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Sie hob das Zeichenblatt hoch, blies den Kohlestaub fort und betrachtete das Bild. Gelungen. Vielleicht kein Meisterwerk, aber allemal gelungen, und nicht jeden Tag fielen das Handwerk, die Vorstellungskraft, die Inspiration, die innere Ruhe und Ausgeglichenheit in eine so vollkommene Harmonie, dass ein Meisterwerk zustande kam, manchmal musste und konnte sie sich auch mit einem gelungenen Bild zufrieden geben. Befand sich ein Bild auf dem Wege des Misslingens oder war es bereits gescheitert, so zögerte Selma Felder keinen Augenblick, es zu vernichten. Manchmal fand wochenlang kein Bild Zugang zu ihrer Sammlung, dann wieder zeichnete sie täglich Bilder, die ihren strengen Kriterien der Meisterschaft sehr nahe kamen oder diese gar erreichten.

Selma wiegte den Kopf. Dieses Bild durfte in die Sammlung, auch wenn es keine Glanzleistung darstellte. Berge, immer Berge, sie liebte die Berge und zeichnete sie, ausnahmslos, jedes ihrer Bilder zeigte Berge. Manche Höhenlinien erfand sie, manche malte sie vor der Kulisse echter Berge, manche aus dem Gedächtnis. Insbesondere der Bosruck hatte es ihr angetan. Die auffälligen Spitzen des Großen Phyrgas und der beiden Prielgipfel fand sie zu aufreizend, zu gefällig, fast anbiedernd, der wuchtige Buckel des Warschenecks und vor allem der schroffe Grat des Bosrucks waren ihre Lieblingsmotive. Sie hatte viele Male diese beiden Berge aus den verschiedensten Perspektiven gezeichnet. Beim Gipfelkreuz des Bosrucks zu sitzen und mit dem Kohlestift die Felsen und die jähen Stürze zu porträtieren, war eine Tätigkeit, die sie in eine andere Zeit und eine andere Welt versetzte. Nichts liebte Selma Felder mehr als die Berge des Toten Gebirges, egal, ob sie in Bergsteigerschuhen Grate erstieg oder in ihrem Atelier auf dem Malschemel saß, egal, ob ihr Höhenwinde um die Ohren pfiffen oder ob sie Kräutertee in der Stille ihres Refugiums in der Villa schlürfte.

Selma legte das Zeichenblatt sorgsam in die Mappe, trat an die Spüle in ihrem Atelier und wusch ihre Hände. Genug für heute, eine gelungene Zeichnung an einem Abend war ohnedies eine Leistung, mit der sie zufrieden sein konnte. Sie gähnte und sortierte die Zeichenutensilien auf dem Werktisch. Sie blickte auf die Uhr. Halb elf Uhr abends in der Neumondnacht. Zeit zu schlafen. Herbert hatte wieder Verpflichtungen, die den ganzen Abend seine Anwesenheit banden, sie würde, wie häufig, nicht auf ihn warten, sondern sich in ihrem Atelierzimmer zu Bett legen. Selma ging in das Bad, nahm aus dem Schrank eine ihrer Pillen und putzte danach die Zähne. Wie müde sie war.

Beim Frühstück würde sie Herbert nach dem Verlauf der Abendgesellschaft im Steyrtalerhof befragen. Er erzählte ihr gerne von seinen Konferenzen und Gesellschaften, von seinen Erfolgen, von den Risiken seiner Geschäfte, von den Männern, mit denen er handelseinig geworden, und von jenen, mit denen dies nicht gelungen war. Sie selbst erzählte sehr wenig von ihrer Arbeit und den entstandenen Bildern. Herbert hatte nie eine besondere Nähe zu ihren künstlerischen Arbeiten entwickelt. Das nahm sie ihm nicht übel, im Gegenteil sogar, Herbert war kein Künstler, ja, nicht einmal kunstsinnig, Herbert war ein Mann der Tat, ein Mann, der das Leben meisterte, der anderen voranging und ihnen den Weg wies. Dafür liebte und bewunderte sie ihn. Die Künstler hatten und machten zu viele Probleme, das hatte Selma während der Zeit ihres Kunststudiums in Wien leidvoll erfahren. So wie Selma es empfand, stärkte es gerade ihre Ehe, dass sich manche ihrer Lebensbereiche nicht deckten und sich auf diese Art Freiräume eröffneten, denn der Bund, in dem sie sich trafen und in dem sich ihre Lebensläufe ehelich verschränkten, war unauflöslich und beständig.

Mit einem Lächeln auf den Lippen knipste Selma Felder das Licht in ihrem Zimmer aus.

Neumondnacht

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