Читать книгу Die Wiener Philharmoniker - Christian Merlin - Страница 35
Erste Ansätze einer Internationalisierung
ОглавлениеDie Engagements Mahlers27 unterscheiden sich durch ein weiteres Merkmal von den vorhergegangenen: durch die Herkunft der Musiker. Mehrere von ihnen stammten nicht nur von außerhalb Wiens, sie wurden auch außerhalb der Grenzen der Monarchie geboren. Das gilt allerdings nicht für Stwertka, einen Wiener und Schüler von Jakob Grün: Wie der Kontrabassist Stix war er aus Hamburg in seine Heimat zurückgekehrt, ebenso der Klarinettist Anton Powolny, der in Wien beim Philharmoniker Franz Otter studiert hatte und gerade im Kaim-Orchester in München spielte, als Mahler ihn engagierte. Nach einer kurzen Zwischenstation im Hofopernorchester wurde Powolny Soloklarinettist im Orchester des Concert-Vereins, dem Vorläufer der Wiener Symphoniker.
Doch scheint Mahler eine Vorliebe für deutsche Musiker gehabt zu haben, zum Beispiel Konzertmeister Bruno Ahner, der Erste auf dem von Mahler geschaffenen dritten Konzertmeisterposten. Er blieb allerdings nur ein Jahr. Von kurzer Dauer war auch die Anwesenheit des aus Frankfurt stammenden Klarinettisten August Lohmann oder des aus Baden-Baden stammenden Solocellisten Rudolf Krasselt, der sich nach seinem kurzen Zwischenspiel in Wien nicht dem deutschen Militärdienst entziehen konnte, später zum Berliner Philharmonischen Orchester wechselte und schließlich Dirigent wurde. Dagegen weiß man nichts über die Gründe, die den in Böhmen geborenen Paukisten Heinrich Knauer dazu bewogen, nach nur zwei Jahren in Wien zur Königlich-sächsischen Kapelle nach Dresden zu wechseln, wo er von 1908 bis 1945 engagiert war und weiters nahezu ohne Unterbrechung von 1911 bis 1944 bei den Bayreuther Festspielen spielte. Weitere deutsche Musiker wie der Flötist Willi Sonnenberg, der Klarinettist Franz Behrends, der Trompeter Otto Fieck, der Posaunist Franz Dreyer blieben den Philharmonikern über 30 Jahre verbunden: Fieck 35 Jahre, Sonnenberg 36 Jahre, Dreyer 41 Jahre. Nur Behrends’ Wiener Karriere endete schon nach 20 Jahren. Er starb 1923 auf der Südamerikatournee der Philharmoniker an den Folgen einer Lungenentzündung.
Auffällig ist, dass nicht wenige von Mahler engagierte deutsche Musiker Bläser waren. Offensichtlich zog Mahler deutsche Bläser den Wienern vor. So versuchte er, den Operndirektor von Kassel zu überreden, den Klarinettisten Lohmann aus seinem Vertrag zu entlassen, da Deutschland nun einmal die besten Bläser habe. Außerdem engagierte Mahler drei deutsche Trompeter, als hätte er absichtlich nach einer Alternative zur Wiener Schule Franz Rossbachs gesucht, dem Nachfolger von Franz Blaha am Konservatorium und Lehrer der Brüder Adolf und Hans Stiegler, die unter Mahler im Orchester spielten.
Nicht nur mit deutschen Musikern erweiterte Mahler den geografischen Horizont des Orchesters, auch wenn es etwas hoch gegriffen wäre, von Kosmopolitismus zu sprechen: Der griechische Flötist Eurysthenes Ghisas, Soloflötist am Königlichen Hoftheater in Wiesbaden, wurde in Athen geboren, hatte aber einen starken Wien-Bezug, da er bei Roman Kukula am Wiener Konservatorium studiert hatte. Ganz anders verhält es sich mit den Niederländern, die Mahler engagierte. Das einzige Band, das den Cellisten Willem Willeke aus Den Haag mit Wien verband, war sein Studium in Wien, jedoch nicht der Musik, sondern der … Medizin! Dieses einstige Wunderkind, das mit Brahms, Grieg und Saint-Saëns musiziert hatte, war 23 Jahre alt, als es Solocellist wurde, und blieb in dieser Position von 1903 bis 1907. Besonders die Flötengruppe erhielt binnen weniger Jahre eine niederländische Prägung. 1903 wurde Ary van Leeuwen aus Arnheim und 1907 der Rotterdamer Jacques van Lier engagiert, beide jüdischen Glaubens.
Die Internationalisierung der Engagements war ein Markenzeichen für die Moderne. Sie ging in beide Richtungen vor sich, denn in derselben Zeit wanderten mehr und mehr Wiener ins Ausland ab, vor allem nach Amerika. So gingen der Cellist Rudolf Krasselt und der Harfenist Alfred Holy zum Boston Symphony Orchestra. Der Trompeter Paul Handke ging nach Chicago und anschließend nach Philadelphia, der Flötist van Leeuwen von dort nach Wien. Auch der blutjunge Geiger Hugo Riesenfeld verließ Wien 1907 und wanderte in die Vereinigten Staaten aus, nachdem er 1906 mit anderen zusammen vergeblich bei Mahler um eine Gehaltserhöhung angesucht hatte. Man fand ihn von 1907 bis 1911 als Konzertmeister bei der Manhattan Opera Company von Oscar Hammerstein, von 1917 bis 1925 als Nachfolger von Samuel »Roxy« Rothafel als Broadway-Dirigent. 1923 gründete er mit Lee De Forest sowie Max und Dave Fleischer den Filmverleih Red Seal, wurde musikalischer Leiter von United Artists und spezialisierte sich auf Arrangements und die musikalische Begleitung von Stummfilmen. Er schrieb mehr als einhundert Filmmusiken (Carmen von Raoul Walsh, The Ten Commandments von Cecil B. De Mille, Humoresque von Frank Borzage, Abraham Lincoln von D. W. Griffith, Sunrise und Tabu von Friedrich Wilhelm Murnau, Eternal Love von Ernst Lubitsch, Hell’s Angels von Howard Hughes). Seine Tochter Janet trat unter dem Pseudonym Raquel Rojas in mehreren mexikanischen Filmen auf. Die Musik der Hollywood-Filme verdankt in der Tat ihre Existenz Musikern, die in der klassischen europäischen Tradition erzogen wurden. Die Philharmoniker hatten im 19. Jahrhundert nie die sogenannte leichte Muse verachtet, ob es sich nun um Ballett- oder Volksmusik handelte: Das Beispiel Riesenfeld ist emblematisch für einen Epochenwechsel, nicht aber für einen Bruch.