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Neue Methoden bei Neubesetzungen
ОглавлениеEine weitere Besonderheit Mahlers bei Neubesetzungen ist die Selbstverständlichkeit, mit der er sich über herkömmliche Methoden hinwegsetzte. Er neigte dazu, Musiker ohne Jurybesprechung zu engagieren und denen, die er schätzte und unbedingt im Orchester haben wollte, das Probespiel zu ersparen. Sich derart über die Meinung der Orchestermitglieder hinwegzusetzen, die traditionell in der Jury vertreten waren, musste unausweichlich die Musiker kränken, die großen Wert darauf legten, in die Wahl ihrer zukünftigen Kollegen eingebunden zu werden, und führte dazu, das Image Mahlers als Autokrat zu verstärken.
Immerhin musste er als Operndirektor für seine Engagements die Genehmigung der Hoftheaterverwaltung einholen. So bat Mahler am 5. März 1903 um die Erlaubnis, den Soloklarinettisten der Hamburger Oper, Franz Behrends, engagieren zu dürfen, welcher ihm als ein exzellenter Musiker bekannt sei und der am 1. Oktober seine Stelle antreten solle. Die positive Antwort des Generalintendanten August Freiherr Plappart von Leenheer trägt das Datum 9. März, worauf Behrends seinen Vertrag am 10. März in Hamburg unterzeichnete. Auf dieselbe flinke Weise, ohne Probespiel, wurden der Harfenist Heinisch, ebenfalls aus Hamburg, sein Kollege Alfred Holy und die Cellisten Friedrich Buxbaum, Rudolf Krasselt und Wilhelm Jeral engagiert. Mitunter ergriff Mahler die Initiative, ohne eine Genehmigung einzuholen, und musste sich nachträglich bei der Generalintendanz rechtfertigen, zum Beispiel im Fall des Cellisten Krasselt. In einem Schreiben vom 21. Januar 1902 ließ Plappart von Leenheer fragen, ob ein Probespiel stattgefunden habe. Der Direktor musste verneinen und wies darauf hin, dass es sich um einen Künstler ersten Ranges handele und keiner der infrage kommenden Cellisten sich zu einem Probespiel bereiterklärt hätte.
Ein weiteres Phänomen nahm in der Direktionszeit Mahlers bisher unbekannte Ausmaße an: die Schwierigkeiten bei Vertragsverhandlungen mit Wunschkandidaten. In seinem Ehrgeiz, dem Wiener Orchester zu höchstem Glanz zu verhelfen, war Mahler nicht nur auf der Suche nach herausragenden Talenten, sondern auch nach »Namen«. Aber das Prestige der Monarchiehauptstadt genügte offenbar nicht allen Künstlern, um die er warb: Sie stellten, besonders wenn sie bereits eine Stelle hatten oder ihnen ein internationaler Ruf vorauseilte, gewisse Bedingungen. So schliff sich die Sitte ein, für Schlüsselpositionen Sonderverträge auszustellen. Die Folge waren Reibereien und Eifersüchteleien, da bei den anderen Musikern zwangsläufig der Eindruck eines Zweiklassenorchesters entstand, umso mehr, wenn die Privilegierten keine Wiener waren und zu Starallüren neigten.
Ein gutes Beispiel für solch schwierige Geheimverhandlungen ist der Fall des Konzertmeisters Julius Stwertka, den Mahler aus Hamburg kannte. Der folgende chronologische Ablauf lässt erahnen, wie langwierig und komplex der Prozess war:
27. August 1900: Stwertka schreibt an Rosé, um sich beim Direktor in Erinnerung zu bringen, er sei in Hamburg sein Konzertmeister gewesen und habe bei den Bayreuther Festspielen zusammen mit Karl Prill am ersten Pult gespielt.
12. Januar 1901: Mahler fragt nach, ob Stwertka noch an dem Posten interessiert sei, und schlägt ihm vor, sich einen Monat beurlauben zu lassen, um in Wien eine Probezeit zu absolvieren. Stwertka kann sich erst im Juni freimachen.
21. Januar 1901: Mahler schreibt, er sehe es lieber, wenn er sofort kommen könnte, zumal die Theaterferien im Juni begännen.
29. Januar 1901: Stwertka bestätigt, dass er nicht beurlaubt werden könne, und schlägt vor, seine Probezeit Mitte August zu beginnen. In der Zwischenzeit hat Mahler einen anderen Geiger zum Vorspielen gebeten, Amadeo von der Hoya. Dieser in New York geborene und in Berlin ausgebildete Österreicher war vorher Konzertmeister in New York gewesen und gerade im Begriff, ein Lehrwerk, Die Grundlagen der Technik des Violinspieles, zu veröffentlichen. Er wurde jedoch nicht engagiert.
