Читать книгу Glock 17 - Emely Bonhoeffer - Страница 24

Szene 20:

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Olivia schickte dem Mädchen, dem sie in der Toilette ihr Zweithandy ausgehändigt hatte, eine Nachricht, dann säuberte sie die blutverschmierte Klinge und ihre Haut mit einem weißen Stofftuch, welches sie bei sich trug. Ursprünglich hatte es ihrem Vater gehört, der davon aber genug besaß, sodass er ein Exemplar nicht vermissen würde.

Nachdem die Fasern des Stoffes alles Blut vom Messer aufgesaugt hatten, steckte sie die Waffe wieder in die eingenähte Tasche in ihrem Kleid. Das blutbefleckte Tuch ließ sie hinter die Reling fallen und beobachtete, wie es langsam auf die Wasseroberfläche segelte, um dann das Flusswasser in sich aufzunehmen und auf den Grund gesogen zu werden.

So wie dieses Tuch werde ich dich und deine Verbrecherburg versenken, hallten die Worte in ihrem Kopf.

Schließlich wollte sie Sergio nicht länger warten lassen und verließ den Schauplatz des ersten Mordes für diesen Abend.

Ihre Schritte waren leise und bedacht, ihre Haltung jedoch betont lässig. Unbemerkt stahl sie sich vor bis zum Ende der Jacht. Immer wieder kamen ihr Leute entgegen, doch sie reagierte, wie es ihr beigebracht wurde, und versteckte sich entweder in einem Nebenzimmer oder einem kleinen Nebengang, von dem es auf der riesigen Jacht unzählige gab. Sie hasste es, sich zu verstecken. Theoretisch hätte sie diese Menschen leicht ins Koma befördern können, doch ihr Menschenverstand, auf den sie diesmal wieder hörte, erinnerte sie daran, dass, wenn sie auch nur einem Unschuldigen etwas tat, sie kaum besser wäre als die Männer des Kartells. Und auf das Niveau eines skrupellosen Bastards wollte sie sich, zumindest wenn es um Unbeteiligte ging, nicht herablassen.

Andererseits: War sie sich wirklich sicher, dass sie nicht schuldig war? Besser als die Verbrecher des Kartells? Dass sie nie etwas getan hatte, wofür sie Bestrafung verdiente? Natürlich wusste sie, dass es absolut illegal war, jemanden zu töten, aber obwohl es rechtlich verboten war, empfand sie es moralisch in Ordnung, die Welt von Schwerverbrechern wie den Leuten des Kartells zu befreien. Außerdem war es der von ihr gewählte Weg, mit ihrer immer wiederkehrenden, sie quälenden Vergangenheit, abzuschließen.

Ihre Gedanken kreisten, bis sie plötzlich bemerkte, dass sie vor der Tür mit der ins dunkle Holz eingelassenen goldenen Nummer 23 stand. Sofort rückte ihr Gedankengang in den Hintergrund und etwas veränderte sich in ihr. Ein Schalter in ihrem Inneren wurde umgelegt, der den Sturm aus Schmerz und Hass in ihr freiließ und ein gefährliches Glitzern in ihren Augen erweckte, das durch ihren Rachedurst angeheizt wurde. Glasklar sah sie ihr Ziel vor sich, wappnete sich für den bevorstehenden Kampf und nahm ihre ganze Kraft zusammen. Ein letztes Mal holte sie tief Luft, bevor sie schwankend die Höhle des Löwen betrat – ganz in ihrer Rolle als Partygast, der sich betrunken auf dem Schiff verlaufen hatte. Nachdem sie die vergoldete Klinke heruntergedrückt und einen Fuß in das dahinterliegende Zimmer gesetzt hatte, scannte sie es auf alles Mögliche ab: Personen, Waffen, potenzielle Gefahrenquellen und alles, was ihr zum Problem werden könnte. Bewusst strauchelte sie und hielt sich an einem Ledersessel fest, der zu ihrer Linken platziert war. Als sie lachte, merkte sie, wie sich jedes einzelne Augenpaar in dem Zimmer an sie heftete.

