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Pro und kontra Mahler
ОглавлениеIn diesem nicht gerade vom Konsens geprägten Klima war es kein Wunder, dass Mahler bei den Musikern extrem gegensätzliche Reaktionen hervorrief. Es entwickelten sich zwei feindliche Lager, man war entweder für oder gegen Mahler. Allein die hohe Zahl der Bewerbungen derer, die in das Orchester aufgenommen werden wollten, zeigt, was für ein Magnet der Name Mahler war. Wie intensiv die Bewunderung war, die manche Musiker ihrem (ehemaligen) Chef entgegenbrachten, zeigen einige dieser Briefe, wenn auch so manche Formulierung auf das Konto üblicher Schmeicheleien ging. So schrieb der Geiger Ludwig Nagel, Mitglied des städtischen Opernorchesters in Hamburg, an seinen einstigen Kapellmeister: »Seitdem Sie Hamburg verlassen haben, habe ich den Eindruck, dass man hier keine Musik mehr macht.«
Für Mahler nahmen einige Orchestermitglieder sogar negative Konsequenzen in Kauf: Am 11. November 1906 fand ein Konzert in Brünn statt. Der Komponist wurde eingeladen, seine 1. Symphonie zu dirigieren, und bestieg mit einer kleinen Gruppe von Wiener Musikern, die das örtliche Orchester an exponierten Positionen verstärken sollten, den Zug nach Brünn. In der Reisegesellschaft befanden sich Konzertmeister Arnold Rosé, Kontrabassist Otto Stix, Solohornist Karl Stiegler, Trompeter Adolf Wunderer, Posaunist Franz Dreyer und Solopaukist Heinrich Knauer. Um den Zug nicht zu versäumen, verließ Otto Stix mitten im philharmonischen Konzert im Musikverein unter dem Dirigat von Franz Schalk das Podium, was ihm ein Disziplinarverfahren eintrug. Karl Stiegler war in dieser Hinsicht vorsichtiger, als er um Erlaubnis bat, bei der Uraufführung von Mahlers 6. Symphonie am 4. Januar 1907 für den Solohornisten des Konzertvereins einzuspringen: Ihm wurde stattgegeben. Mahler bat Stiegler öfters, ihn zu begleiten, wenn er andernorts seine 5. Symphonie dirigierte, weil er es vorzog, dass das Hornsolo im Scherzo von Stiegler gespielt wurde. Fast alle Stützen des Komponisten waren Musiker, die er selbst engagiert hatte, mit wenigen Ausnahmen: Einer von Mahlers bedingungslosesten Anhängern war der Geiger Siegfried Auspitzer, der schon seit 1880 im Orchester war. Er bekam den Spitznamen »Arkadenvorstand«, weil er, der kein Komiteemitglied war, unter den Arkaden der Oper Pro-Mahler-Versammlungen abhielt.
