Читать книгу Neumondnacht - Günter Neuwirth - Страница 22
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ОглавлениеChristina schlang ihre Arme um sich, nicht, um sich in der Kälte des Ortes selbst Wärme zu spenden, die Winterjacke tat gute Dienste, vielmehr war es eine instinktive Bewegung, mit der sie sich der Unversehrtheit ihres Körper versichern wollte, ja musste. Der Anblick der geschundenen Leiche hatte sie in eine Trance versetzt, in einen geisterhaft schwebenden Zustand der Angst. Wie fragil die vermeintlichen Sicherheiten des Alltags waren, bemerkte man erst, wenn man sich an die Küstenlinie zwischen den blühenden Ländereien des Lebens und dem kalten schwarzen Ozean des Todes begab, wenn man barfuß in die schäumende Gischt trat und in die Tiefe nach den Gesängen der Verstorbenen lauschte. Klangen sie erleichtert? Verzweifelt? Gequält? Befreit? Christina wusste es nicht. Sie stand inmitten der Halle und ließ den Blick schweifen. Stahl, Beton, Neonröhren, der Geruch rohen Fleisches und scharfer Desinfektionsmittel. Hier also lagerten die in den Schlachthöfen zerlegten Tiere, hunderte Tonnen Fleisch für die Kochtöpfe des Landes. Und mitten darin ein buchstäblich zerrissener Mensch. Wollte sie wirklich wissen, warum der Mann unter die Stahlräder der Maschine gekommen war? Ein würgendes Gefühl von Ekel stieg in ihr hoch. Sie würde sich nie an den Anblick von blutbesudelten Toten gewöhnen. Gut, dass sie noch kein Frühstück im Magen hatte. Und ja, gab sich Christina selbst die Antwort, sie wollte es wissen, sie musste es wissen.
Mit zusammengebissenen Zähnen eilte sie wieder auf die Gruppe von Männern zu, die am Rande der Halle neben dem Leitstandbüro standen. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Christina blickte durch die Scheibe in den Leitstand zum Mann der Spurensicherung. Sie drehte sich auf der Ferse um.
„Mein Herr, besten Dank für die professionelle Zusammenarbeit. Bei Fragen wende ich mich an Sie.“
Christina verabschiedete sich mit Händedruck vom Mann des Wachdienstes, der sichtlich erleichtert auf direktem Weg das Weite suchte. Christina wartete, bis er die Halle verlassen hatte.
„Herr Anzengruber, kennen Sie einen Mann namens Herbert Felder?“ „Freilich. Der Chef.“
„Der Chef des Lagers?“
„Der ganzen Firma. Ist er der …“
Gernot Anzengruber führte die Frage nicht vollständig aus und Christina ging nicht näher darauf ein. Sie schaute sich noch einmal in der Lagerhalle um.
„Wird die Halle mit Videokameras überwacht?“ „Nein. Kameras gibt es nur im Außenbereich.“
„Können wir nachprüfen, wann das Regalbediengerät zuletzt gefahren ist?“
Gernot Anzengruber nickte und zeigte auf den Leitstand. „Im Bewegungsprotokoll sieht man das. Geht ganz einfach.“ „In Ihr Büro können wir jetzt nicht, der Kollege der Spurensicherung muss erst seine Arbeit machen. Gibt es andere Computer, die wir benutzen können?“
„Ja, drüben im Bürogebäude.“
Christina zwinkerte Anzengruber auffordernd zu.
„Also, worauf warten wir? Raimund, komm bitte mit und schau dir das auch gleich an.“
Raimund Brandstätter nickte. Sie benutzten die Tür zum Verwaltungsgebäude. Nach dem Aufenthalt im Kühlhaus kam Christina die Temperatur in den Gängen des Bürotraktes unnatürlich hoch vor. Gernot Anzengruber setzte sich in einem offenstehenden Büro mit vier Computerarbeitsplätzen vor einen Rechner.
„Haben Sie schon Ihre Vorgesetzten informiert?“, fragte Christina, während der Computer startete.
„Äh, nein, ich habe noch gar nichts gemacht.“
„Gut, lassen Sie das bitte mich machen. Ich brauche eine Liste aller Mitarbeiter des Unternehmens. Also des Lagers, der Verwaltung und der Fabrik. Was wird in der Fabrik eigentlich gemacht?“
„Schweinehälften zerlegt. Und Faschiertes wird gemacht. Das Rindfleisch kriegen wir schon zerlegt.“
„Und die Wurst?“
„Wird fertig angeliefert.“
„Haben Sie auch Geflügelfleisch?“
„Freilich. Alles schon zerlegt.“
Christina schaute nun auf den Computerbildschirm. „Haben Sie ein spezielles Login für die Anmeldung.“ „Freilich. Jeder hat ein Login.“
„Ich brauche eine Liste aller Logins. Können Sie das anfertigen?“
„Das geht.“
„Jetzt bitte das Bewegungsprotokoll. Stehen die Regalbediengeräte nachts still?“
„Nicht ganz. Zu jeder vollen Stunde machen sie eine Bewegungsfahrt. Ist technisch notwendig. Wegen der Kälte.“
„Kann Herr Felder von einer solchen Bewegungsfahrt überrascht worden sein?“
Anzengruber klickte sich durch ein paar Menüs der Anlagensteuerung, bis sich ein Bericht mit der Überschrift „Bewegungsprotokoll“ öffnete. „Nicht, wenn er den Schlüssel vom Steuerungskasten abgezogen hat. Da stehen die RBGs still.“
„Und wenn er den Schlüssel nicht abgezogen hat?“
„Dann kommt er gar nicht durch die Gittertür. Man zieht den Schlüssel vom Steuerungskasten und mit diesem Schlüssel sperrt man die Tür. So geht das.“
Christina gestikulierte.