„Ich glaube, der sechste Martini heute Abend war vielleicht etwas viel gewesen ...“, lallte sie leicht. Als sie sich durchs dunkelblonde Haar fuhr, schlug sie die Augen nieder, nur, um sie wenige Augenblicke später aufzuschlagen und Sergio damit zu fixieren. Wie ein Mafiaboss thronte er auf einer Ledercouch in seinem schwarzen Anzug, das weiße Hemd so wie Argus nicht vollständig zugeknöpft, und hielt ein halbvolles Whiskeyglas in seiner rechten Hand, umgeben von zwei Frauen, deren Kleider sogar noch kürzer als das von Olivia waren. Sergio wirkte jung und absolut erholt, denn, obwohl er ganz klar zur Generation ihres Vaters gehörte, verstand er es, sein Alter erfolgreich zu verschleiern. Die schwarzen Haare trug er wie immer: typisch spanisch zwar kurz, aber mit Locken, die ihm etwas in die Stirn fielen. Seine Augen standen im Kontrast zu seinem düsteren Auftreten und funkelten hell wie Sterne in der Nacht. Aufmerksame Sterne, die jede Bewegung wahrnahmen und darauf blitzschnell reagieren konnten, wenn man mal etwas unternahm, was ihnen nicht gefiel. Diese Augen hatten sie bis in ihre Albträume verfolgt, meistens begleitet von seinem dämonischen Lachen und ihren erstickten Schreien. Oh ja, Sergio zu töten würde nicht einfach werden, vor allem, weil mit ihm und den Frauen noch vier Wachleute im Raum waren, die sie aktuell umkreist hatten und ihr keine Chance ließen, näher als zehn Schritte an ihre Zielperson heranzutreten.

Dann starte ich die Show mal, dachte Olivia sich. „Störe ich etwa gerade bei einer Privatparty?“, fragte sie. Als keiner reagierte, kicherte sie betrunken und plapperte weiter: „Aber ich muss schon sagen, dem Gastgeber könnte man mal richtig danken, ich meine …“ Sie deutete an zu fallen und die Bodyguards stützten sie wie erwartet. „Danke“, murmelte sie in deren Richtung. „Also, wo war ich? Ach ja, die Party ist echt der Hammer, die Gäste sind so nett, der Champagner ist einfach toll und die Musik, mmh, ich liebe diese Musik. Und dazu zu tanzen, ist echt traumhaft.“

Weil man die Musik hier kaum noch hören konnte, begann sie, vor sich hin summend zu tanzen, drehte sich wackelig und sexy zu einer Melodie in ihrem Kopf und spielte mit ihrem welligen Haar, bevor sie plötzlich stehen blieb. „Wieso ist hier eigentlich keine Musik? Mit Musik wird doch alles besser.“ Ihre Haltung erinnerte an die eines bockigen Kindes, trotzdem schaffte sie es, dabei süß auszuschauen. Mit ihrer Masche, die Unschuld und Niedlichkeit verband, zwei Dinge, die im Kartell aus Prinzip heraus nicht existierten, weckte sie sein Interesse. Abwartend blickte sie Sergio an. Dann fügte sie hinzu: „Das werde ich dem Gastgeber sagen, wenn ich ihn sehe.“

Und damit brach sie das Eis bei ihm, der losprustete und seinen Blick über sie gleiten ließ.

„Was ist so witzig?“, fragte sie mit gespielter Unwissenheit.

Kurz dachte er nach, entschied sich dann aber doch dazu, ihr zu sagen, was sie ohnehin bereits wusste.

„Ich bin der Gastgeber.“ Gönnerhaft erklang Sergios tiefe, angeraute Stimme.

Überraschung zierte ihre Züge, bevor sie ihm schmeichelte. „Sie haben Stil, das muss man Ihnen lassen, aber den habe ich auch.“

Etwas blitzte in seinen Augen auf, während sie erkannte, dass er angebissen hatte. Entspannt lehnte Sergio sich auf seinem Lederungetüm zurück und schlug ein Bein über das andere, was sie als gutes Zeichen wertete. Offensichtlich glaubte er sich nicht in Gefahr, sondern schaute stattdessen amüsiert zu ihr hoch.

