Читать книгу Glock 17 - Emely Bonhoeffer - Страница 9
Szene 4:
ОглавлениеUm 21 Uhr verließ sie das Appartement in einem dunkelroten Minikleid, das ihre glänzende, dunkelblonde Wellenpracht betonte. Ein Blick in den Spiegel bestätigte, was sie bereits wusste: Sie sah umwerfend aus.
Beim Club angekommen zeigte sie ihren gefälschten Ausweis, aber der Türsteher hätte sie auch ohne hineingelassen. Der groß gewachsene Mann strahlte sie an. Indem er das rote Band der Absperrung für sie öffnete, gewährte er ihr Eintritt in einen der exklusivsten Clubs der Stadt.
Ihre High Heels schimmerten im Licht der Nacht blutrot und ihre Hüften schwangen unter dem engen Kleid, während geballte Stärke sich in ihr sammelte, um auf ihren Einsatz zu warten. Mit Zielstrebigkeit und einem teuflischen Glitzern in den Augen betrat sie die Höhle des Löwen.
Im Club war es brechend voll. Lichter wirbelten über die hohe Decke und die Musik, die mit voller Lautstärke aus den Lautsprechern hämmerte, übertönte beinahe alles. Ein Schmunzeln schlich sich auf ihre Lippen. Ihr gefiel es hier.
Eines musste sie Lamero und Ricardo lassen: Sie besaßen Stil. Trotzdem mussten sie heute bezahlen.
Ihr Blick glitt über die dunkle Masse aus dicht nebeneinander tanzenden Menschen und sie entdeckte die beiden wie erwartet in einer Sonderecke des Clubs, umgeben von leicht bekleideten Frauen und mit mehreren Gläsern Alkohol vor sich. Von dem Anblick wurde ihr schlecht und ihre Miene verhärtete sich für einen Moment. Olivia mischte sich erstmal unter die Tanzenden, immerhin wollte sie hier ebenfalls ihren Spaß haben.
Auf der Tanzfläche blieb sie auch nicht lange allein. Als Erster kam ein Achtzehnjähriger auf sie zu, der schon sehr betrunken wirkte und an sie herantanzte, während er in ihr Ohr lallte. „Hey, Süße, ich habe dich beobachtet. Ich glaube, wir hätten viel Spaß zusammen. Wollen wir nicht verschwinden und herausfinden, ob ich recht habe?“
Sein Atem kitzelte die Haut unter ihrem Ohr, aber sie reagierte darauf nicht. Naiver Junge, dachte sie sich nur, du wirst schon sehen, was es dir bringt. Langsam drehte sie sich zu ihm um und zog ihn noch näher an sich heran.
„Aber ich kenn dich doch gar nicht.“ Ihre Worte klangen unschuldig, doch sie täuschten. Ein unschuldiges, kleines oder leichtgläubiges Mädchen war das Letzte, das sie war.
Daraufhin lachte er, und noch während er eine seiner Pranken an ihre Taille legte, zog er sie bestimmend von der Tanzfläche. Sie ließ es geschehen. So bereitete es ihr erheblich mehr Vergnügen.
In einer entfernten Ecke am Rande des Clubs, wo die Musik noch immer vieles übertönte, es aber etwas leiser war, drückte er sie gegen die nächstbeste Wand, beugte sich zu ihr herunter und begann, sie zu küssen. Nicht romantisch, aber energisch und fordernd. Sie hatte schon schlechtere Küsse über sich ergehen lassen. Ihre Lippen erwiderten seine nicht gerade prickelnd, aber er dürstete nach mehr. Das war meistens der Effekt, den sie auf Männer ausübte. Manchmal zu ihrem Vorteil und manchmal, an den düsteren Tagen in ihrer Vergangenheit, war es ihre Verdammnis gewesen.
Nach einer Weile wurde er gröber und plötzlich zeigten sich längst verdrängte Bilder vor ihren Augen, die sie innerlich erschrecken ließen. Erinnerungen, die nicht zu ruhen gedachten, die Tag und Nacht in ihrem Kopf umhergeisterten. Die Schatten ihrer Vergangenheit, mit der sie endlich abschließen wollte. Sie quälten sie, doch in diesem Moment erinnerten sie Olivia an ihr Vorhaben für heute Abend.