„Lassen Sie mich den Ablauf rekonstruieren. Er zieht also den Schlüssel vom Steuerungskasten, öffnet damit die Tür, geht in die Gasse. Das RBG kann sich ohne Schlüssel nicht bewegen.“
„Genau. So werden Servicearbeiten in der Gasse durchgeführt. Wichtig ist, dass der Servicetechniker den Schlüssel bei sich trägt. Damit ist sichergestellt, dass das RBG nicht fährt.“
„Vielleicht hat der Täter einen Ersatzschlüssel gehabt.“
Anzengruber schüttelte den Kopf.
„Ersatzschlüssel glaube ich nicht. Jedes RBG hat einen eigenen Schlüssel und den einen Ersatzschlüssel, mit dem alle Geräte zu steuern sind, habe ich bei mir.“
Der Mann zog seinen dicken Schlüsselbund aus der Tasche und zeigte den betreffenden Schlüssel.
„Also hat Herr Felder den Schlüssel in der Gittertür stecken lassen oder Sie sind der Täter“, folgerte Christina.
Gernot Anzengrubers Miene wurde bleich, er kratzte sich nervös am Hals. „Ich bin nicht der Täter, ich habe die ganze Nacht geschlafen. Fragen Sie meine Frau.“
„Das werden wir machen, Herr Anzengruber. Also wann hat sich die Maschine zum letzten Mal bewegt?“
Gernot Anzengruber tippte auf den Bildschirm. Christina und Raimund schauten dem Mann gebannt über die Schulter.
„Zum letzten Mal um fünf Uhr. Zuvor um vier Uhr und drei Uhr. Aber hier, das ist keine Bewegungsfahrt. Der Fahrbefehl ist um zwei Uhr siebzehn und elf Sekunden ausgeführt worden.“
„Wie kommt es zu dieser Fahrt?“
Gernot Anzengruber klickte einen anderen Dialog in den Vordergrund. „Vom Leitstand kann man eine Bewegungsfahrt anstoßen. Man braucht nur diesen Button anklicken. Das RBG fährt aber erst dann, wenn der Schlüssel im Steuerungskasten steckt. Ist ja klar.“
„Ist das gemacht worden?“
„Weiß ich nicht. Angeblich kann man das in der Datenbank nachprüfen, aber ich weiß nicht, wie das geht. Ich bin Anlagenadministrator, nicht Programmierer.“
Christina überdachte das Gehörte.
„Rein theoretisch könnte also Herr Felder den Schlüssel vom Steuerungskasten abgezogen haben, in den Leitstand gelaufen sein, den Button geklickt haben, danach die Tür geöffnet haben und in die Gasse gegangen sein. Das könnte er doch alleine gemacht haben?“
„Rein theoretisch geht das, aber kein vernünftiger Mensch würde so etwas tun.“
„Aber den Schlüssel von der Gittertür abziehen und in den Steuerungskasten zu stecken, damit der Fahrbefehl ausgeführt wird, das kann er nicht selbst gemacht haben, während er sich gleichzeitig in der Gasse aufhielt.“
„Unmöglich.“
„Und derjenige, der den Schlüssel in den Steuerschrank gesteckt hat, könnte gesehen haben, dass sich jemand in der Gasse befindet.“ Gernot Anzengrubers Miene war bleich.
„Nicht könnte, muss. Die Gasse ist ja immer beleuchtet.“
„Was könnte Herr Felder in der Gasse gesucht haben?“ Anzengruber zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung, Frau Inspektor. Wirklich, ich habe keinen blassen Schimmer.“
„Vielen Dank für diese Information, Herr Anzengruber. Drucken Sie doch bitte diese Protokolle aus. Auch die Mitarbeiterliste brauche ich sofort. Inklusive aller verfügbaren Telefonnummern.“
Christina erhob sich und winkte Raimund zu sich. Sie griff nach ihrem Telefon.
„Ich lasse einen IT-Spezialisten kommen, der soll das gesamte Datenmaterial sichern. Raimund, hast du bitte ein Auge, dass hier alles glatt läuft?“
„Na klar, jetzt bin ich schon da, also passe ich auf.“
„Spitze! Und ich werde mir jetzt an dir ein Beispiel nehmen.“
Raimund warf seine Stirn in Wellen.
„Frühstück verderben?“
„Und das gleich im großen Stil.“