Am deutlichsten zeigte sich die Kluft zwischen Mahler-Anhängern- und -Gegnern im Komitee. In der Sitzung vom 30. Mai 1899 standen sich die Anhänger Hans Richters und die Parteigänger Mahlers gegenüber. Letztere hatten das Nachsehen, als unter dem Vorwand eines Verfahrensfehlers der Verwaltungsausschuss zum Rücktritt gezwungen wurde. Er hatte sich aus dem Flötisten Roman Kukula, dem Oboisten Richard Baumgärtel, dem Hornisten Emil Wipperich und dem Geiger Florian Stelzig zusammengesetzt. Der Aktivste der Mahler-Gegner war der Geiger Franz Heinrich jun., ein geschickter Verhandler und versiertes Organisationstalent. Auf der Generalversammlung am 30. Mai 1904 erklärte er: »Viele Diskussionen finden unter den Arkaden statt, es wäre aber besser, wenn die Herren bei den Vorstandsversammlungen den Mund aufmachen würden.« Der Kontrabassist und Mahler-Anhänger Otto Stix verwahrte sich gegen dessen Ton: »Hr. Stix verwahrt sich gegen den Ton, der heute eingerissen ist, und daß man jungen Mitgliedern immer wieder die Jugend vorwirft, wir sind alle Philharmoniker und alle gleichberechtigt.« Ein anderer Mahler-Freund, der Geiger Viktor Robitsek, setzte noch eins drauf: »Das Comité ist überhaupt nur aus Aristokraten zusammengesetzt. Da sind vor allem die Herren Mitglieder der k. und k. Hofmusikkappelle, die auf eine langjährige Dienstzeit zurückblicken.«28 Die letzte bissige Bemerkung gegen den Vorstand kam vom jungen Geiger Hugo Riesenfeld, der erklärte: »Ich will durch Direktor Mahler selig werden, die anderen durch das Comité.«
Tatsächlich ist Riesenfeld das beste Beispiel für eine glänzende Nachwuchskarriere: Er, der als Tuttispieler engagiert worden war, stand schon in der Saison 1901/1902 auf der Liste der ersten Geigen knapp hinter den Konzertmeistern, in einer Position, die später Stimmführer heißen sollte. Auch die Geiger Heinrich Rémi und Gustav Hawranek beförderte Mahler von den Tuttispielern.
Franz Heinrich, bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1919 einflussreicher Sekretär des Komitees, trug ebenfalls dazu bei, das Orchester zu spalten. Ein Nest von Mahler-Gegnern bildete auch die Cellogruppe, denn die hatte Mahler während seines Mandats am meisten umgekrempelt. Josef Sulzer zum Beispiel wehrte sich wie einige andere, die Musik des Operndirektors zu spielen, und erklärte bei der Komiteesitzung am 1. April 1899: »Wer ist der Komponist Mahler? Niemand kennt ihn.« Ebenso bissig äußerte sich Cellist Theobald Kretschmann, und auch Solobratschist Anton Ruzitska ließ keine Gelegenheit aus, dem Direktor mit an Unverschämtheit grenzenden Repliken zu begegnen. Laut einer Anekdote soll er auf Mahlers »Wenn Sie so spielen, werden wir keine Freunde werden« geantwortet haben: »Will ich ja gar nicht! Bin viel zu wählerisch mit meine Freinde!«
Arnold Rosé spielte als Vermittler zwischen Mahler und dem Orchester eine zentrale Rolle, gleichzeitig machten ihm seine autoritäre Art und seine Nähe zu Mahler nicht nur Freunde. Die Schar der Rosé-Feinde verstärkte die Kohorte der Mahler-Gegner. So richtete der Bratschist Julius Desing in einem Brief vom 27. Dezember 1907 die Bitte an die Direktion, man möge eine über ihn verhängte Strafe rückgängig machen, und beklagte sich über den Kleinkrieg, den Rosé gegen ihn führe. Seit fast 13 Jahren verfolge ihn Herr Rosé »mit seinem persönlichen Hass«, und er könne »Hr. Concertmeister Rosé nur als Künstler« achten.