Geschickt drehte sie ihn so, dass er mit dem Rücken zur Wand stand, und vertiefte den Kuss, was ihm zu gefallen schien. Als er eingenommen von ihr kaum noch atmete, löste sie sich schließlich von ihm. Der Kerl blickte zunächst verwirrt drein und wollte sie dann erneut küssen, doch bevor er auch nur den Hauch einer Gelegenheit dazu hatte, rammte sie ihm ihr Knie in die Stelle, an der er besonders empfindlich war. Vor Schmerzen krümmte er sich zusammen. Der Gesichtsausdruck, der ihr Antlitz zierte, war komplett teilnahmslos. Irgendwie musste sie ihn schließlich loswerden.
Da die Ecke beinahe in völliger Dunkelheit lag und nur hin und wieder von einem der wandernden Scheinwerfer kurz und schwach erleuchtet wurde, bemerkte sie niemand. Der Junge lag am Boden und sie betrachtete ihn von oben. Morgen würde er sich kaum noch daran erinnern können, dafür würde der Alkohol in seinen Adern schon sorgen. Und in Anbetracht der Umstände war das äußerst vorteilhaft.
Ein letztes Mal beugte sie sich zu ihm hinunter. Während sie ihm in die weit aufgerissenen Augen blickte, erklärte sie: „Sorry, Süßer, aber ich bin nicht wegen dir hier.“
Achtlos ließ sie ihn am Boden liegen und steuerte wieder auf die Mitte der Tanzfläche zu, die im Blickfeld von Lamero und Ricardo lag. Schließlich war Spaß nicht ihre oberste Priorität gewesen, als sie den Club betreten hatte. Reizvoll bewegte sie sich zum Rhythmus der Musik, und obwohl sie ihre beiden Feinde beobachtete, war sie innerhalb weniger Augenblicke schon wieder von Interessenten umringt, an die sie jedoch keinen Blick verschwendete.
Als sie erspähte, wie Lamero jemanden zu sich rief und ihm diskret einen Zettel zusteckte, wusste sie bereits, dass der für sie gedacht war. Und sie wusste auch, dass Lamero es noch bitter bereuen würde, ihn geschrieben zu haben.
Jetzt fängt der amüsante Teil des Abends an, schoss es ihr durch den Kopf, während der Überbringer sich durch die dichte Menschenmenge einen Weg zu ihr bahnte. Er war ungefähr in ihrem Alter und hatte eine charakteristische Narbe an seiner Schläfe. Dieses Motiv würde sie überall wiedererkennen. Sie zeichnete nämlich dasselbe. Nicht im Gesicht, ihre Narbe war größer und sie besaß sie aus anderen Gründen, aber es war das gleiche Zeichen. Weil es bei ihm zwar im Gesicht, aber nicht eindeutig sichtbar lag, vermutete sie, es war die Bestrafung für eine Dummheit oder einen mittelmäßigen Fehler gewesen.
Bei ihr angekommen überreichte er ihr das Stück Papier, welches sie grob überflog. Zwischen ihren Fingern fühlte es sich wie Feuer an, denn das, was sie mit Hilfe dieser Einladung nun tun konnte, war gefährlich und unberechenbar wie ein loderndes Flammenspiel.
Wenn sie diesem Typen folgen sollte, wenn sie diesen Pfad einschlagen sollte, konnten die Flammen entweder ihre Widersacher oder, wenn der Wind sich drehen sollte, auch sie selbst verschlingen. Doch Rückzieher waren nicht ihre Art, solange sie ein Ziel vor Augen hatte.
Dem Boten war, obwohl er sich bemühte, es zu verstecken, aus dem Gesicht abzulesen, dass er sie am liebsten für sich allein gehabt hätte. Wie leicht Kerle doch zu durchschauen waren. Fast hätte sie gelacht – aber nur fast. Stattdessen lächelte sie unheilvoll und folgte dem Mittelsmann durch ein paar spärlich beleuchtete Gänge in eine Privatlounge.