2. März 1901: Stwertka willigt in das Angebot einer einmonatigen Probezeit vom 12. August bis 11. September für ein Gehalt von 400 Kronen ein. Aber Mahler will nicht warten und engagiert Bruno Ahner.
20. Mai 1901: Mahler bietet Stwertka stattdessen eine Solobratschistenstelle an, die er sogleich antreten könne.
23. Mai 1901: Stwertka lehnt ab, mit der Begründung, das Gehalt sei zu gering und er habe nicht die Absicht, von der Geige auf die Bratsche zu wechseln.
27. November 1901: Stwertka wendet sich erneut an Mahler, diesmal auf Bitten der jüngeren Schwester des Komponisten, Emma, Arnold Rosés Schwägerin. Da er ahnte, dass Bruno Ahner nicht auf seinem Konzertmeisterposten bleiben würde, hatte Mahler Emma gebeten, Stwertka dazu zu bringen, sich erneut um den Posten zu bewerben.
7. Februar 1902: Mahler schickt Stwertka ein Telegramm, mit der Frage, ob er noch für den Posten des Konzertmeisters zur Verfügung stehe. Stwertka antwortet knapp: »Kann Engagement am 1. August annehmen«, und ein Schreiben der Kanzlei der Generalintendanz der Hoftheater bestätigt: »Der Musiker Julius Stwertka vom Stadttheater Hamburg wird als Konzertmeister als Ersatz für Bruno Ahner engagiert, der seine Funktionen am 31. Juli abgibt.«
25. Februar 1902: Stwertka schickt seinen unterschriebenen Vertrag zurück.
1. August 1902: Stwertka tritt die Konzertmeisterstelle an.
7. Oktober 1902: Stwertka droht bereits mit Kündigung und versucht, sein Gehalt in die Höhe zu treiben, indem er darauf verweist, man habe ihm den gleichen Posten an der Königlichen Oper in Budapest für 2000 Kronen angeboten. Er sei aber bereit, in Wien zu bleiben, wenn man ihm die jährliche Zulage von 1440 Kronen zahle, die man seinem Vorgänger Ahner zugesichert habe. Mahler stimmt zu.
13. Oktober 1902: Die Generalintendanz legt ihr Veto ein.
14. Oktober 1902: Mahler plädiert erneut für diese Lösung, mit dem Argument, es sei praktisch unmöglich, für Stwertka einen Nachfolger zu finden, und das Angebot aus Budapest sei keineswegs eine erfundene Erpressung.
31. Oktober 1902: Die Generalintendanz erkundigt sich, ob Stwertka bereits einen Vertrag mit Budapest unterschrieben habe oder ob man noch in Verhandlungen stehe.
3. November 1902: Es wird schriftlich bestätigt, dass Stwertka tatsächlich einen provisorischen Vertrag mit Budapest unterschrieben hat.
12. November 1902: Wien bewilligt die erbetene Zulage.
26. November 1902: Der Zusatzartikel wird von Mahler, Stwertka und Intendant Plappart unterzeichnet. Von diesem Datum an ist Julius Stwertka offiziell Konzertmeister der Oper und der Philharmoniker. Er sollte es bis 1936 bleiben.
Der Fall des Posaunisten Franz Dreyer ist auf eine andere Art bezeichnend für das Geschick, mit dem Musiker aus der Tatsache, dass Mahler sich um sie bemühte, ihren Nutzen zogen und versuchten, die bestmöglichen Bedingungen zu bekommen. Mahler war von Dreyers Solo in seiner eigenen 3. Symphonie, die das Kölner Gürzenich-Orchester am 9. Juni 1902 in Krefeld uraufführte, so begeistert, dass er am 13. an die Generalintendanz schrieb und um die Genehmigung für einen Vertrag mit Dreyer bat. Am 14. setzte er ihn darüber in Kenntnis und teilte ihm mit, er müsse am 15. Juli 1903 sein Engagement antreten. Es ging darum, Johannes Ablöscher abzulösen, mit dem Mahler offensichtlich nicht zufrieden war. Dreyer antwortete am 17. Juni, er sei nicht in der Lage, den Vertrag zu unterschreiben, aber er bitte den Komponisten um ein Empfehlungsschreiben bezüglich seines Spiels bei der Uraufführung seiner Symphonie. Mahler versuchte es noch einmal am 19. Juni, aber Dreyer antwortete erst am 26. Oktober: Er habe inzwischen ein besseres Angebot bekommen. Von wem, verschwieg er und stellte folgende Bedingungen, sollte er nach Wien kommen: ein Gehalt von 3200 Kronen, einen Vertrag für mindestens zehn Jahre, den Titel »Erster Posaunist«, die Befreiung von jeglicher Bühnenmusik. Am 30. Oktober antwortete ihm Mahler, er könne diese Bedingungen nicht akzeptieren. Dreyer erklärte am 6. Dezember, er könne auf seine Bedingungen leider nicht verzichten, und bat erneut um ein Empfehlungsschreiben. In dieser festgefahrenen Situation unterschrieb Dreyer einen Vertrag mit dem Orchester des Mannheimer Hoftheaters.
