Читать книгу Neumondnacht - Günter Neuwirth - Страница 5
ОглавлениеENDE SEPTEMBER, FREITAGABEND
1
„Der gravierende Unterschied zwischen einem Koch und einem Küchenköter ist, dass sich der Koch niemals hetzen lässt. Merkt euch das, meine Herren! Wenn der Chef de Rang, der Maître de Cuisine, der Kellermeister, der Kerkermeister, der Henkermeister und der Leibhaftige höchstpersönlich hinter dem Koch stehen, und wenn sie alle ihre Messer wetzen, ihn zu höchster Eile antreiben, weil draußen eintausend Gäste des Galadiners halbverhungert auf den Tellern scharren, dann verliert der Koch niemals die Nerven, sondern schmeckt in aller Ruhe die Sauce oder Suppe ab, verfeinert das Hauptgericht mit einer Prise Salz, einem Hauch Pfeffer oder einer Nuance von Wildkräutern. Wenn im Restaurant alle verrückt werden, vom Wahnsinn in die Tobsucht verfallen, wenn die ersten Leichen aus der Küche getragen werden, bleibt ein echter Koch bei seiner Arbeit und gibt sie erst frei, wenn sie gelungen ist, wenn der Braten durch, die Suppenterrine von ihm persönlich gefüllt oder das Dessert vollständig dekoriert ist. Jedem, der euch, wenn ihr dereinst echte Köche sein werdet, was ich schwer hoffen will, meine Freunde, etwas anderes erzählt, der behauptet, Köche müssen schnell, schnell, schnell sein, Köche müssen Rendite bringen, Köche müssen Massen auswerfen, dem könnt ihr in meinem Namen ein paar saftige Ohrfeigen verpassen. Koch zu sein ist kein Job! Koch zu sein ist eine Verpflichtung! Man muss sich würdig erweisen, ein Koch zu sein. Na gut, viele Gäste in den Restaurants wissen gar nicht, was man ihnen vorsetzt, sie fressen alles in sich hinein, Hauptsache, es sieht am Teller hübsch aus und ist teuer. Davon darf sich ein echter Koch nicht verrückt machen lassen, denn der wahre Koch weiß besser über das Leben und das Essen Bescheid als irgendein neureicher Schnösel oder inzestuös verkümmerter Adeliger. Wir Köche, meine Herren, wir haben die Verantwortung für die Menschen von der Auswahl der Zutaten bis zum Durchzug der Toilettenspülung. Wenn auf diesem Weg Fehler passieren und Leute an scheußlichem Essen krepieren, ist das unsere Schuld!“
Albrecht Kammerhofer holte tief Luft und musterte seine zwei Lehrbuben, die wie immer geduldig seinem Vortrag lauschten. Anfangs hatten sie noch lange Mienen gezogen oder blöde Fratzen geschnitten, mittlerweile aber erkannt, dass sie vom Souschef im Hause allerhand lernen konnten. Da nahmen sie seine manchmal bombastischen Vorträge ohne Murren in Kauf.
„Merkt euch diese Worte gut, meine Herren! Und jetzt an die Arbeit! Wir haben zu tun. Und wer nicht jeden Tag in der Küche sein Bestes gibt, wird von mir eigenhändig in die Sauce Sanglier verarbeitet!“
Albrecht stemmte schmunzelnd seine Fäuste in die Hüften und sah die Lehrbuben an ihre Arbeitsplätze eilen. Das vielstimmige Orchester der Küche lag in seinen Ohren, mit großem Vergnügen lauschte er dieser ihm lang vertrauten konzertanten Dichtung. Kurz dachte er an seine Lehrzeit vor dreißig Jahren, an das sinnlos strenge Regiment seines ersten Maître, bei dem er zwar viele Rezepte kennengelernt, aber auch gesehen hatte, wie man sich als Küchenchef mit Wein ruinieren konnte. In Albrechts letztem Lehrjahr hatte der Maître eine halbe Flasche Wein gebraucht, um den Arbeitstag in der Küche anzutreten, über die Stunden des Arbeitstages verteilt eine weitere Flasche, um sich in Schwung zu halten, und nach Abschluss der Arbeit hatte er noch eine Flasche Wein gebraucht, um abschalten zu können. Erstaunlicherweise war er aber nicht im Vollrausch zusammengebrochen, sondern war kollabiert, als er völlig verkatert seinen Hund überfahren hatte. Ein Nervenzusammenbruch war für Chefköche in vorgerücktem Alter, wie Albrecht im Lauf der Jahre beobachten konnte, eine erwartbare Karrierestation. Die Bürohengste nannten das Burnout, eine Bezeichnung, über die Albrecht nur schmunzeln konnte. Erstens war ihm in dreißig Jahren Arbeit in Großküchen nie eine Speise an- oder gar ausgebrannt, und zweitens würden diese Stubenhocker nicht eine Woche lang jeden Tag bei fünfunddreißig Grad vierzehn Stunden en suite am Herd stehen können. Gewichtheber, Forstarbeiter und Köche benötigten eine robuste Konstitution, und Albrecht Kammerhofer war heilfroh, über eine solche zu verfügen.