Rache war, wonach sie trachtete, und dafür würde sie jeden noch so verworrenen und dunklen Pfad einschlagen.
Zeit, alte Rechnungen zu begleichen.
Olivia wurde in ein lichtloses Hinterzimmer gebracht, das mit einigen schwarzen Chaiselongues und einem Podest samt Stange ausgestattet war. Trotz der edlen Möbel hatte dieser Raum etwas an sich, das sie an die ruchlose und schmutzige Atmosphäre des Kartells erinnerte. Ihre Haut reagierte auf dieses groteske Flair mit einem Prickeln, als würden winzige Stromstöße über sie wandern. Olivia wehrte die Erinnerungen, die jederzeit bereit waren, an die Oberfläche zu kommen, gekonnt ab und begrüßte stattdessen eine gewaltige Vorfreude und Aufregung.
Lamero ließ nicht lange auf sich warten. Einige Augenblicke vergingen und dann trat eine der Zielpersonen dieses Abends endlich ein. Er trug ein locker sitzendes Seidenhemd, dazu ein offenes Jackett und eine Anzughose, die genau wie sein Haar anthrazitschwarz waren. Sein Dreitagebart unterstrich seine harten Züge. Sein dreckiger Blick glitt an ihr herab und mit jeder Sekunde wurde sein krankes Lächeln größer.
Er würde sie nicht erkennen. Oder doch? Nein, denn für Zweifel war in ihrem Leben kein Platz, wenn sie gewinnen wollte. In diesem Spiel, das keine Regeln kannte und in dem einem jedes Mittel recht sein musste, um zu siegen.
Er wies sie an, sich zu setzen, doch sie schüttelte nur stumm den Kopf und bedeutete ihm stattdessen, sich niederzulassen. Das tat er auch.
Showtime, dachte sie sich nur, als sie auf das niedrige Podest stieg und anfing, um die Stange herum zu tanzen. Ihre Arme schlang sie um das Metall über ihrem Kopf und ihre Hüften sprachen ihre eigene Sprache. Schnell merkte sie, dass es seine Wirkung nicht verfehlte. Lameros Augen weiteten sich und er rückte immer weiter nach vorne. Zentimeter um Zentimeter näher an seine potenzielle Mörderin heran, bis er unmittelbar vor der Erhebung kniete, den Blick nicht von ihr wendend. Die Sekunden zogen sich hin und die Luft lud sich auf. Wie eine Maus, die nur den Käse bemerkt und nicht nach rechts und links blickt, hockte er in ihrer Falle. Sie musste nur noch zuschnappen. Olivia biss sich auf die Lippe und das war der Moment, in dem das Verlangen übermächtig wurde, in dem für die dumme Maus nur noch der Käse zählte, das Gebilde außen herum ausgeblendet wurde und er sich nicht mehr halten konnte. Lamero preschte nach vorn, drückte sie gegen den Stab und begann, sie wie wild zu küssen, während seine Hand oben anfing und immer weiter nach unten wanderte.
Kurz stockte ihr der Atem und der Raum schien kleiner zu werden, doch sie fing sich schnell wieder. Es dauerte nicht lange und die Wut über seine Taten war wieder in ihr, entfacht durch einen einzigen, fordernden Kuss. Rasend pulsierte sie, erweckte ihre ganze Kraft und als sein Atem sie erneut traf, wurde sie übermächtig und drohte, Olivia zu zerstören, wenn sie nicht freigelassen wurde.
Wie ein Sturm wütete sie hinter ihren dunklen Augen.
Und dann hielt sie nichts mehr zurück.
Sie riss ihn an den Haaren nach hinten, rammte ihren Ellbogen in seinen Hals, das Knie voller Wucht in seinen Bauch und während er aus seiner Starre erwachte, hatte sie ihn schon zu Fall gebracht. Mit einem dumpfen Knall landete er auf dem Boden, rappelte sich jedoch schnell wieder auf, während sie vom Podest sprang.
