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Verglichen mit den Aufgaben, denen er sich in Paris, Brüssel und Genf hatte stellen müssen, war die Arbeit im Steyrtalerhof ein leichtes Spiel. Siebzig Gäste standen auf der Liste, nicht dreihundert, fünfhundert oder wie in Genf immer wieder eintausend. Hier war alles viel familiärer, überschaubarer, auch vertrauter. Albrecht liebte den Klang der Sprache seiner Kindheit, die er selbst in den Jahrzehnten in französischsprachigen Ländern nicht aus den Ohren verloren hatte. Er war Chantal dankbar, dass sie mit ihm gegangen war, dass sie zugestimmt hatte, nach Österreich zu ziehen, dass sie sich sogar darauf gefreut hatte, das Heimatland ihres Mannes kennenzulernen. Sie hatten ausgemacht, hier in Steyr so lange zu bleiben, bis die Kinder groß sein würden, danach schwebte ihnen ein beschaulicher Lebensabend in der Bretagne vor, in Chantals Heimatdorf am Atlantik. Mit sechzig, so plante Albrecht für sich selbst, also in fünfzehn Jahren, würde er die Kochlöffel nur mehr in seiner Privatküche für seine Familie und seine Freunde schwingen. Nach fünfundvierzig Jahren Küchenarbeit würde er, so Albrechts Meinung, das hart erworbene Recht haben, leiser zu treten, alles langsamer anzugehen, sich mit den kleinen und nahen Dingen zu beschäftigen. Noch lag ein weites Stück vor ihnen, noch war ihre Jüngste, Sofie, nicht schulpflichtig, aber dieses Stück würden sie nicht im Höllentempo von Paris, Brüssel oder Genf nehmen, sondern im etwas gemächlicheren Tempo in Albrechts Heimatstadt am Rande der Alpen. Mit fünfundvierzig Jahren, vier Kindern und einigem Kapital auf der hohen Kante musste und konnte er nicht mehr das Tempo seiner früheren Jahre halten.

Heute also Steirisches Wurzelfleisch für siebzig geladene Gäste des Directeurs. Der Steyrtalerhof hatte einen guten Ruf, die einhundertdreißig Plätze des Restaurants waren zwar nicht immer besetzt, aber vor allem für noble Firmenempfänge, exquisite Hochzeitsfeiern oder Galadiners war der Steyrtalerhof eine der ersten Adressen in der Region. Albrecht polierte die bereitliegenden Messer, legte sie fein säuberlich ab und ließ den Blick kreisen. Er liebte die Ordnung vor Beginn der Arbeit. Hier die Messer, dort die Kochlöffel, die Gewürzgefäße, die Schneidebretter. Sauberkeit und Ordnung, das war die erste Lektion, die er als Lehrbub erlernt hatte, die er drei Jahrzehnte lang praktiziert hatte und die er den Lehrlingen, die ihm zur Ausbildung anvertraut worden waren, zuallererst beigebracht, und wenn nötig auch eingebläut hatte.

Albrecht griff in die Wanne mit den Jungzwiebeln und sog deren Duft ein. Gut, sehr gut sogar, frisch geerntet. Er nahm eine Karotte, schnitt ein Stück davon ab und warf es sich in den Mund. Gut. Vorsichtig roch er am Kren und spürte gleich die Reaktion in den Augen. Wunderbar. Fein gerieben war frischer Kren wohldosiert das Tüpfelchen auf dem i von Steirischem Wurzelfleisch. Er zerkaute eine Wacholderbeere. Albrecht blickte um sich, ob ihn jemand beobachtete. Da alle in ihre Arbeit vertieft waren, holte er aus dem Regal seine spezielle Zutat herbei. Er hatte jahrelang französische und internationale Gerichte gekocht, doch auch manche weniger bekannte Rezepte seiner Heimat waren ihm gut vertraut. Schon vor Jahren hatte er einmal Steirisches Wurzelfleisch zubereitet und war auf die Idee gekommen, zu Karotten, Sellerie, Petersilienwurzeln und Zwiebeln auch Löwenzahnwurzeln zu mengen. Niemand musste von dieser Idee wissen, daher mischte er die Löwenzahnwurzeln schnell unter die ähnlich aussehenden Petersilienwurzeln. Ein feines Schmunzeln legte sich in sein Gesicht. Als er vor einer Woche das Motto „Ein steirischer Abend“ und den Menüplan für den Empfang des Directeurs erfahren hatte, war er an seinem freien Tag aufgebrochen, um auf den Wiesen, Weiden und Wegrändern nach kräftigen Löwenzahnpflanzen zu suchen. Er liebte diesen Teil seiner Arbeit.

