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1.Rechtliches Gehör

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79Aus Art. 103 Abs. 1 GG ergibt sich, dass den Parteien und anderen Betroffenen (Rn. 82) im Verfahren rechtliches Gehör zu gewähren ist. Das Grundrecht auf rechtliches Gehör umfasst die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, aber auch die Pflicht des Gerichts, Äußerungen und Beweisanträge – es sei denn, sie sind offensichtlich unerheblich oder unsubstantiiert – zu berücksichtigen.41 Ebenso besteht ein Anspruch, Zugang zum Verfahrensstoff zu haben, sich also ausreichend über Stand und Inhalt eines Verfahrens, von dem man betroffen ist, informieren zu können.42 Die von einer Entscheidung Betroffenen sind am Verfahren zu beteiligen, ihnen ist die Möglichkeit zu gewähren, Anträge, Tatsachen und Beweismittel vorzubringen, ihre Rechtsansichten zu äußern und zum Verhalten anderer Beteiligter Stellung zu nehmen. Dass das Gericht die Rechtsansichten der Beteiligten nicht teilt, stellt hingegen (selbstverständlich) keine Gehörsverletzung dar.

80a) Grundrecht und Verankerung im einfachen Recht. Ausprägungen des Grundrechts auf rechtliches Gehör finden sich bereits in vielen Einzelregelungen der ZPO, beispielsweise in den Regelungen zur formellen (§ 136) und materiellen (§ 139) Prozessleitung durch den Richter sowie in der Ausformung des Verfahrens bei Drittbeteiligungen, etwa für die Streitverkündung (§ 73). Schon § 220 Abs. 1, wonach ein Gerichtstermin mit dem „Aufruf der Sache“ beginnt, gibt den Parteien überhaupt die Möglichkeit, den Termin wahrzunehmen.43 Auch die Möglichkeiten einer Schriftsatzfrist (§ 282 Abs. 2) oder zur Vertagung (§ 337) sollen Verstöße gegen das rechtliche Gehör vermeiden. Fristen dürfen durch das Gericht nicht zu kurz bemessen werden.44 Das Verfahrensrecht selbst ist insofern zunächst einmal Garantie und Gewähr für das Grundrecht auf rechtliches Gehör.45 Lücken und Auslegungsspielräume des einfachen Rechts sind unter Heranziehung von Art. 103 Abs. 1 GG zu schließen.46

81b) Mögliche Gehörsverletzungen. Als Gehörsverletzung anerkannt ist zunächst die sog. Überraschungsentscheidung. Hier stützt das Gericht seine Entscheidung ohne vorherigen Hinweis auf einen Gesichtspunkt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht zu rechnen brauchte.47 Das Gericht hat dann seine Pflicht zum Hinweis auf entscheidungserhebliche Fragen gemäß § 139 nicht oder in falscher Weise ausgeübt.48 Dies stellt eine Gehörsverletzung dar, weil die Beteiligten ihre Prozessführung nicht hinreichend vorbereiten konnten. Das Recht auf Beteiligung und Äußerung ist verletzt, wenn der Richter trotz erkennbar fehlender Zustellung von Schriftsätzen ohne mündliche Verhandlung entscheidet.49 Die Anforderungen an Vortrag und Substantiierung dürfen nicht überspannt werden; auch das kann eine Gehörsverletzung sein.50 Zwar darf eine Partei nicht „ins Blaue hinein“ Behauptungen aufstellen, um den Gegner auszuforschen. Insbesondere dann, wenn eine Partei selbst keine unmittelbare Kenntnis von den entscheidungserheblichen Vorgängen haben kann, ist aber die Angabe von Einzelheiten nicht erforderlich.51 Auch eine unterlassene Beweisaufnahme kann dann ein Gehörsverstoß sein.52

82Eine besondere Rolle spielt das Grundrecht auf rechtliches Gehör für diejenigen Personen, die zwar im Prozess nicht Partei sind, aber von dem Verfahren betroffen sein können.53 Das Grundrecht steht auch solchen Drittbetroffenen zu und kann etwa im Wege der Nebenintervention ausgeübt werden. Die ZPO achtet bei Nebenintervention (§§ 66 ff.) und Streitverkündung (§§ 72 ff.) auf hinreichende Äußerungsmöglichkeiten für Drittbetroffene.54 Problematisch kann das rechtliche Gehör im kollektiven Rechtsschutz (vgl. Rn. 438) sein, wenn ein Repräsentant durch seine Prozessführung bindende Wirkungen für eine ganze Gruppe herbeiführen kann.55 Der Repräsentant muss dann entweder das rechtliche Gehör der Gruppenmitglieder wahrnehmen, oder diese dürfen nur im Falle umfassend informierter eigener Entscheidung an ein negatives Prozessergebnis gebunden werden.56

83Auch wenn die Präklusionsvorschriften (Rn. 73) grundsätzlich mit dem Grundrecht auf rechtliches Gehör vereinbar sind,57 ist dieses dennoch verletzt, wenn die Gerichte die entsprechenden Normen der ZPO falsch anwenden58 oder eine Partei nicht darauf hinweisen, welche Folgen ein Fristversäumnis haben kann.59

84c) Rechtsbehelfe gegen Gehörsverletzungen. Die Verankerung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im einfachen Recht (Rn. 80) bedeutet nicht, dass jede Verletzung von zivilprozessualen Verfahrensnormen gleichzeitig eine Grundrechtsverletzung, die zur Verfassungsbeschwerde berechtigt, darstellt.60 Sie hat vielmehr die Konsequenz, dass ein Verfahrensverstoß, sei die ZPO hier auch konkretisiertes Verfassungsrecht, zunächst einmal vor den Fachgerichten im Wege der Berufung oder Revision und nicht vor dem Bundesverfassungsgericht geltend zu machen ist.

85Wenn ein Rechtsmittel nicht gegeben ist, kommt – zur (weiteren) Entlastung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. § 90 Abs. 2 BVerfGG) – eine Gehörsrüge (§ 321a) in Betracht, bei der das erkennende Gericht selbst seine Entscheidung noch einmal auf mögliche Gehörsverletzungen überprüfen und korrigieren kann.61

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