Читать книгу Glock 17 - Emely Bonhoeffer - Страница 26

Szene 22:

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Im Moment war scheinbar alles etwas viel für sie. Olivia wusste, Leyre würde einige Zeit brauchen, um ihre grausame Lebensgeschichte oder zumindest den Teil, den sie nun kannte, vollständig zu verarbeiten. Umso überraschter war sie, als Leyre nun ansetzte, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Olivias Worte hatten sie nicht verschreckt, sondern ihr gezeigt, dass sie nicht die Einzige war, der ein grausames Schicksal widerfahren war.

So begann sie mit erstaunlich fester Stimme zu erzählen: „Wir hatten nicht viel, aber mit dem wenigen, das wir besaßen, waren wir zufrieden. Immerhin hatten wir uns.“

Ihr Blick schweifte ins Leere und sie fuhr mit einer Stärke fort, die Olivia ihr nicht zugetraut hätte.

„Ich wuchs in einer armen Gegend in der Nähe von Barcelona auf, doch vom Glanz der Hauptstadt Kataloniens konnte ich meistens nur träumen. Stattdessen prägten eine viel zu kleine Ein-Zimmer-Wohnung, Eltern, die von früh bis spät arbeiteten, damit ich keinen Hunger leiden musste und zur Schule gehen konnte, und der Gestank der Gossen meine Kindheit.

Doch einmal im Jahr, an meinem Geburtstag, nahm sich mein Vater den Tag frei und wir fuhren mit dem Bus zu einem spanischen Zirkus, der außerhalb Barcelonas sesshaft geworden war. Für diesen einen Tag durfte ich die Probleme des Alltags hinter mir lassen und mich in der magischen Atmosphäre des Zirkuszelts verlieren. Das Beste kam dabei immer zum Schluss: Nach der Vorstellung konnten wir uns die Tiere angucken, sie streicheln und füttern.“

Tränen schimmerten in ihren Augen bei der Erinnerung an das Glück dieser vergangenen Tage.

„Ich weiß noch genau, wie mein Vater mich als kleines Mädchen immer auf seine Schultern gesetzt hat, damit ich mit meinen Händen auch die ganz großen Elefanten berühren konnte. Durch ihn wurden sie zu meinen Lieblingstieren.“

Olivia spürte unter all ihren Gefühlen eine gewaltige, elementare Trauer bei Leyre sitzen, die einen tieferen Grund hatte. Doch sie musste noch nicht mal fragen, ihr Gast verriet es ihr ganz von selbst.

„Ich stand kurz vor meinem 13. Geburtstag und hatte mich wie jedes Jahr so unglaublich auf diesen Tag und den Zirkus mit seinen Tieren gefreut, als ein einschneidender Vorfall alles veränderte.“

In einer kurzen Pause sammelte Leyre Kraft.

„Mein Vater brach vor meinen Augen zusammen und ich musste den Notarzt rufen. Natürlich brauchte er viel zu lange, um anzurücken, und so konnte ich meinen Vater nur im Arm halten und ihm dabei zusehen, wie er mich verließ.“

Beeindruckt von ihrer plötzlichen Kraft konnte Olivia sie nur anstarren. Es passierte nicht oft, dass ihr die Worte fehlten. Sie war nicht mal fähig, ihr Beileid auszudrücken. Ungeachtet dessen, was Leyre gerade über die Lippen gekommen war und wie grausam es für sie gewesen war, dem eigenen Vater beim Sterben zuzusehen, sprach sie weiter.

„Krebs im Endstadium. Sie hätten, selbst wenn sie sofort da gewesen wären, rein gar nichts für ihn tun können. Natürlich war mir bereits seit einiger Zeit bewusst gewesen, dass etwas mit ihm nicht stimmte, aber ich dachte, die Arbeit würde ihm so zu schaffen machen, und in meiner Naivität habe ich angenommen, es würde irgendwann einfach wieder weggehen. Wir hatten nämlich nicht das Geld, zum Arzt zu gehen. Ich meine, wir waren weder versichert, noch konnten wir es uns leisten, dass mein Vater seine Stelle verlor. Jegliches Geld steckten sie in mich und meine Schulbildung. Das sollte der Schlüssel zu einem besseren Leben für mich sein.

Ich war damals zu jung, um vollständig zu begreifen, was es für uns hieß, wenn mein Vater nicht mehr da war. Mental und lebenstechnisch.

Und ich war zu alt, um diese grauenhaften Stunden zu vergessen, in denen ich ihn mit meinen Armen umklammert hielt und ihn anflehte, nicht zu gehen.“

Wie in Trance starrte sie auf einen unsichtbaren Fleck an der Wand und bemerkte nicht, wie Olivia nach ihrer Hand griff und sie sanft drückte.