„Nun denn“, Olivia setzte zu einer Erklärung an, „ich fände es wirklich besser, wenn hier auch Musik liefe.“

Ihm war natürlich bewusst, was sie damit anstrebte – das dachte er in seiner Einfältigkeit zumindest.

Kurz schien er zu überlegen, dann befahl er: „Ihr habt die Señorita gehört. Schaltet Musik an!“

Einer der Muskelberge setzte sich in Bewegung und aktivierte die Stereoanlage, die im Regal an der Wand einstaubte. Keine zwei Sekunden später tönte „Bad“ von Michael Jackson aus den Lautsprechern. Sie verkniff sich ein wissendes Grinsen. Er war Sergios Lieblingssänger. Olivia war es recht, sie war anpassungsfähig und so fing sie an, zu der schnellen Melodie des Liedes zu tanzen. Sergio beobachtete jede ihrer Bewegungen und ihm schien zu gefallen, was sie ihm bot. So tanzte sie das gesamte Lied durch und erst, als die Musik verklang, stoppte sie.

Sofort klatschte Sergio in die Hände und erhob sich ruckartig. „Beeindruckend, wirklich beeindruckend.“

„Vielen Dank“, erwiderte Olivia mit einem süßen Lächeln auf den vollen Lippen.

Nach ein paar Momenten des Nachdenkens drehte Sergio sich um. Er ordnete an: „Wir sind für heute fertig, ihr dürft gehen! Ihr auch, Männer, ich brauche Sie für heute Abend nicht mehr.“

Damit hatte sie ihr Ziel erreicht: Alle lästigen Hindernisse marschierten geradewegs zur Tür hinaus. Als das letzte verschwunden war, verschloss Olivia den Ausgang. Sicher war sicher. Sergio würde ihr nicht entkommen. „Also dann, verehrter Gastgeber, ich glaube, ich schulde Ihnen noch meinen Dank.“

„Nennen Sie mich Rodrigo.“

Eigentlich hatte sie das erwartet: Er nannte nie seinen echten Namen gegenüber Menschen, die nicht zum Kartell gehörten.

„Und wie darf ich Sie nennen, meine Hübsche?“

Gelassenheit schmückte ihr Gesicht.

„Wir kennen uns schon“, offenbarte sie ihm. Etwas verwirrt blickte er auf.

Galant machte sie zwei Schritte nach vorne, streifte ihre High Heels ab und kickte sie achtlos aus dem Weg. „Wissen Sie, mein Vater hat mir vieles beigebracht: das Lesen, das Fahrradfahren, das Schreiben.“ Bei jedem ihrer Worte näherte sie sich ihm um einen kleinen Schritt. Ihr Blut pulsierte um die Stelle herum, wo ihr Messer an ihre Haut drückte und auf seinen Einsatz wartete. „Er zeigte mir auch das Kämpfen, das Täuschen, das Betrügen. Er zeigte mir den Hass, den Schmerz, das Leiden, die Furcht.“ Sie sprach immer schneller und ihre Hand wanderte zu der spitzen Klinge unter dem zarten Stoff ihres Kleides. „Er brachte mir bei, was es heißt, zu leben, und auch, wie man tötet.“ Fest fasste sie den Griff der Waffe. Aus ihrem Versteck zog sie sie ins schummrige Licht der Deckenbeleuchtung und hielt sie ihm an die Kehle. „Aber das weißt du ja schon, oder hattest du es etwa vergessen, Sergio?“

Kurzzeitig erschrak er und die Furcht spiegelte sich in seinen sonst so arroganten Zügen wider.

„Hattest du mich etwa vergessen? Mich, deren Schreie dich hoffentlich bis in deine Träume verfolgt haben? Mich, deren Leben du beinahe beendet hättest? Mich, die du fast ertränkt hättest?“ Olivias Körper bebte vor Wut, und obwohl sich die Spitze der Waffe bereits in seine dünne Haut bohrte, fing Sergio sich.