Albrecht nickte zufrieden und wandte sich dem Kühlraum zu. Jetzt die Schweineschulter. Hoffentlich hatte Wendelin genug Fleisch besorgt. Dem Einkauf der Naturalien ging Albrecht mit Akribie nach. Er wusste, warum. Zu oft hatten Stümper und Ignoranten mäßige oder gar miserable Zutaten eingekauft, mit denen er dann qualitätsvolle Speisen hätte kochen sollen. Wenn er denn eines Tages mit einem Nervenzusammenbruch im Sanatorium stranden sollte, dann bestimmt wegen minderwertiger Zutaten. Zum Glück bestand diese Sorge im Steyrtalerhof nicht, denn Albrecht hatte praktisch freie Hand beim Einkauf, und zum Geschäftsführer des Restaurants, zu Wendelin Sattler, hatte Albrecht bald Vertrauen. Wendelin verfügte über eine feine Nase und kannte vertrauenswürdige Lieferanten in der Region. Es war völlig unmöglich, ein erstrangiges Restaurant zu führen, wenn man nicht über erstrangige Lieferanten verfügte.

Albrecht öffnete die Tür zum Kühlraum, entdeckte zwei zugedeckte rote Kunststoffwannen und trug sie an seinen Arbeitsplatz. Anhand des Gewichts der Wannen schätzte er, dass ausreichend Fleisch für siebzig Gäste vorhanden war. Er öffnete den Deckel einer Wanne.

Ein Faustschlag ins Gesicht? Ein Tritt gegen die Nase? Ein Knüppelhieb auf den Schädel?

Albrecht taumelte zwei Schritte zurück. Panik ergriff ihn. Er öffnete die zweite Wanne. Auch hier. Jedes Lächeln, jede Freude, jede Zuversicht waren aus seinem Gesicht gewichen. Nicht das schon wieder! So etwas hatte er schon erlebt. Die größte Küchenpleite an der Seine seit der Erfindung des Lagerfeuers, der Ruf des Restaurants war auf Jahre ruiniert und er war mittendrin gewesen. Albrecht sog den Geruch des Fleisches mit geradezu selbstmörderischer Verbissenheit ein. Eine Katastrophe!

„Richard, wir haben ein Problem! Lukas! Komm her! Lukas!“

Nicht nur der Maître und der Lehrbub schreckten durch den Tonfall in der Stimme des Souschefs hoch. Der ältere der beiden Lehrbuben lief heran. „Lukas, lauf zu Wendelin und sag ihm, hier bahnt sich eine Katastrophe an.“

Der junge Mann blickte verstört um sich.

„Na los, lauf schon!“

Der Lehrbub tat, wie ihm geheißen. Albrecht schaute auf die große Küchenuhr. Mit etwas Glück würden sie noch Fleisch kaufen können. Zumindest ein wenig, denn dass sie die ganze Menge für siebzig Gäste so kurzfristig bekommen konnten, wagte er zu bezweifeln. Albrecht fluchte vor sich hin. Er würde auch Rindfleisch nehmen müssen. Alles was er kriegen konnte.

Richard, der Maître de Cuisine, damit beschäftigt, die Schilcherrahmsuppe anzufertigen und den Arbeitsfortschritt zu überwachen, trat mit schnellen Schritten heran und blickte besorgt in die Fleischwannen.

