durch flexiblere Normgebung im Wege von Rechtsverordnungen sicherzustellen, zulässig sein.[123] Durch die Entsprechungsklauseln, die absichern, dass nur ein Handeln mit Sanktion bedroht wird, das nach geltendem Recht bereits als sanktionswürdig angesehen wird, werde den verfassungsrechtlichen Vorgaben genüge getan.

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Fraglos erhöhen Rückverweisungsvorschriften die Bestimmtheit der Strafvorschriften, jedoch weisen sie die grundsätzliche Entscheidung über die Strafbarkeit – im Falle der Verweisung auf nur materielle Verbote der Exekutive sogar über die Verhaltensnorm als solche – dem Verordnungsgeber zu. Er wird ermächtigt zu entscheiden, ob eine unmittelbar geltende EG- bzw. EU-Verordnung mit einer strafrechtlichen Sanktion zu bewehren ist und inhaltlich einer nationalen strafbewehrten Regelung entspricht. Damit trifft aber der Verordnungsgeber die Grundsatzentscheidung über die Strafbarkeit.[124] Insofern umgehen Regelungen wie die in § 62 Abs. 1 LFGB getroffene, die die Entscheidung über das Ob der Strafbarkeit in die Hand der Verwaltungsbehörde legen, sowohl die Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips (Art. 103 Abs. 2 GG) als auch der Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG[125] und sind deshalb ebenso verfassungswidrig wie Vorschriften, die den nationalen Verordnungsgeber ermächtigen, innerhalb eines bestimmten Rahmens zur Durchsetzung unionsrechtlicher Ge- und Verbote durch Rückverweisungen die Strafbarkeit zu begründen.[126] Ferner werden gegen die Rückverweisungsklausel berechtigte Bedenken im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz erhoben.[127]

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Dementsprechend hat das BVerfG[128] auch den sehr offen und vage formulierten § 10 Abs. 1 RiFlEtikettG wegen mangelnder Bestimmtheit auf Vorlage des LG Berlin[129] für verfassungswidrig erklärt. Darüber hinaus hat das LG Stade auch § 58 Abs. 3 LFGB mit seiner deutlich spezifischeren Formulierung dem BVerfG nach Art. 100 GG wegen Verfassungswidrigkeit vorgelegt.[130] Angesichts dieser Probleme stellt sich die Frage, ob das deutsche System des Lebensmittelstrafrechts noch zeitgemäß ist[131] und den Vorgaben des nationalen und europäischen Verfassungsrechts entspricht.[132]

Handbuch Wirtschaftsstrafrecht

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