Er fragte sie mit ausdrucksloser Miene: „Bin ich etwa der Nächste auf deiner Liste, Olivia?“ Er wagte es, sie zu verspotten. „Sollte ich etwa Angst vor dir haben, nur, weil du ein Messer hast? Vor dem kleinen Mädchen, welches auf seinem Rachefeldzug eine lange Liste abarbeitet, nur, um am Ende, wenn es in die Mündung einer Pistole blickt, zu merken, dass es einen gewaltigen Fehler begangen hat? Nein, ich fürchte dich nicht, kleines Mädchen!“ Er spuckte ihr rechthaberisch entgegen.

„Du bist noch dümmer als all die anderen, denen ich das Messer bereits zu Recht an die Kehle gehalten habe. Sie waren wenigstens so schlau und hatten Angst!“ Sie wechselte die Position und legte ihm die Klinge nun von hinten an den Hals. Für wenige Sekunden war nur sein eine Spur zu schnell gehender Atem zu hören.

„Weißt du, Angst ist ein notwendiges Gefühl. Sie warnt uns bei Gefahr und kann uns das Leben retten. Ich frage dich das jetzt nur einmal: Könnte ein dummes, kleines Mädchen so viele Männer töten? Könnte es sich nie dabei erwischen lassen? Wäre es so clever? Wäre es in der Lage, ein ganzes Kartell auszulöschen? Denn genau das werde ich tun: Jeden einzelnen Schuldigen in seine wohlverdiente Hölle schicken.“

Kurz flackerte das Licht der Deckenlampen über ihren Köpfen.

„So viele Namen auf meiner Liste sind bereits durchgestrichen. Und deiner ist der nächste. Ich werde nicht aufhören, Sergio. Das ist kein Fehler. Woher ich das weiß?“

Ihr Atem traf ihn am Nacken und ließ ihn frösteln.

„Wenn ich fertig bin mit meiner kleinen Liste, dann gibt es keinen mehr, der eine Pistole auf mich richten könnte. Anfangs wollte ich nur den Tod derer, die mich gequält hatten, aber mittlerweile ist mir bewusst geworden, dass der gesamte Laden vor Verbrechern nur so strotzt. Einen nach dem anderen werde ich mir holen. Dann seid ihr alle tot und ich werde lachen. Über meinen Sieg werde ich lachen und über eure Dummheit!“

Ihre freie Hand schoss vor, umklammerte seinen Arm und ihre Nägel bohrten sich in seine Haut, so fest, dass er blutete.

„Ihr wart so dumm, eure größte Feindin zur Mörderin auszubilden. Ihr könnt mich nicht mehr aufhalten! Dafür habt ihr selbst gesorgt. Und jetzt“, sie löste ihre Nägel aus seinem Fleisch und zog seinen Kopf an den Haaren nach hinten, „sag noch einmal, ich wäre nur ein kleines Mädchen! Das kleine, dumme Kind ist schon vor so langer Zeit verschwunden. Und wer hat es vertrieben?“

Ihre zischenden Lippen spürte er an der viel zu dünnen Haut an seinem Ohr.

„Ihr! Ihr, als ihr mich durch die Hölle gehen ließt. Du“, das Wort traf sein Ohr, „du hast mich ertränkt. Fast. Ich bin nie wirklich gestorben, doch in diesen Momenten habe ich mir nur gewünscht, ich wäre es.“

Durch die Erinnerung brach das Feuer in ihr aus, durchbrach die Grenzen, in denen es ursprünglich brannte.

„Weißt du eigentlich, wie es sich anfühlt? Weißt du, was das für ein Gefühl ist, wenn einem unter Wasser die Luft ausgeht?“

Wut nahm ihre Stimme ein.

„Wahrscheinlich nicht, deswegen erzähle ich es dir.“

Sie schloss die Augen und erinnerte sich an die Gefühle des Ertrinkens. Brüchig erklangen ihre Worte und füllten die Stille im Raum.