Als Beispiel nennt Desing folgende Begebenheit: Als er Sekretär des Vereins Nicolai war, kam der Kassier eines Tages in die Probe und bat ihn, kurz herauszukommen, da er seine Unterschrift für einen Scheck benötige. Desing verließ die Probe für zwei Minuten, »um ein persönliches Bedürfnis zu befriedigen«. Noch am gleichen Abend erhielt er, der von einem übereifrigen Orchesterdiener angezeigt worden war, einen schriftlichen Verweis von Rosé. Desing erinnerte in seinem Brief daran, dass beim Ausscheiden Mahlers kurz zuvor Rosé und ein Dutzend Musiker eine ganze Probe geschwänzt hatten, um ihren Chef am Westbahnhof zu verabschieden, und dafür nicht bestraft wurden. Rosé habe über zehn Jahre ein übles Bespitzelungssystem etabliert und den Orchesterdienern den Auftrag erteilt, Berichte über die Musiker abzufassen – und sich als deren Herren aufzuspielen. »Die gegenwärtige Behandlung des Orchesters ist überhaupt eine unwürdige«, fügte Desing hinzu. »Von Seite des Hr. Concertm. Rosé hat überhaupt seit seinem Austritte aus dem philharmonischen Orchester, wo es einmal geringfügiger Differenzen halber zu einem Bruche kam, das Orchester sehr viel zu leiden, es wird verfolgt und geknechtet wo es nur möglich.«29
Tatsächlich wurde Rosé seit 1902 nicht mehr in den Programmheften der Philharmoniker genannt. Weshalb er die Philharmoniker verließ, obwohl er weiter an der Hofoper wirkte, ist unbekannt. Finanzielle Gründe mögen wie bei seiner ersten Kündigung 1897 eine Rolle gespielt haben, auch seine Absicht, sich mit seinem Quartett intensiver der Kammermusik zu widmen. Seine Demission fällt gerade in die Zeit, in der sich Mahlers Beziehungen zum Orchester verschlechterten. Ob Mahler und Rosé den Philharmonikern ihre Widerborstigkeit heimzahlen wollten, indem sie ihnen das Leben an der Oper erschwerten, sei dahingestellt.
Unter den zahlreichen Gründen, die Mahler die Feindschaft eines Teils der Musiker einbrachten, sind oft Antisemitismus sowie Verachtung für seine böhmische Herkunft genannt worden. Tatsächlich kamen viele Angriffe in der Presse aus dem antisemitischen Lager, wie zum Beispiel ein Artikel mit dem Titel Die jüdische Herrschaft in der Wiener Hofoper30. In einer Stadt, die seit 1897 (dem Jahr, in dem Mahler sein Amt antrat) vom offen antisemitischen Bürgermeister Karl Lueger regiert wurde, sind Anwürfe dieser Art nicht weiter verwunderlich. Bei den Orchestermusikern jedoch ist die Lage etwas komplizierter. Clemens Hellsberg zufolge neigte der Geiger Franz Heinrich jun., Sekretär des Komitees, zu gewissen antisemitischen Tendenzen31, aber zu den heftigsten Gegnern Mahlers zählten auch jüdische Mitglieder wie Sulzer und Kretschmann. Letzterer war zudem gebürtiger Böhme wie Mahler. Die Parteinahme für oder gegen Mahler stützte sich nicht immer auf die üblichen Konfliktlinien. Assimilierte Wiener Juden betrachteten ihre neu eingewanderten Glaubensbrüder aus dem Osten nicht selten mit einer gewissen Verachtung, wie aus Jakob Wassermanns Erinnerungen hervorgeht und Jacques Le Rider in einer ausführlichen Studie untersucht hat.32
Andererseits waren die Beziehungen zwischen Mahler und dem Orchester bei Weitem nicht immer schlecht oder feindselig. Die Musiker holten ihn zwar nicht als Dirigent der Abonnementkonzerte zurück, als er seine Bereitschaft dazu erklärte, aber im September 1904 kam es zu einer Geste der Versöhnung. Die Philharmoniker gestanden Mahler zwei Proben für seine 5. Symphonie zu: Das Werk sollte einen Monat später in Köln uraufgeführt werden, und der Komponist wollte gerne hören, wie es klang. Nach einem einstimmigen Komiteebeschluss spielten die Musiker beide Proben unentgeltlich. Ebenso gaben die Philharmoniker ihre Zustimmung, Mahlers 3. Symphonie am 14. Dezember 1904 bei einem Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde zu spielen, das am 22. wiederholt wurde. Auch hier gab es keine Gegenstimme bei der Abstimmung, und Mahler lud das ganze Orchester nach dem Konzert in ein Restaurant zum Essen ein. Am 29. Januar 1905 dirigierte er wieder selbst die Philharmoniker, wenn auch außerhalb des Abonnements, bei der Uraufführung der Kindertotenlieder, einem Konzert der von Schönberg gegründeten »Vereinigung schaffender Tonkünstler in Wien«, sowie bei der Wiener Erstaufführung der 5. Symphonie am 7. Dezember 1905 in einem Gesellschaftskonzert.