Beide liefen langsam im Kreis umeinander herum, wie zwei Feinde in einer Arena. Denn genau das waren sie. Blut rann aus seiner Nase und bedeckte Teile seines Kopfes und seines Gesichts. Er versuchte, nicht verwirrt zu wirken, doch sie konnte sehen, dass er sie noch nicht erkannt hatte. Dann konnte sie die Bombe jetzt genüsslich hochgehen lassen.
Ihren nächsten Worten verpasste sie einen spöttischen Unterton. „Lamero, voreilige Schlüsse zu ziehen, war noch nie eine kluge Idee von dir gewesen.“ Der Spott wich einer leichten Arroganz. „Wie gut, dass ich da anders bin.“
Wenige Sekunden bis zur Explosion.
„Eine der wenigen hilfreichen Eigenschaften, die ich von meinem Vater habe.“
Und boom.
Olivia legte eine Pause ein, bevor sie hinzufügte: „Aber das weißt du ja nur allzu gut.“
Einige Haarsträhnen fielen in ihr Blickfeld, während ihre Augen weiterhin jede seiner Bewegungen verfolgten. Ihr entging nichts. Das schnelle Heben und Senken seines Brustkorbes, der Unglauben in seinem Blick und besonders die Angst, von der er nun überschwemmt wurde.
Olivia blickte ihm in die weit aufgerissenen, in diesem Licht fast schwarz wirkenden Augen und redete einfach weiter. „Du erinnerst dich. Das ist wirklich gut für mich, aber weißt du, was wirklich schlecht für dich ist? Wenn man außer Acht lässt, dass ich stärker denn je und ganz offensichtlich nicht zum Kuscheln hierhergekommen bin?“
Spaß hatte sie an dieser Situation definitiv. Auf eine Antwort wartete sie erst gar nicht, weil sie aus seinem geschockten Gesicht ablesen konnte, dass er nicht in der Lage war, ihr zu antworten.
„Ich kann mich auch erinnern …“
Ihre Augen funkelten wie geschliffene Diamanten.
„… an absolut alles.“
Bilder fluteten ihren Kopf.
„An jede grausame Sekunde, in der ich gelernt habe, das Wort ‚Schmerz‘ ganz neu zu definieren.“
Ihre Vergangenheit hatte zwar Narben hinterlassen, doch das ließ sie nicht von ihrem Plan abkommen. Unbemerkt holte sie hinter ihrem Rücken ein Messer hervor, dessen Klinge im dumpfen Licht bedrohlich glitzerte. Jedes ihrer Kleider besaß unauffällige, eingenähte Taschen, in denen sie kleinere Waffen verstecken konnte. Mit der Hand umschlang sie den Griff des Messers langsam, aber sicher. Er hielt währenddessen ihrem vernichtenden Blick stand.
„Ich spüre deine dreckigen kleinen Finger heute noch auf mir. Meine Schreie hallen heute noch in meinen Kopf nach und die Qual, mit der du mich als Erster bekannt gemacht hast, wird mich vielleicht nie wieder loslassen. Du warst der Allererste. Sozusagen der Schütze, der die Jagdsaison eröffnet hatte. Aber wer denkt an das Reh, das aus seinem schönen, unbehelligten Leben gerissen wird? Keinen von euch hat es jemals interessiert, welchen körperlichen und seelischen Höllenqualen ihr mich ausgesetzt habt. Aber weißt du, was das Schlimmste ist?“
Die Luft war zum Zerreißen gespannt.
„Ich kann es nicht vergessen.“ Das leichte Zittern, das ihre Worte begleitete, bemerkte er zum Glück nicht. „Nicht nur das, was du getan hast, sondern jeden einzelnen Tag, an dem ich zwischen Mauern aus Schmerz und Leid gefangen war. Es ist schon so tief in mir, hat sich festgeklammert und mein Herz zu Stein verwandelt. Ich muss die Erinnerungen verdrängen, sonst drohen sie, mich zu zerreißen. Und es braucht nur eins, damit sie Ruhe geben …“
Das bösartige Grinsen schlich sich an seine gewohnte Stelle, während sie weiterredete.