„Was ist los?“

Noch ehe Albrecht antworten konnte, wurde die Tür zur Küche aufgestoßen. Albrecht sah Wendelin, den Geschäftsführer, hereinrauschen, und in seinem Schlepptau den Directeur. Ein flaues Gefühl erfasste Albrecht. Der Directeur! Er war also auch hier! Und er würde die Katastrophe mit eigenen Augen erleben. Schlecht für Wendelin. Sehr schlecht. Albrecht hatte gar kein Interesse, Wendelin bloßzustellen, schon gar nicht vor dem Directeur, Wendelin war ein guter Mann, Albrecht und er hatten sich schnell auf eine zwar rein berufliche, dafür aber solide Art und Weise verstanden. Aber in vier Stunden würden siebzig Gäste eintreffen und diese erwarteten mit Fug und Recht ein delikates Diner. Eine Scheißsituation.

„Albrecht, was ist los?“, rief Wendelin Sattler und eilte heran.

Alle Augen waren auf Albrecht gerichtet. Er schluckte. Egal, er konnte niemanden schonen, es war ja zu offensichtlich.

„Wendelin, Monsieur le Directeur, wir haben ein Riesenproblem. Die Schweineschulter ist nicht gut.“

Tatsächlich verfärbte sich die Miene des Geschäftsführers. Er stürzte zu den Wannen, schaute hinein und schnupperte. Auch der Maître de Cuisine schnupperte.

„Äh, was meinst du?“, fragte Wendelin verstört.

Auch der Maître blickte irritiert.

„Dieses Fleisch kann man keinem Menschen als Nahrung vorsetzen. Es ist für den Verzehr nicht geeignet. Und wir haben praktisch keine Zeit mehr, frisches und gutes Fleisch zu kaufen!“

Herbert Felder drängte sich an dem Geschäftsführer und dem Küchenchef vorbei und roch an dem Fleisch. Er nahm ein Stück heraus, befühlte es und grub förmlich seine Nase in die Fasern.

„Was soll daran verdorben sein?“, fragte Herbert Felder. „Nein, nicht verdorben, Monsieur le Directeur, es ist schlechtes, ungesundes Fleisch. Riechen Sie genau daran.“

„Hören Sie mal“, dröhnte die tiefe und laute Stimme des Directeurs, „ich weiß sehr gut, wie Fleisch riecht, zufälligerweise arbeite ich seit ein paar Jährchen damit. Das ist ganz normales Schweinefleisch! Und sicher nicht verdorben!“

Albrecht sah sich durch die fragenden Blicke der Umstehenden und den zornigen Tonfall des Directeurs in die Defensive gedrängt, also roch er noch einmal an der Wanne. Und musste sich fast übergeben. Zorn stieg in ihm hoch.

„Monsieur le Directeur, das Fleisch ist nicht verdorben, wie ich sagte, aber es ist meiner Meinung nach ungenießbar!“

Herbert Felder wandte sich grantig an Wendelin Sattler.

„Wer ist er eigentlich? Den Mann kenne ich gar nicht.“

Es wunderte Albrecht nicht, dass der Directeur ihn nicht kannte, zum einen war ja der Steyrtalerhof nur eine Art Steckenpferd des Großunternehmers Herbert Felder, wie Albrecht schon am Anfang seiner Tätigkeit gehört hatte, zum anderen beachtete Felder seine Nachbarn nicht, wenn er mit seinem BMW 7 an deren Häusern vorbeibrauste. Zweifellos war dem Mann die Familie, die in der Einfamilienhaussiedlung unterhalb seines weitläufigen Anwesens vor wenigen Monaten zugezogen war, gar nicht aufgefallen. Albrecht Kammerhofer und Herbert Felder wohnten zwar am Hang desselben Hügels in Aschach an der Steyr, dennoch aber in völlig unterschiedlichen Welten, der eine in einem schmucken Häuschen aus den Siebzigerjahren am Fuße des Hügels, der andere in einer ausladenden Villa auf dem sonnenhellen Gipfel.

Wendelin Sattler versuchte gestikulierend im sich anbahnenden Konflikt zwischen dem Besitzer des Restaurants und dessen zweitem Küchenchef zu vermitteln.