Erst nach einem Jahr und drei Monaten, im Februar 1904, wurde der Kontakt wieder aufgenommen, offenbar auf Vermittlung des Soloposaunisten Otto Berthold. Am 26. Februar 1904 schrieb Dreyer an Mahler, dass er in Mannheim gekündigt habe und bereit sei, am 15. Juli in Wien zu beginnen, wenn wie vorgesehen Johannes Ablöscher ausscheide. Der Vertrag wurde von der Generalintendanz am 5. März bewilligt, aber Dreyer stellte neuerliche Bedingungen: Er bestand darauf, dass im Vertrag »Altposaune« als alleiniges Instrument vermerkt wurde und er nicht wie in Mannheim gezwungen werden könne, auch Bassposaune zu spielen; denn dieses Instrument schade seinem Spiel in hohen Lagen. Mahler beruhigte ihn sofort in diesem Punkt, bestand jedoch auf der Formulierung »Posaune«, ohne die Tonlage zu präzisieren. Am 12. März ließ Dreyer verlauten, dass er den Vertrag unterschrieben habe. Aber zwei Jahre später, am 3. April 1906, versuchte er erneut, den Einsatz zu erhöhen. Das Stadttheater Köln habe ihm ein Gehalt von 4680 Kronen geboten, er beantrage also, dass man sein Gehalt in Wien von 3400 Kronen mindestens auf 4000 erhöhe. Mahler unterstützte seinen Antrag bei der Generalintendanz mit dem Argument, Dreyer sei ein Musiker höchsten Niveaus, der nicht leicht zu ersetzen sei. Er blieb Soloposaunist der Wiener Philharmoniker bis 1945.
Manchmal gelang es aber auch Mahler nicht, einen Musiker zu gewinnen oder zu halten, dessen Mitwirkung er sich heiß gewünscht hätte. Das war beim Klarinettisten August Lohmann, der an der Frankfurter Oper engagiert war, der Fall. Lohmann spielte am 18. April 1902 in Wien vor und erhielt die Stelle, die vor ihm kurz Anton Powolny besetzt hatte. Am 26. April schickte er den unterschriebenen Vertrag zurück, der den Dienstantritt für den 1. Oktober vorsah. Aber am 8. Mai bat er um Annullierung seines Vertrags. Seine alten Eltern seien verzweifelt, dass er sich in einer so weit entfernten Stadt verpflichten wolle. Er fügte hinzu, er habe ein Angebot von der nahe gelegenen Oper in Kassel erhalten. Mahler antwortete ihm kühl, es sei ihm unmöglich, ihn aus seinem Vertrag zu entlassen. Die künstlerische Befriedigung, die ihn in Wien erwarte, würde seine Skrupel beseitigen, zumal in einer so aussichtsreichen Position. Mahler schrieb sogar an den Operndirektor in Kassel, Adolf Freiherr von und zu Gilsa, um ihm zu versichern, dieser würde sicher ohne Schwierigkeiten einen anderen Klarinettisten finden. Am 14. Mai bat Lohmann erneut um Vertragsauflösung, die Mahler am 16. wieder ablehnte. Am 1. Oktober 1902 trat Lohmann also seinen Dienst an, um ihn, sobald er konnte, also ein Jahr später, wieder aufzugeben.
Am meisten Schwierigkeiten bereiteten Mahler jedoch die niederländischen Neuengagements. Die Konzertagenturen, an die sich der Operndirektor zu wenden pflegte, betrieben diesen lukrativen Kulturaustausch zweifellos mit großem Geschick. So hatte der Straßburger Impresario Norbert Salter Mahler den holländischen Cellisten Willem Willeke empfohlen, nachdem Jacques Gaillard, der Cellist des Quatuor de Bruxelles, abgelehnt hatte, der Einladung nach Wien zu folgen. Willeke, der vorher im Winderstein-Orchester in Leipzig gespielt hatte, kam am 23. April 1903 zum Probespiel nach Wien – auf seinen Vorschlag hin auf eigene Kosten – und wurde ohne Schwierigkeiten engagiert, trat jedoch 1907 schon wieder zurück. Man sei seiner Bitte um Gehaltserhöhung nicht nachgekommen, und er habe ein Angebot eines der besten amerikanischen Orchester bekommen (»das ich auch bei aller Bescheidenheit verdient habe«, schrieb er). Willeke ließ sich in Boston nieder und blieb bis zu seinem Lebensende in den Vereinigten Staaten, wurde Cellist im Kneisel-Quartett, Professor an der Juilliard School und Gründer des Berkshire Music Festivals.
