Читать книгу Glock 17 - Emely Bonhoeffer - Страница 7
Szene 2:
ОглавлениеSchien ganz so, als wären sie am Ende ihrer kleinen Tour angelangt. Olivia blickte sich um: Sie standen vor einer braun lackierten Holztür in einem breiten Schulflur.Der Schulleiter, der sie begleitete, hielt kurz inne, bevor er sich bei ihr zu guter Letzt noch erkundigte: „Sind Sie denn bereit?“ Während sie ein Lächeln unterdrückte, gab sie ihm eine Antwort. „Immer.“ Den verwunderten Blick des Rektors ignorierend drückte sie die Klinke nach unten. Geräuschlos öffnete sich die Tür zu ihrem Unterrichtsraum und ließ sie eintreten. Neugierige Augenpaare richteten sich auf sie – bereit, ihr jeden Fehler Tag für Tag vorzuhalten. Die Missbilligung ihrer Mitschüler prallte von ihr ab. Angst hatte sie keine. Wieso auch? Sie hatte sich schon unaussprechlich schlimmeren Dingen entgegenstellen müssen. Das Klassenzimmer war äußerst schlicht gehalten. Von der Bauweise her entsprach es dem Rest der Schule, die im viktorianischen Stil errichtet worden war. Es besaß eine hohe, gewölbte Decke und große Fenster, durch die aufgrund des verhangenen Himmels jedoch nur wenig Tageslicht in den Raum fiel. Der Lehrer, ein Mann mittleren Alters in brauner Faltenhose und Karo-Hemd, blickte sie freundlich an. Nach seiner Begrüßung wandte er sich an die Klasse. „Ihr kriegt eine neue Mitschülerin. Olivia White ist vor Kurzem neu hierhergezogen und wir freuen uns sehr, sie an unserer Schule willkommen zu heißen.“ Dann wies er ihr ihren Platz zu, hinten in der letzten Reihe. Ihr sollte es recht sein. Sie ließ den Blick über die Reihen aus Schülern schweifen, während sie ans Ende des Klassenzimmers spazierte, um sich dort auf einen freien Stuhl fallen zu lassen. Die erste Stunde verlief mit viel Getuschel und ein paar sowohl interessierten, als auch verachtenden Blicken. Da sie noch nie eine richtige Schule besucht hatte, hatte sie probiert, sich mit Hilfe realistischer Filme einen Eindruck von den unterschiedlichen Charakteren in einer Klasse zu bilden. Es würde sich noch herausstellen, ob dies wirklich hilfreich war. Ihre Mitschüler ließ sie die nächste Stunde lang außer Acht und lauschte dem Lehrer stattdessen, während er versuchte, sie mit Dingen vertraut zu machen, die Olivia bereits kannte. Das würde ja lustig werden, wenn sie hier Tag ein Tag aus nur zu hören bekäme, was sie schon alles wusste. Man konnte den Menschen aus ihrer Vergangenheit vieles vorwerfen, aber sie hatten doch schon sehr früh damit begonnen, ihr alles, was es zu lernen gab, beizubringen. Nicht nur das, was diese Institution einem eintrichtern sollte – und nicht immer nur Gutes. Aber sie war nicht hier, um etwas zu lernen, sondern weil es ein scheinbar notwendiges Übel darstellte. Obwohl sie wusste, dass ihr bester Freund ihr damit lediglich etwas Normalität schenken wollte, sah sie den Sinn dahinter noch nicht wirklich. Die herangerückte Pause bemerkte Olivia erst, als alle von ihren Stühlen sprangen und aus dem Klassenzimmer sprinteten. Das sah sie als Zeichen, ihnen in die großräumige Aula zu folgen, in der sich bereits viele weitere Schüler tummelten. Offenbar verbrachten sie die Pausen bei Regen, wie heute, im Inneren des Gebäudes. Pausen gab es bei ihr daheim im Kartell nie, dort hieß es nur: aufpassen, lernen, kämpfen – vierundzwanzig Stunden am Tag. Doch hier existierten sie: Zeiten der Ruhe und Entspannung. Und jeder verbrachte sie ein klein wenig anders. Viele aßen etwas, aber Olivia würde unter der konstanten Beobachtung ihrer Mitschüler keinen Bissen runterkriegen, dabei war sie eigentlich noch viel stechendere Blicke gewöhnt. Auch als die ersten Mitschüler probierten, sie blöd anzureden, erwiderte sie nichts, sondern ignorierte getrost. Als dann jedoch der erste Junge – eigentlich