„Am Anfang versuchst du krampfhaft, mit dem bisschen Luft, das dir zur Verfügung steht, auszukommen, aber lange dauert es nicht, bis du nicht anders kannst und unter Wasser versuchst, einzuatmen. Ganz blöde Idee, denn sobald Wasser in deinen Körper gelangt, wird es nur noch schmerzhafter. Dann fängt das Brennen an, erst in deiner Kehle und am Ende überall. Du kannst nicht richtig sehen, deine Augen und gefühlt alles an dir weigert sich, weiterzuarbeiten. Die Kraft geht dir aus, deine Augäpfel stehen in Flammen. Sie lecken an deiner Kehle und bringen deine Lunge scheinbar zum Zerbersten, zum Platzen, weil der Druck zu groß wird. Es zerreißt dich und saugt dich aus, bis kein Funken Lebenswille mehr in dir ist.“

Er konnte nicht sehen, dass ihr Tränen in den Augen glitzerten. Sein Atem stockte.

Plötzlich klopfte es dreimal zaghaft an der Tür. Sergio war so naiv, zu glauben, dass nun endlich Hilfe käme, doch Olivia wusste es besser. Ruckartig und ohne zu zögern, nahm sie das Messer von seinem Hals, jedoch nur, um ihm daraufhin einen Finger abzuschneiden. Ihm blieb kaum die Zeit, zu schreien, weil sie seinen Moment des Schocks ausnutzte und zur Tür eilte, um diese aufzuschließen.

Wenige Augenblicke später hielt sie erneut das Messer an seine Kehle. „Schrei und du bist auf der Stelle tot!“

Blut floss über seine Finger und bildete eine kleine Pfütze am Boden. Der Schmerz betäubte seine Hand, während er nach Luft schnappte. Das hatte er ihr ehrlich gesagt nicht zugetraut. Solche Kaltblütigkeit ließ ihn erkennen, wozu sie fähig war und dass sie längst kein wütendes, kleines Mädchen mehr war, sondern eine sich rächende, junge Frau.

Und er bekam es mit der Angst zu tun.

Arians Mädchen betrat nun den Raum und schlug sich eine Hand vor den Mund beim Anblick des abgehackten Fingers, der in der roten Pfütze lag. Sie strauchelte und schaute so verschreckt drein, dass Olivia schon befürchtete, sie hätte sie vollends traumatisiert.

„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, sagte sie beruhigend. Sergio wimmerte indes besonders laut. „Er ist nur eine extrem große Memme, nicht wahr?“

Abwartend schaute Olivia ihn an, doch er zischte lediglich: „Du bist tot!“

„Irgendwann werde ich sicherlich sterben, aber du garantiert vor mir. Und zwar jetzt, Sünder!“

Das Mädchen schloss auf Olivias Anweisung hin die Tür ab und reichte ihr die Seile, die sie aus der Kommandobrücke besorgt hatte. Die Fasern fühlten sich rau und robust an, Olivias Finger umschlossen den Strick. Dann griff sie nach dem Klebeband, welches das Mädchen ebenfalls mitgebracht hatte, und klebte es Sergio großzügig über den Mund. Das alles geschah, ohne dass sich das Messer von seiner Haut wegbewegte. Nachdem das Mädchen ihn auf Olivias Aufforderung hin an Händen und Füßen gefesselt hatte, trat es ein paar Schritte zurück und Olivia betrachtete ihr Werk. Ja, er würde leiden. Lang und qualvoll würde er durch dasselbe durchmüssen wie sie einst. Olivia fand, es war allmählich an der Zeit, ihn in ihre Pläne einzuweihen. „Jetzt beginnt der spaßige Teil, mein Freund! Ich werde dich nämlich auf den Boden des Harfenbeckens sinken lassen. Die Welt ist ohne dich besser dran, Sergio.“

Endlich begriff er und die Angst legte sich um ihn wie ein seidiges Band, das immer fester gezurrt wurde und jegliche Hoffnung aus ihm herausquetschte. So schaffte sich Platz für die Panik, die Furcht und die Aussichtslosigkeit, mit denen er gerade Bekanntschaft machte. Sergio wand sich und schrie, doch es brachte ihm nichts. Er konnte sich nicht befreien und seine Schreie waren gedämpft und leise – zu leise, um gehört zu werden.