„Rache, Lamero.“
Ihre Worte schienen den Raum einzufrieren und jagten ihm eine ungewohnte Gänsehaut über den Rücken. Sie fasste das Messer fester. „Rache an allen. Dich eingeschlossen. Doch wie soll ich mich rächen, wenn ich doch will, dass ihr denselben Schmerz spürt wie ich damals?“
Die Antwort würde er wohl nie erfahren, denn sie nutzte den Moment der Ablenkung, in dem er sich zurückerinnerte, und schoss mit dem Messer in der Hand vor. In einer flüssigen Bewegung stach sie es ihm in die Brust, und als sie es umdrehte, ging er zu Boden. Blut spritzte auf die schwarze Wand hinter ihm und hinterließ Spuren ihrer Rache.
Während sie sich über seinen noch warmen Leichnam beugte, konnte sie das erste Mal seit Wochen wieder richtig einatmen. Sie genoss es und entspannte sich sichtlich, bis Schritte auf dem Gang hinter der Tür sie an ihr zweites Ziel für diesen Abend erinnerten.
Lameros schwerer, lebloser Körper hinterließ eine Blutspur auf dem dunklen Vinylboden, doch das kümmerte sie nicht, als sie seinen Leichnam hinter das Podest zog. Dann positionierte sie sich in der düsteren Ecke neben der Tür und wartete ab. Das Adrenalin begann erneut, ihren Körper zu fluten.
Die Schritte kamen näher und näher und ihr Herzschlag beschleunigte sich, während ihre Hand das leichte Messer weiterhin umklammerte. Blut tropfte von dessen Spitze wie die Körner einer Sanduhr, die von oben nach unten fielen und die Sekunden zählten, die Ricardo noch ruhig leben konnte. Schließlich öffnete sich die Tür. Olivia atmete angespannt ein und vernahm seinen herben Geruch nach Alkohol. Ricardo schloss die Tür vorsichtig, wie wenn er die Gefahr in diesem Raum, die von ihr ausging, bereits spürte.
Als er einen Schritt nach vorn machte, schabten seine Schuhe über den Boden, und das Geräusch, das sie dabei machten, war in der Stille des Raumes überdeutlich zu hören. Es hallte von den Wänden wider wie das Echo in einer riesigen Höhle.
In dem Moment, in dem er sich in ihre Richtung drehte, offenbar Lamero suchend, stürzte sie sich auf ihn, schnitt ihm tief in die Schulter und legte ihm sorgfältig die Schneide des Messers von hinten an den Hals. Er gab erstickte Laute von sich, doch verstummte, als sie fester zudrückte.
„Ricardo.“ Sie flüsterte seinen Namen fast. „War ja klar, dass ich auch dich hier finde.“ Kalt lachte sie in sein Ohr.
Dies war der Augenblick, in dem er sie erkannte. Sie und die Rache, die sie forderte. Die, die sie meinte, zu Recht zu verlangen.
Er blieb ruhig, weil er ahnte, dass sie bei der kleinsten Bewegung zustechen würde. Ricardo war clever und so wusste er in Sekundenschnelle, mit wem er es zu tun hatte und auch, dass sie ihn umbringen, vorher jedoch noch etwas loswerden wollte. Er ließ es zu. Schließlich war für ihn im Moment alles besser als der Tod, so viel wusste er.
„Lamero hat seine Strafe bereits erhalten.“
Er entdeckte die Blutspur auf dem Boden. Die Angst packte ihn. Er wollte noch nicht sterben, deswegen fing er an, sie herauszufordern, zu provozieren, zu überreden. Erbärmlich feilschte er um sein Leben.
„Wieso? Wieso willst du uns töten, Olivia?“ Ihren Namen spuckte er aus wie etwas Verdorbenes.
Erneut lachte sie. Ihr Atem traf sein Ohr, während ihm ein Schauer den Rücken hinunterlief. Er bereute die Frage bereits, als die Klinge seine Haut einritzte.