ganz gutaussehend – den Arm um sie legte und sie an sich zog, ließ sie das plötzliche Prickeln, das ihren Körper durch die Berührung erfasste, unbeachtet und zeigte ihm, dass es ihr nun reichte: Sie rammte ihm ihren Ellenbogen gezielt in die Magengrube. Dann löste sie sich von dem Jungen und boxte ihm so hart ins Gesicht, dass er zu Boden taumelte. Die restlichen Mitschüler wurden spätestens bei seinem Schmerzensschrei auf sie aufmerksam. Die Menschenmasse, die sie daraufhin umringte, spiegelte Entsetzen und Unglauben wider. Doch als Olivia der Szenerie den Rücken zukehrte und sich, weil es das Ende der besagten Pause war, auf den Rückweg zu ihrem Klassenzimmer begab, verwandelte sich das Entsetzen und der Unglauben in den Augen der anderen in Furcht, die sie allesamt zurückweichen ließ. Niemand wagte es, sich ihr in den Weg zu stellen. Eigentlich freute sie sich darüber, weil es ihr bereits am ersten Tag gelungen war, sich Respekt und Ehrfurcht zu verschaffen. Ihr Vater wäre vielleicht sogar stolz auf sie gewesen. Der Gedanke an ihn trieb ihr Tränen in die Augen. Seine eigene Tochter hatte er verraten. Er hatte ihr nicht geholfen und sie nicht beschützt, als sie es selbst nicht konnte. Ihm hatte sie ihr Leid erst zu verdanken. Zusätzlich war er fast nie da gewesen und ein vernachlässigender Vater konnte selbst das glücklichste Kind brechen. Als die Erinnerung an seine kalte Miene hochkam, fing die stetige, schwarze Leere in ihrem Inneren an, sich schmerzhaft auszubreiten. Um sich davon abzulenken, dachte sie noch mal über ihre Tat nach. Natürlich wusste sie, dass sie keinen Mitschüler schlagen durfte. Das würde Konsequenzen nach sich ziehen. So schlimm können sie aber nicht sein, war sie jedoch überzeugt. Am Ende des Schultages, an dem sie niemand mehr behelligt hatte, wurde sie wie erwartet noch zum Schulleiter beordert. Vor dem Zimmer des Rektors harrte sie zunächst für einige Augenblicke aus. Als sie schließlich hereingebeten wurde, stand ihr der Junge, verarztet und in seiner Würde verletzt, gegenüber und der ältere Schulleiter lehnte grübelnd hinter seinem Schreibtisch. Erst heute Morgen hatte er sie zu ihrem Klassenraum geführt und sie freudig als Neuzuwachs begrüßt. Nun schien er etwas ratlos. Der Anblick des Jungen entlockte Olivia ein Lächeln: Und das soll mal ein Mann werden? Dieser überhebliche Junge? „Nun denn, Olivia“, setzte der Rektor zu einer Erklärung an. „Ich bin mir sicher, du weißt, wieso du hier bist. Falls nicht, werde ich es dir nochmal sagen: Zayn bringt die schwere Beschuldigung gegen dich vor, du hättest ihn ohne Grund zusammengeschlagen…“ Weiter kam er nicht, weil sie entrüstet auflachte und ihn somit unterbrach. „Zayn behauptet? Und das glauben Sie?“ Trotz des erbosten Blickes des Schulleiters redete sie weiter. „Hat der Gute denn auch erwähnt, dass er mir in Form von unangebrachter Annäherung und Belästigung keine Wahl gelassen hat, als ihm seinen Grenzen aufzuzeigen? Oder dass er nicht gerade zögerlich war? Das hat er doch sicherlich auch erzählt.“ Zayn hielt ihrem erzürnten Blick wider Erwarten stand. „Ich bin mir bewusst, dass Gewalt keine Lösung ist, aber bei solchen Verhaltensweisen muss entweder die Erziehung oder die Aussage ‚Gewalt ist keine Lösung‘ überdacht werden. In diesem Fall war es eine. Vielleicht nicht die beste, aber das ist für mich in dieser Situation irrelevant gewesen. Also, falls Sie jemanden bestrafen wollen, fangen sie doch bei ihm an. Ich habe mich lediglich verteidigt.“ Nach einer Pause beendete sie die Unterhaltung kurz angebunden. „Wenn Sie mich nun entschuldigen würden. Ich habe heute noch zu tun.“ Sich im Recht wähnend ließ sie den seufzenden Schulleiter und den Jungen zurück. Ohne noch mal über die Schulter zu blicken, machte sie sich auf den Heimweg.