„Das Überleben wurde viel schwieriger ohne ihn, nicht nur, weil uns dadurch jeden Monat eine Menge Geld fehlte, die wir dringend brauchten, auch, weil ohne seine liebevolle Unterstützung und seine kleinen Witze hier und da der Alltag trist und grau wurde. Alles überschattet von der Trauer, ihn nicht mehr bei mir zu haben. Er hatte ein riesiges Loch hinterlassen, das meine Mutter nicht füllen konnte, so sehr sie sich auch bemühte. Um uns durchzubringen, arbeitete meine Mutter nun Tag und Nacht und gönnte sich kaum eine Pause. Meine Schule kostete sie das meiste und je älter ich wurde, desto mehr aß ich auch. Irgendwann suchte ich mir eine Arbeit nebenbei, um sie zu unterstützen und um etwas Geld für mein Vorhaben anzuhäufen: Denn obwohl mein Vater tot war, wollte ich unser jährliches Ritual nicht einfach so vergessen, sondern die Erinnerung an ihn dadurch aufrechterhalten.

Ich kaufte mir zu meinem 14. Geburtstag von dem Geld, das ich das Jahr über beiseitegelegt hatte, ein Ticket für den Zirkus. Meine Mutter war zu beschäftigt, um mitzukommen. Dass mein Vater nicht mehr dabei sein konnte, war aber nicht die einzige Veränderung gewesen, auf die ich damals stieß.“

So lange am Stück geredet hatte Leyre bis jetzt noch nie und so wollte Olivia sie auf keinen Fall unterbrechen und verhielt sich absolut ruhig.

„Als ich mich an diesem Nachmittag zu den Tieren schlich, um sie zu streicheln, saßen sie nur traurig in ihren Käfigen und schauten mich trostlos an. So hatte ich es nicht in Erinnerung gehabt. Normalerweise waren sie munter, fröhlich und laut.

Ich hatte die Hand gerade nach dem Elefantenbaby ausgestreckt, um es mit einer Streicheleinheit aufzuheitern, als mich jemand am Arm packte und von ihm wegzerrte. Schreiend trat ich um mich, doch der fremde Mann zischte mich nur wütend an, ich solle bloß nie wieder versuchen, abzuhauen. Er hielt mich für eine entlaufene Sklavin. Der Zirkus hatte sich verändert, ja, das hatte er. Vorher war er ehrlich gewesen, aber mittlerweile war er zur Tarnung für einen Menschenhändlerring geworden … Der Mann verschleppte mich und verkaufte mich ans Kartell.“

Wie es dann weiterging, konnte Olivia sich bestens selbst denken. Es schien, als ob auch Leyre es bei der Erinnerung daran mit der puren Angst zu tun bekam.

„Dieser Ort …“, brachte sie unter Zittern hervor.

„… ist die Hölle“, beendete Olivia ihren Satz.

Geistig ging sie Leyres Erzählung noch mal durch, konnte aber keine Unstimmigkeiten finden. Alles ergab Sinn. Es schien der Wahrheit zu entsprechen und Olivia glaubte ihr – nicht zuletzt, weil sie es unbedingt wollte. „Alles in Ordnung bei dir? Denk daran: Du musst da nicht wieder hin, nie wieder.“

Dankbar sah Leyre sie an und Olivia spürte, dass sie ihr mit allen Mitteln helfen wollte, mit diesen schrecklichen Erinnerungen fertigzuwerden. Sie fühlte sich verantwortlich für sie. „Ich kümmere mich um dich, das verspreche ich dir.“

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Ich kann mir vorstellen, wie schwer es für dich sein musste, mir das alles zu erzählen, und ich danke dir dafür.“

Sie hatte nicht wirklich eine Ahnung davon, wie man in so einer Situation mit einem Menschen umging. Gerade betrat sie absolutes Neuland. Olivia fühlte sich wie ein Wanderer auf einer alten Brücke, der nicht recht wusste, wo er mit seinem Fuß als Nächstes hintreten sollte, aus Angst, eine morsche Latte zu erwischen, die unter ihm nachgab und ihn in die Tiefe fallen ließ.

„Reicht dir das, um mir zu vertrauen?“, fragte Leyre vorsichtig.

„Absolut“, erwiderte Olivia, „du musst nicht weitererzählen, wenn du nicht willst. Das war schon mehr als genug. Ich bin zwar überzeugt, dass deine Absichten gut sind, aber Vertrauen braucht Zeit zum Wachsen. Im Leben musste ich schmerzhaft lernen, dass jeder, egal, was er für dich bereits getan hat oder wie sehr du glaubst, dass er ein guter Mensch ist, dich hintergehen kann, also verzeih mir, wenn ich eine Weile brauche, um dir vollständig zu vertrauen.“

Leyre zeigte sich einsichtig. Olivia wollte ihr so sehr trauen. Eine Freundin, eine Vertraute in ihr zu finden, war einer ihrer sehnlichsten Wünsche, aber sie durfte sich von ihren Wünschen nicht blenden lassen. Sie musste wachsam sein, absolut immer, denn eine Sekunde Unachtsamkeit konnte ihr das Leben kosten.

Bereits eine morsche Latte konnte sie in die Tiefe stürzen lassen.

Glock 17

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