„Hast du es etwa vergessen? Was Lamero mir angetan hat, war zwar schrecklich, aber was du mir angetan hast, hat eine sichtbare Narbe hinterlassen, die ich nie wieder loswerde!“
Seine Angst war völlig neu für sie.
Völlig neu und so wunderschön.
„Jedes verdammte Mal, wenn ich meine Schulter anschaue, jedes einzelne Mal, wenn ich sie im Spiegel sehe, werde ich unfreiwillig an dich und die Schmerzen, die du mir zugefügt hast, erinnert. Es ist unverzeihlich, unvergessen und leider auch unauslöschlich. Nicht einmal die Zeit hatte die Macht, diese Wunde heilen zu lassen. Ich musste so viel durchstehen. Und wieso? Wegen euch!“ Der Zorn in ihrer Stimme war unüberhörbar. „Deshalb muss ich so weit gehen.“
Zuerst konnte sie seine Reaktion darauf nicht deuten, doch dann wurde ihr bewusst, dass es Abscheu war.
„Ich erwarte nicht, dass du es je verstehen wirst. Du hast es ja nicht am eigenen Leib gespürt. Das Leid, der Schmerz, der Hunger, die Einsamkeit und noch so vieles mehr zehren selbst an dem stärksten Kämpfer, saugen selbst aus den schwächsten Seelen noch den Rest Hoffnung, und der Schmerz, von ihm bin ich heute immer noch gezeichnet. Und du, du trägst deinen Teil dazu bei wie jeder andere dort auch.“
Das Messer grub sich noch tiefer in seine raue Haut, während sie zischte: „Und jetzt, Ratte, frag noch einmal, wieso ich mich nach Rache verzehre.“
Ein paar Zentimeter noch und sie würde ihm die heftig pulsierende Halsschlagader durchtrennen. Das Blut lief bereits in rot-glitzernden Schlieren an ihm herab und leckte am Boden, während der Strom immer stärker wurde.
„Ich kann erst wieder aufatmen und entspannt leben, wenn ich weiß, dass jede alte Rechnung beglichen ist. Ich will leben, doch bin gefangen in den Erinnerungen, die ihr geschaffen habt, wie in einem Käfig. Ich werde wieder frei atmen können, doch das wirst du nicht mehr mitbekommen. Denn Rache zu verlangen, ist das eine, aber sie zu bekommen, das andere. Keine Sorge, du wirst in der Hölle nicht lange allein bleiben.“ Mit diesen Worten schnitt sie ihm die Kehle durch und ließ ihn leblos auf den Boden prallen.
Die Genugtuung durchflutete sie kurz darauf wohltuend in einer einzigen großen Welle, nahm ihr für einige Momente die Schmerzen der Vergangenheit und erschuf in ihren Gedanken eine Zukunft ohne jegliche Form von Leid. Als sie tief einatmete, vernahm sie den Geruch von beglichenem Blut. Er heilte sie. Zumindest einen kleinen Teil ihrer zersplitterten Seele, doch das war für den Augenblick genug.
Lange brauchte Olivia nicht, um ihre Spuren verschwinden zu lassen. Niemand würde sie verdächtigen, wenn das Kartell die Leichen finden würde. Zwar war das Spurenverwischen nie ihre größte Stärke gewesen, doch sie hatte Mittel und Wege gefunden, es genauso gut zu erledigen wie ein Profi.
Als sie die Tür öffnen wollte, konnte sie das glückliche Lachen, das ihre Kehle hinaufschlich, nicht mehr zurückhalten. Und so lachte sie. Getragen vom Adrenalin hallte es von den Wänden des Raumes wider und fühlte sich an wie der erste Schluck Wasser nach einer langen Dürre. Es tat ihr gut.
Dann trat sie mit ernster Miene hinaus. Entscheidend war nun, schleunigst zu verschwinden. Aus sicheren Quellen wusste sie, dass im gesamten Club, wieso auch immer, keine Kameras vorhanden waren. Dennoch war das Zimmer hinter ihr zum Tatort geworden. Klugerweise hatte sie ein Kleid an, dessen Farbe sich mit den Blutspritzern auf ihm reibungslos deckten.