Mahler, der von dem Ehrgeiz beseelt war, internationale Virtuosen nach Wien zu holen, vollbrachte mit dem Engagement von Ary van Leeuwen eine Meisterleistung. Zugleich stieß er dabei an seine Grenzen. Der niederländische Flötist war zwischen 1897 und 1901 Soloflötist beim Berliner Philharmonischen Orchester gewesen und hatte seinen Posten unter Vertragsbruch verlassen. Er begab sich nach Philadelphia und Warschau, von wo er an Mahler schrieb. Er war der Erste, der sich nach dem frühen Tod von Eurysthenes Ghisas in einem Brief vom 10. Dezember 1902 an den Direktor wandte, um sich um die freie Stelle eines ersten Flötisten zu bewerben. Im Lauf ihrer Korrespondenz erkundigte sich van Leeuwen besorgt, ob mit dem Posten an der Oper auch eine Professorenstelle am Konservatorium und die Teilnahme an den philharmonischen Konzerten verbunden sei. Das seien unverzichtbare Konditionen, um in Wien gut leben zu können, wo, »wie jeder weiß, das Leben nicht billig ist«. Er forderte ein Gehalt von 3200 Kronen plus Zuschlägen, woraufhin die Generalintendanz ablehnte. Mahler informierte van Leeuwen am 30. Dezember, die Verhandlungen seien gescheitert, Willi Sonnenberg bekomme die Stelle.
Einige Monate später jedoch ging Roman Kukula, seit 1878 Mitglied der Philharmoniker und eine der treuesten Stützen von Mahler, in Pension. Van Leeuwen brachte sich am 26. Februar 1903 von Warschau aus wieder in Erinnerung und wollte wissen, ob die Stelle schon vergeben sei und ob eine Bewerbung seinerseits in Betracht komme. Mahler antwortete ihm am 2. März und lud ihn zum Probespiel ein. Aber van Leeuwen war in Warschau bis Mai vertraglich gebunden und konnte sich nicht freimachen. Schließlich schrieb er Mahler am 31. Juli aus Den Haag, um ihm nochmals zu versichern, wie sehr das Wiener Musikleben ihn anziehe. Mahler antwortete am 18. August, dass der Posten noch immer nicht besetzt sei und dass er sich jederzeit zum Probespiel präsentieren könne. Am 7. September war es so weit: Van Leeuwen zeigte, dass er tatsächlich »ein ausgezeichneter Musiker« war, sodass unmittelbar danach der Vertrag unterschrieben wurde. Am 1. Oktober trat van Leeuwen seinen Dienst an.
Leider stellten sich van Leeuwens Beziehungen zu den Philharmonikern nicht als die besten heraus: Man warf ihm seine vielen Abwesenheiten und Starallüren vor. Van Leeuwen beklagte sich darüber bei Mahler in einem Brief vom Juni 1905. Mahler hielt ihm weiter die Stange und unterstützte bei der Generalintendanz seine Gehaltsforderungen. Am 10. Juni wurde ihm eine Zulage von 1240 Kronen statt der bisherigen 400 zugesprochen. Sein Gehalt erhöhte sich somit auf 4000 Kronen. Die genehmigte Zulage verschärfte die Verbitterung seiner Orchesterkollegen. In einem undatierten, am 10. Juni 1905 eingeordneten Brief beklagte van Leeuwen sich, manchmal zweite oder dritte Flöte spielen zu müssen, obwohl er doch als erster Flötist engagiert worden sei. Tatsächlich erschien er am 1. Februar zwar zur Probe für das sechste philharmonische Konzert am 5. Februar, weigerte sich jedoch, zweite Flöte zu spielen. Man hatte ihn gebeten, die krankheitshalber fehlenden Kollegen Gustav Ibener und Marko Radosavljevic zu ersetzen. Die Situation wiederholte sich bei der zweiten Probe. Das kostete ihn 20 Kronen. Einen Monat später betrug seine Geldstrafe bereits 86 Kronen, da er drei Proben und ein Konzert geschwänzt hatte. Die Unstimmigkeiten nahmen derartige Ausmaße an, dass van Leeuwen sich am 31. Oktober 1905 weigerte, bei den Abonnementkonzerten mitzuspielen.