Olivia öffnete die Glastür zu einer kleinen Fläche, die nur wenige Zentimeter über dem Wasserspiegel lag. Sanft strich eine nächtliche Windböe ihr die Haare aus dem Gesicht, während sie das Wasser beobachtete, in dessen Oberfläche sich der fast gänzlich aufgegangene Mond spiegelte.

„Geh und begib dich auf direktem Weg zu der Adresse, die ich dir genannt habe! Klingel, dann wirst du hereingelassen, und sag dem Mann, der dir die Tür öffnet, was passiert ist und dass du von mir kommst.“ Sie drehte sich dem Mädchen zu, während sie es anwies. „Ich komme nach, sobald ich hier fertig bin.“

Damit verließ das Mädchen den Raum. Olivia schloss hinter ihr erneut ab, bevor sie sich mit einem düsteren Lächeln auf den Lippen ihrem gefesselten Bekannten zuwandte. „So, Sergio, und nun zu dir.“ Langsam schritt sie auf ihn zu, warf ihn mit einem dumpfen und wohl auch schmerzvollen Stoß zu Boden und rollte ihn in Richtung des sich wölbenden Wassers. Er strampelte oder versuchte es zumindest. Panik zerrte an ihm und Angst fraß sich bis in seine schwarze Seele vor. Er war überrascht, als sie ihn nahe am Rand der tiefer gelegten Plattform wieder aufstellte, wie ein fertig verpacktes Paket kurz vor der Versendung. Danach lief sie wieder ins Zimmer hinein, genauer gesagt an dessen Ende. Sie nahm eine Anlaufposition ein wie ein Sprinter, kurz bevor das Signal zum Start ertönte. Ihre nächsten Worte breiteten sich in der Luft aus wie ein Riss in einem zugefrorenen See, der die kalte Oberfläche jeden Moment zum Einbrechen bringen würde.

Und Sergio stand mitten darauf.

„Du wirst genau das Gleiche fühlen wie ich, den gleichen Schmerz, das gleiche Leid, mit dem kleinen Zusatz, dass du es nicht überleben wirst. Weißt du, ich wollte eine normale Kindheit, ein glückliches Leben und eine liebende Familie.“ Kurzzeitig schlug ihre Stimmung in Trauer um. „Tja, man kriegt eben nicht immer, was man will.“ Wut hielt die Zügel wieder in der Hand. „Die Welt gab mir euch: keine normale Kindheit, kein glückliches Leben und vor allem keine liebende Familie.“

Sie reckte den Kopf, während Kälte sich in jeder einzelnen ihrer Zellen ausbreitete. „Ich bin grausam, rücksichtslos, gefährlich und vor allem unfähig, zu lieben oder gar zu verzeihen. Aber weißt du, was ich noch bin?“

Ein Wort schoss durch die Stille. „Wütend!“

Jetzt fixierte sie Sergio. „So wütend. Ich will Rache. Rache, die ich mir genau jetzt hole. Richte dem Teufel schöne Grüße von mir aus, Sergio!“

Kaum hatten diese Worte ihren Mund verlassen, nahm sie Anlauf und stürzte sich auf ihn. Zusammen fielen sie platschend ins Wasser. Das kühle Nass umschloss Olivias Körper, und als sie die Augen öffnete, nahm sie mit Genugtuung wahr, wie Sergios Silhouette sich windend in die dunkle Tiefe sank. Sie war sogar noch so dreist und winkte ihm zum Abschied hinterher.

Dann tauchte sie an der Jacht vorbei, schwamm zum Hafenrand und stieg dreißig Meter weiter im Mantel der Dunkelheit aus dem Wasser. Ihr Kleid klebte noch mehr als ohnehin schon an ihr, als sie sich barfuß auf den Heimweg machte. Olivia drehte sich um die eigene Achse und lachte in die Nacht hinein. Wie wild wirbelte sie umher vor lauter Glücksgefühlen. Die Hände über dem Kopf drehte sie sich um sich selbst und lachte so laut, dass ein paar Tauben erschreckt aufstoben. Ihr befreites Lachen hallte in der Dunkelheit noch nach, während sie im Mondschein nach Hause tanzte.

Glock 17

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