Immer noch erfüllt von innerlicher Freude machte sie sich auf den Weg zum Ausgang. So endete der Tag doch gut.
Die Menschenmasse auf der Tanzfläche war dichter und um einiges größer geworden, was es ihr zusammen mit der lauten Musik nicht leicht machte, sich hindurchzukämpfen. Doch sie war es gewohnt, zu kämpfen.
Wenigstens das, eine sinnvolle Sache, hatte ihre Vergangenheit ihr beigebracht. Sie hatte Olivia geprägt, ihren Geist geformt und sie vieles gelehrt, doch sie hatte es nie geschafft, ihren Willen vollständig zu brechen.
Und niemals würde sie das, so viel war sicher.
Plötzlich rempelte sie jemand an, sodass sie gedankenversunken nach hinten stolperte. Sofort setzte sie zur Attacke auf den unmöglichen Idioten an. Sie hielt ihn am Arm fest und drehte ihn zu sich um, während sie gegen den Lärm der Musik anschrie. „Hey, Vollidiot! Hast du etwa keine Augen im Kopf?!“
Als sie ihn sich genauer anguckte, bemerkte sie erschrocken, dass es Zayn war. Zayn, der überhebliche Typ von heute Mittag. Er trug eine Jeans und ein lockeres, weißes Shirt, welches seine Silhouette betonte. Schockiert musste sie zugeben, dass er echt gut aussah. Das mahagoni-farbene Haar fiel ihm in die Stirn und brachte seine saphirblauen Augen betörend zur Geltung. Das war ihr heute Mittag gar nicht aufgefallen. Auf einen Schlag wirkte er ganz anders auf sie.
Davon ließ sie sich aber nur kurz beirren. „Zayn, dass du keine Augen im Kopf hast, hätte ich mir ja denken können. Trotzdem wundert es mich, wie du in diesen Club gekommen bist. Welche kreativen Beschuldigungen gegen den Türsteher musstest du dir dafür denn ausdenken?“
Amüsiert funkelten ihre Augen. Sie liebte es, zu spielen. Besonders mit Jungs wie ihm. Olivia sah die Überraschung in seinem Blick kurz aufflackern, bevor er etwas tat, womit sie nicht gerechnet hatte: Er lachte.
Unwillkürlich lief ihr ein wohliger Schauer über den Rücken, während der Laut seines Lachens in ihr ein warmes, angenehmes Gefühl auslöste. Sie war verwirrt von sich selbst. So etwas fühlte sie sonst nie. In ihrem hasserfüllten Leben fand sich dafür schlichtweg kein Platz. Kurzzeitig war sie sprachlos.
Zayn konterte währenddessen allzu selbstbewusst: „Was ist? Habe ich dir etwa die Sprache verschlagen? Wenn allein mein Aussehen dich derart fesselt, was wirst du dann erst machen, wenn ich dich mit meinem Charme vollkommen eingenommen habe?“ Herausfordernd blickte er sie an.
Zwar wirkte er wirklich fesselnd auf sie, aber so ließ Olivia nicht mit sich reden! Sie setzte zum Gegenschlag an. „Du sollst Charme besitzen? Vielleicht siehst du gut aus, aber bevor du mit dieser Gewissheit dein Ego aufpolierst, sag ich dir jetzt mal was: Ich werde dich stets als den Kerl in Erinnerung behalten, der zum Rektor gerannt ist, weil er von einem Mädchen geschlagen wurde.“
Eins zu null für Olivia.
Als sie sich bereits zum Gehen wandte, hielt sie nochmals inne und setzte einen krönenden Abschluss oben drauf. „Übrigens, ich lasse mich nicht fesseln.“
Schließlich zwinkerte sie ihm zu, bevor sie sich umdrehte und den Club verließ.
Über ihre merkwürdigen Gefühle konnte sie sich auch noch morgen Gedanken machen.