In seinem Brief vom 19. Juni 1906 beklagte er sich erneut bei Mahler: Von seinem Gehalt von 4000 Kronen blieben ihm nur 3500 nach dem Abzug für den Pensionsfonds übrig, er habe noch immer nicht die erhoffte Lehrstelle am Konservatorium erhalten und warte darauf, bei der Hofmusikkapelle angestellt zu werden. Er würde es vorziehen, in Wien zu bleiben, aber, fügte er bedauernd hinzu, er sähe sich leider gezwungen, am 1. September zu demissionieren, wenn man ihm eine Gehaltserhöhung verweigere. Arnold Rosé empfahl daraufhin, den Rücktritt anzunehmen. In seiner Antwort zeigte Mahler zwar, wie verärgert er war, aber er ging ein weiteres Mal auf van Leeuwens Forderungen ein: »Das geht doch nicht?! Welche Confusion! Wenn Hr. Löwen uns im Herbst wirklich kündigt, so kämen wir doch ohne ersten Flötisten an. Das hätte er sich früher überlegen müssen. Sein Gesuch um nochmalige Aufbesserung der Bezüge will ich gerne befürworten!«
Das Orchester, das den Eindruck hatte, van Leeuwen sei ihm aufgezwungen worden, rächte sich, als der niederländische Flötist um Aufnahme bei den Philharmonikern ansuchte: Während Mahler allein entschied, wer Mitglied des Opernorchesters wird, konnten ausschließlich die Musiker entscheiden, wer Philharmoniker wird. Tatsächlich wurde van Leeuwens Antrag abgeschmettert, ebenso wie die Anträge von mehreren Bläsern, die Mahler im Zuge der Aufstockung der Bläserpulte auf fünf Posten eingestellt hatte. In einer Komiteesitzung wurde folgende Lösung vorgeschlagen: Wenn ein Philharmoniker krank wird, spielt der Neuankömmling für die übliche Gage, wenn ein Philharmoniker in Pension geht, wird der Neuankömmling Mitglied der Philharmoniker. Offenbar konnte man sich nicht einigen, da das Problem vier Monate später erneut diskutiert wurde und der Oboist Johann Strasky Beifall erntete, als er vorschlug, die Neuen sollten bei den philharmonischen Konzerten mitspielen, ohne bezahlt zu werden (laut Protokoll: »Gelächter«). Schließlich schlug Sekretär Franz Heinrich vor, sie aufzunehmen, mit der Einschränkung, dass dies nur eine provisorische Lösung sein könnte. In dieser Zeit waren die Philharmoniker noch nicht ausreichend autonom, dass sie sich einen Machtkampf mit ihrem Arbeitgeber, dem Operndirektor, leisten konnten. Mit dem Argument, die Einnahmen durch die Konzerte würden bei Erhöhung der Mitgliederzahl schrumpfen, baten die Philharmoniker die Oper um eine Kompensation, die Mahler bei der Generalintendanz unterstützte. Dafür verlangte Mahler, dass sie ihre Statuten ändern und die Zahl der Orchestermitglieder erhöhen sollten: Dies geschah, wenn auch in unzureichender Weise. Die Statuten von 1903 sahen 108 Philharmoniker vor, nur vier mehr als vorher. Erst die Statuten von 1907 erhöhten die Anzahl der Philharmoniker auf 120, eine Zahl, die bis 1973 nicht verändert wurde.
Trotz des Kompromisses von 1902 blieb van Leeuwen der Einzige, dem der Status eines Philharmonikers verweigert wurde. Die Spannungen legten sich auch nicht nach Ausscheiden des Direktors. Mahlers Nachfolger Felix Weingartner erklärte im Oktober 1909, die Philharmoniker nur dirigieren zu wollen, wenn van Leeuwen bei den Abonnementkonzerten mitwirke. Daraufhin fand man eine sehr wienerische Lösung: Van Leeuwen wurde erlaubt, als »Gast« an den Abonnementkonzerten teilzunehmen, ohne den Titel »Philharmoniker«, aber mit entsprechender Bezahlung. Erst 1913 wurde er in den Verein aufgenommen, zehn Jahre nach seinem Eintritt in das Opernorchester. Was ihn im Übrigen nicht daran hinderte, eines der langlebigsten Kammermusikensembles der Philharmoniker zu gründen: die Bläservereinigung mit dem Oboisten Alexander Wunderer, dem Klarinettisten Franz Behrends, dem Fagottisten Bruno Wesser und dem Hornisten Karl Stiegler.