„Albrecht ist ein Vollprofi, Herr Felder. Seit einem halben Jahr ist er unser Souschef. Ich habe ihn beauftragt, das Steirische Wurzelfleisch zuzubereiten. Er genießt mein vollstes Vertrauen.“

Felder wandte sich an den Maître de Cuisine.

„Ist das Fleisch verdorben oder ungenießbar?“

Der Maître zuckte mit den Schultern und hob abwehrend die Hände.

„Meiner Meinung nach ist das ganz normales Schweinefleisch.“

Albrecht wunderte sich nicht, dass der Maître nichts roch. Richard war ein guter Handwerker und solider Koch, aber ein Mann, der mindestens eine Packung Zigaretten pro Tag rauchte, konnte weder irgendetwas riechen noch schmecken.

„Aber riecht ihr das nicht? Ich falle fast aus den Schuhen!“, fuhr Albrecht angesichts solcher Ignoranz erbost hoch. „Die Tiere sind ein Leben lang falsch ernährt worden! Wenn ich einer zwanzigjährigen Balletttänzerin die Hand schüttle, wird sie nach Schneeglöckchen und Flieder duften. Wenn ich einem fünfzigjährigen Kettenraucher die Hand schüttle, wird er nach Teerpappe und Terpentin riechen. Wenn ich einem siebzigjährigen Krebspatienten nach einer Chemotherapie die Hand schüttle, wird er Pharmaprodukte und den Hauch des Leichenschauhauses ausdünsten. Diese Schweineschultern riechen wie ein siebzigjähriger Krebspatient. Oder eben wie Schweine, die ein Leben lang miserables Futter fressen mussten, häufig krank waren und mit Medikamenten vollgepumpt worden sind. Ja, ich weiß, Millionen Schweine werden so gehalten, aber diese hier mussten ein besonders elendes Dasein fristen. Riecht man doch! Solches Fleisch ist eines Restaurants wie des Steyrtalerhofs nicht würdig, solches Fleisch ist Menschen nicht zuzumuten, solches Fleisch gehört am Waldrand in stiller Trauer bestattet!“ Stille lag in der Küche. Alle starrten den Souschef an. Sprachlos.

„Sagen Sie mal, Sie eingebildeter Affe“, brüllte der Directeur mit hochrotem Kopf los, „was bilden Sie sich eigentlich ein? Sie bereiten jetzt auf der Stelle und mit Tempo das Wurzelfleisch zu, sonst trete ich Ihnen höchstpersönlich in den Arsch! Und wenn das Gericht nicht tadellos und einwandfrei dekoriert auf die Teller kommt, können Sie sich morgen einen anderen Job suchen! Vielleicht in einem Tierasyl! Oder bei den beschissenen Biobauern! War das auch für Sie klar genug?“

Albrecht war nicht eingeschüchtert. Nicht ein bisschen. Er hatte sieben Jahre mit Claude Ratinier gearbeitet, einem gnadenlosen Psychopathen der Pariser Gastronomie, und sieben Jahre lang jeden Abend ein Gefecht ausgefochten, das jenes hier wie einen Kinderspaziergang anmuten ließ, nein, ein oberösterreichischer Provinznapoleon konnte ihm keinen Schrecken einjagen. Aber er brauchte den Job hier. Und er wollte Wendelin Sattler nicht schaden. Albrecht schluckte die Antwort, die ihm schon auf der Zunge lag, hinunter. Nicht mehr lange, dachte er für sich, nicht mehr lange musste er sich verbiegen und verbeugen.

„Oui, Monsieur le Directeur. Das war klar genug.“

„Na dann los, verdammt noch mal!“

Herbert Felder verließ mit energischen Schritten die Küche.

„Albrecht, ich flehe dich an!“, stieß Wendelin Sattler mit gefalteten Händen hervor. „Mach das Beste daraus. Bitte!“

Albrecht vollführte eine wegwerfende Handbewegung.

„Jajaja, ich schau, was ich machen kann.“

Wendelin Sattler eilte zur Küchentür, hielt inne und drehte sich noch einmal um.

„Und, Albrecht, Herr Felder hat das Fleisch persönlich gebracht.“

Neumondnacht

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