Trotzdem ging das Katz- und Mausspiel weiter, sodass am 4. Januar 1907 Mahlers 6. Symphonie vom Concert-Verein (den zukünftigen Wiener Symphonikern) uraufgeführt wurde, da das Komitee der Philharmoniker nicht bereit war, ein Konzert mit nur einem abendfüllenden Werk zu bestreiten. Allerdings hatte einige Monate zuvor Direktor Mahler dem Opernorchester eine Gehaltserhöhung vorenthalten und damit erneut das Klima erkalten lassen, nachdem es sich ein wenig erwärmt hatte. Einmal mehr zeigte sich, wie unauflöslich die doppelte Identität des Orchesters war.
Die schwierigen Beziehungen zwischen Mahler und dem Orchester bleiben ein höchst komplexes Gefüge. Antisemitismus mag eine Rolle gespielt haben, ob es eine zentrale war, ist unter Forschern ein Streitpunkt.33 Die Arbeitsgewohnheiten des Orchesters wurden in vieler Hinsicht umgestoßen, und etliche konservative Musiker wollten nicht wahrhaben, dass sich die Zeiten änderten. Jedes dieser Argumente ist differenziert zu sehen. So hat Mahler die musikalische Qualität des Orchesters enorm verbessert und seine Arbeitsweise modernisiert. Viele Musiker haben das erkannt und geschätzt, nicht nur seine Anhänger. Aber so herausragend der Künstler Mahler war, so tyrannisch, launisch und ungeschickt war der Direktor Mahler in seinem Perfektionismus und seiner Überempfindlichkeit.
Der Kritiker Ludwig Karpath hat die Situation seinerzeit hellsichtig geschildert: »Seitdem das Hofopernorchester besteht, hat kein Direktor für das Orchester soviel gethan wie Gustav Mahler. Ebenso muss wahrheitsgetreu berichtet werden, dass das Orchester jede Gelegenheit ergriff, um den strengen Direktor zu verunglimpfen. Gleichwohl ist das später beobachtete Vorgehen Mahlers zu verdammen, denn er hat in demselben Masse, in dem er dem Orchester Wohltaten erwies, dieses chikaniert und gepeinigt.«34 Mahlers größter Fehler war seine Besessenheit, alles kontrollieren zu wollen und das Unabhängigkeitsbestreben der Musiker nicht zu respektieren, die ihm zwar an der Oper unterstanden, nicht aber als Philharmoniker. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, mehr und mehr auf ihre Autonomie zu pochen, und es ist kein Zufall, dass die Philharmoniker sich 1908 unmittelbar nach dem Abgang Mahlers als Verein konstituierten: Mit festgelegen Statuten riskierten sie nicht mehr, dass ihnen jemand Vorschriften machen konnte. Der Anspruch auf künstlerische Unabhängigkeit war allerdings nicht der einzige Grund für die Vereinsgründung, es gab einen wesentlich praktischeren: Die Philharmoniker erhielten von Rudolf Putz, einem k. k. Beamten in Ruhe, eine nicht unbeträchtliche Erbschaft, die sie nur als Verein annehmen konnten … Nicht selten fließen in der Geschichte der Philharmoniker das Künstlerische und das Wirtschaftliche ineinander.
Selbst wenn Mahlers Image als tyrannischer Leiter zu Recht besteht, so fiel seine Ära in eine Zeit, in der das Orchester von einem noch nie dagewesenen demokratischen Selbstbewusstsein erfasst wurde. Schon 1898, zu Beginn seiner Direktion, war zum ersten Mal der Dirigent der Abonnementkonzerte nicht gleichzeitig Vorstand des Orchesters, sondern ein Musiker, der Kontrabassist Franz Simandl. Mahler übte demnach bedeutend weniger Macht über die Philharmoniker aus als seine Vorgänger Otto Nicolai, Carl Eckert, Otto Dessoff und Hans Richter.